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Ich bin mit Ulli hier. Er ist tot.
Wenn du Gefühle nicht mehr aushältst, leg einen Sarkophag darüber. Doch was, wenn der bricht?
Crowdfunding für das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“
Es war einmal vor irgendeiner Zeit, als irgendeiner in irgendeinem Land irgendetwas suchte. Mit irgendwem machte er sich irgendwann auf die Reise. Zum Abschied küsste er irgendwen und sagte mit irgendwelchen Gefühlen irgendetwas.
Irgendwie kamen sie zu irgendeinem Wald und hörten irgendwoher irgendetwas. Irgendeiner sagte zum anderen irgendetwas und sie machten irgendetwas. Irgendwann gelangten sie irgendwohin und in ihren Gesichtern zeigte sich irgendetwas.
Irgendwann setzten sie ihre Reise fort, vorbei an irgendetwas. Irgendwer wedelte irgendwann irgendwo mit irgendetwas, doch irgendetwas sagte den beiden: „Irgendetwas stimmt dort nicht“ und so machten sie irgendetwas. Als irgendetwas unterging, suchten sie nach irgendetwas, wo sie schlafen konnten. In irgendeinem Schloss wehte irgendetwas durch irgendetwas, irgendwer schien irgendwo zu sein. Wegen irgendwelcher Gefühle konnten sie kaum schlafen und irgendwann, kurz nachdem irgendetwas aufgegangen war, liefen sie auf irgendetwas irgendwohin. Von irgendwo hoch oben konnten sie irgendwohin sehen, soweit irgendetwas reichte. Irgendetwas klopfte bei diesem Anblick irgendwie anders in ihnen, doch irgendwann nahmen sie Abschied.
Irgendeine Zeit später passierte irgendetwas mit dem Begleiter von dem einem und so musste dieser allein weiterreisen. Irgendwie irgendwo irgendwann erblickte er eine irgendetwas, sie stellte sich ihm nicht vor. Doch irgendwie stand irgendetwas in ihm in irgendetwas: „Ich sah irgendwie noch nie ein solch irgendetwas irgendetwas.“
Irgendwer errötete: „Ihr müsst irgendwie aus irgendetwas gereist sein, ich habe Euch bislang nirgendwo gesehen.“
„Irgendetwas führte mich hierher und irgendwie glaube ich, dass es irgendetwas zu bedeuten hat.“
„Irgendwie fühle ich irgendetwas irgendwo.“
„Es geht mir irgendwie.“
Beide schauten sich tief irgendwohin, traten näher zueinander und machten irgendetwas.
„Nirgendwo nirgendwann habe ich so etwas je getan“, sagte irgendwer.
„Auch für mich bedeutet dieser Moment irgendetwas. Irgendwann werden wir irgendwem irgendwo irgendetwas davon erzählen.“
Und wenn mit ihnen nicht irgendetwas passiert ist, dann sind sie noch heute irgendwo.
Wer Menschen verstehen will, muss ihnen zuhören, sie beobachten, hinter die Fassade schauen: Warum heiraten wir? Sind Frauen von Natur aus gute Mütter? Was erlebt man bei der Partnersuche? Wem verdanken Elon Musk und Kanye West ihre Erfolge? Was treibt andere Prominente an – und was ist dein eigener Antrieb? Fallen psychische Erkrankungen vom Himmel? Warum steht jemand 5 Stunden unter der Dusche? Wieso glaubt Käpt´n Crazy, die Chinesen würden kommen? Sind Krankenhäuser tatsächlich Hurenhäuser? Warum verheimlicht eine 50-Jährige, dass ihr Vater soff?
Mit den Antworten auf diese Fragen wird unerklärliches Verhalten entzaubert. Kein Hashtag, kein Gendern und keine Kampagne wird diese Welt retten können. Erst wenn wir einsehen, wie wir ticken, kann sich etwas verändern. Komm mit auf eine Reise, die Dich verändern wird!
Das Buch gibt es bei bod.de, bei Amazon, genauso bei allen anderen Onlinehändlern. Du kannst aber auch beim Buchhändler um die Ecke danach fragen. Die ISBN: 9783 7557 0721 9. (Da sich bisher kein Verlag interessiert hat, werden keine Exemplare zum Mitnehmen rumliegen, deshalb bitte vorerst direkt im Laden bestellen.)
Wenn du Gefühle nicht mehr aushältst, leg einen Sarkophag darüber. Doch was, wenn der bricht?
Du wartest. Und wartest. Das Warten tut dir weh, dennoch wartest du weiter.
Jeder hat so sein Päckchen zu tragen – für mich ein furchtbarer Spruch. Ich sehe dabei immer ein Schulterzucken, als wäre es ein Naturgesetz, dass jede Generation der nächsten Steine in den Rucksack packt.
Was macht dich glücklich, mein Kind? Was fehlt dir? Was hast du damals vermisst, was willst du heute nachholen? Würde es mir damit besser gehen?
Du trägst mich auf deinen Schultern durch gute und schlechte Zeiten. Wir haben keine Liebesbeziehung, sind eine Zweckgemeinschaft mit gewissen Vorzügen.
In mitten des Ozeans sinkt nach heftigen Stürmen ein Boot ganz langsam. Der Mann darin ist erschöpft, er bekommt den Kahn einfach nicht mehr leer, so sehr er sich bemüht.Ein zweites Boot nähert sich, der Mann schöpft Hoffnung – Rettung in Sicht nach langer Zeit.Der andere Mann kommt immer näher, grüßt kurz, schaut: „Ich bin […]
Über Tote sagt man nichts Schlechtes. Wenn dir also nichts Positives einfällt, dann musst du schweigen. Doch jedes Leben erzählt eine Geschichte.
Du weißt, wie wahre Liebesgeschichten beginnen. Dies sind einige von ihnen.
Würdest du das kleine Mädchen, das du einst warst, vor all den Scherben bewahren, durch das es laufen musste? Nein.
Stille ist Luxus. Im Wald kannst du sie finden, kannst nackt herumrennen. Doch nun weicht die Stille der Sprachlosigkeit.
Vor mir liegt ein Stein. Kein kleiner Kiesel. Er lässt mich nicht vorwärts kommen – oder schützt er mich?
Wir hatten es selten leicht miteinander, du und ich. Von Liebesbeziehung konnte kaum die Rede sein, mein liebes Leben.
Wenn dein Ego nie wachsen konnte, ist es dir eben egal, wie ehrlich ein „Ich liebe dich“ ist. Hauptsache, du bekommst es zu hören.
„Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten nach unten, als sie in ihrer Freude die Hände noch oben riss.
Er sah ihre Narben am Handgelenk …“ – Wie geht es wohl weiter?
„Wie konnte sie nur? Ja, ihr ging es dreckig, aber was sollten wir denn machen? Mein tiefempfundenes Beileid. Sag´ Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt muss ich erstmal los.“
Im dunklen Wasser des kleinen Sees versinken Nachtgedanken, heißt es. Doch aus ihm können auch zauberhafte Wesen steigen.
Ich hab´s geschafft: Ich bin tot. Endlich kann ich machen, was mir Freude am Leben gibt.
1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Mit meinem ehemaligen Mitschüler Ulli laufe ich durch ein großes Gebäude. An nichts ist zu sehen, was das für ein Bau ist, für mich fühlt es sich nach einer Klinik an. Wir gehen zu einem Fahrstuhl, locker-leicht, fahren eine Etage nach oben. Unser Ziel scheint eine Gruppentherapie zu sein, aber auch das fühlt sich recht ungewiss an. Ulli sieht in einem Nebengang wohl Kinderspielzeug, ausgelassen springt und läuft er in diese Richtung, so wie er zu Schulzeiten hin und wieder aus seinem Ernst ausgebrochen war. Ich gehe schmunzelnd weiter, freue mich, wie unbeschwert er ist. Mir geht durch den Kopf: „Ich bin mit Ulli hier.“ Doch so, wie ich mich von ihm entferne, schlägt der Gedanke plötzlich um: „Ulli ist tot! Er ist nicht hier. Aber ich bin mit ihm hier, mit seiner Geschichte.“ Tränen setzen sich in Bewegung.
Ich wachte leicht auf, die Tränen liefen auch in der Realität über meine Wangen. Obwohl ich eher schlief als wach war, nahm mich dieser Traum heftig mit.
Als ich am Morgen auf dem Klo saß und an den Traum dachte, kamen wieder die Tränen, der Gedanke: „Ich bin mit seiner Geschichte hier.“ Der Satz klang kitschig und furchtbar treffend zugleich.
Dieses Hier war eine psychosomatische Klinik. Hier sollte herausgefunden werden, warum mein Körper seit 6 Jahren zu immer weniger zu gebrauchen ist. An Wanderungen 6-8 km täglich wie noch 6 Jahre zuvor war jetzt überhaupt nicht mehr zu denken, selbst ein halber Kilometer aller zwei Tage ließ meine Muskeln erschöpfen wie nach einem langen Marsch. Für mich war klar, dass es eine greifbare Diagnose geben muss, an Blutwerten oder anderen Messwerten ablesbar.
„Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden.“ So sagte es mir meine Psychologin irgendwann. Messbares werde man wohl nicht finden. Zu viel erlebt, zu viel gehört, zu viel an negativen Gefühlen, Emotionen. Zu viel Trauer, zu viel Enttäuschung, zu viel Hilflosigkeit, zu viel Ungerechtigkeitsempfinden.
In den 10 Jahren zuvor hatte ich viel zugehört und fühlte mich robust, das alles wegstecken zu können. Dutzende Geschichten von kaputten Kindheiten, die in psychische Erkrankungen führten. Es schien keinen Menschen zu geben ohne Depressionen, bipolare Störung, Selbstverletzungen, Suizidgedanken, narzisstischer Persönlichkeitsstörung, Angststörungen, Zwangsstörungen …
Nur Ulli war anders. Dachte ich. 2018 sah ich ihn im Freibad. Mit muskelbepacktem Körper stieg er aus dem Wasser, mit gewinnendem Lächeln. Er war Chirurg, hatte Familie, war sicher finanziell gut abgesichert. Wenn es einer aus meiner Klasse auf die Sonnenseite des Lebens geschafft hatte, dann ganz sicher Ulli. Aber gut, er kam auch aus einem Elternhaus mit Chirurg und Lehrerin, als gute Startbedingungen.
Zwei Jahre später nahm sich Ulli aus dem Leben. Seine Schwester erzählte mir von der Kindheit der beiden – weitab der Sonnenseite. Gewalt, Manipulation, Leben unter zwei narzisstischen Elternteilen. Ullis Suizid sei seine erste freie Entscheidung gewesen, so seine Schwester.
Auf seinen Tod reagierte ich fassungslos, doch ohne Tränen. Das Jahr zuvor hatte mich in einen gefühlsmäßigen Sarkophag gesteckt, eine Serie von fünf dicken Einschlägen war zu viel für meinen Kopf. Trauer, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit – alles wurde immer wieder getriggert. Fünf Monate nach Ulli starb mein Onkel. Bei der Beisetzung fühlte ich mich völlig deplatziert. Während alle um mich herum tief bewegt waren, lief ich herum mit dem Gedanken: „Tja, so ist das Leben.“
Du kannst nicht dauerhaft trauern, hilflos sein, enttäuscht vom Leben, wütend auf den, der deine Biografie so verfasst hat und auf jene, die den gleichen Scheiß der vorherigen Generationen einfach wiederholen. Also schaltet der Kopf auf „Annahmeschluss“ um. Die Gefühle und Emotionen werden weggedrückt – der Körper muss es ausbaden, weil es viel Energie frisst, den Sarkophag zu tragen.
„Ulli ist tot! Er ist nicht hier!“ – Dieser Traum ließ den Sarkophag brechen. An diesem Morgen brauchte ich nur an diese beiden Sätze denken und sofort regten sich die Gefühle.
Im Traum war ich mit Ulli gefühlt auf dem Weg in die Gruppentherapie. In der Realität stand diese an diesem Morgen tatsächlich auf dem Plan. Am Anfang fragte die Psychotherapeutin jedes Mal: „Wie geht es Ihnen heute?“ Meist setzte danach lange Stille ein, trotz um die zehn Menschen im Raum. Ich zögerte sehr lange, ob ich von dem Traum erzählen sollte. Mir war klar, dass das Erzählen vor zehn Leuten nicht ohne Tränen ablaufen würde. Vor den Tränen hatte ich weniger Angst als vor einem möglichen starken Dammbruch. Als Vierter rang ich mich nach langer Stille im Raum durch.
Ab dem Satz „Ich bin mit Ulli hier“ ging es nur noch unter Tränen weiter. Ja, ich war mit ihm hier und mit den Geschichten all der anderen. Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden. Als ich am Abend aufschrieb, was der Tag so gebracht hatte, wurden die Augen bei diesem Satz wieder ordentlich feucht.
Beim Schreiben versuchte ich mir selbst zu erklären, warum mich dieser Satz so mitnahm. Ich hatte viele Geschichten über die Jahre gehört, die ähnlich zum Kopfschütteln waren wie die von Ulli. Doch ihn kannte ich und wir hätten uns als Kinder darüber unterhalten können, dass uns ein wenig angenehmes Elternhaus verbindet. Damals glaubte ich, uns trennen Welten. Bei Ulli war auch der Kontrast zwischen dem, was man bei ihm sah – „Der MUSS auf der Sonnenseite des Lebens sein“ – und dem, was man nicht sah, am Größten.
All diese Geschichten hatten mich dazu gebracht, das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“ zu schreiben. In dieses Buch packte ich jene Gefühle, die ich abseits davon unter dem Sarkophag aus Beton eingepackt hatte: „Guckt doch hin! Hört zu! Dann wisst ihr, was in dieser Welt kaputt ist und repariert werden muss!“ Doch für das Buch fand sich kein Verlag. Und Ullis Tod veränderte nicht das Geringste. Kurz etwas Betroffenheit bei einigen Menschen und dann zurück zum Alltag. Keine Strafe für seine Eltern. Kein Lerneffekt für die nächsten Generationen. Selbst in meiner eigenen Familie werden neue Kinder in toxischen Beziehungen auf die Reise in Selbsthass, Depression, Selbstverletzung, Suizidgedanken geschickt. Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt, soll Gandhi gesagt haben.
2014 hatte ich ein Foto von mir entdeckt, das mir ebenfalls Tränen in die Augen getrieben hatte. Auf dem Bild war ich vielleicht 4 Jahre alt, wirkte unbeschwert. Beim Betrachten dachte ich: „Wenn du wüsstest, was in den nächsten Jahren auf dich zukommt …“ Ich wollte dieses Kind beschützen, doch natürlich war es dafür zu spät. Genauso wenig kann ich heutige Kinder beschützen. In der ersten Gruppentherapie hatte ich gesagt, dass werdende Eltern ab dem Zeitpunkt, an dem die Schwangerschaft feststeht, psychologisch betreut werden sollten: Gibt es Auffälligkeiten, die einem Kind schaden werden? Die Mitpatienten stöhnten entsetzt auf. Mitpatienten, die alle in der Klinik waren, weil mindestens ein Elternteil in der Kindheit es aufgrund der eigenen psychischen Schieflage an Anerkennung, Zuneigung, Liebe vermissen ließ. Mitpatienten, denen regelmäßig die Tränen kamen, wenn sie über die eigenen Eltern sprachen – wenn überhaupt. Offenbar hat jede Generation aufs Neue ein Recht, die nächste Generation kaputtzumachen. Klar, weil ICH es ja bei MEINEN Kindern viel besser mache! Da brauche ich keinen Psychologen, der mich überwacht! Aus Opfern werden Täter.
Ulli ist tot. Er hat drei Kinder hinterlassen. Wer wird dafür sorgen, dass sie diesen Einschlag verkraften? Das regelt sich schon irgendwie, oder? Und wenn nicht, dann bleibt der Gang in die Klinik, wo sie sagen können: „Ich bin mit meinem Vater hier. Mein Vater ist tot.“
Wenn du Gefühle nicht mehr aushältst, leg einen Sarkophag darüber. Doch was, wenn der bricht?
Du wartest. Und wartest. Das Warten tut dir weh, dennoch wartest du weiter.
Jeder hat so sein Päckchen zu tragen – für mich ein furchtbarer Spruch. Ich sehe dabei immer ein Schulterzucken, als wäre es ein Naturgesetz, dass jede Generation der nächsten Steine in den Rucksack packt.
Was macht dich glücklich, mein Kind? Was fehlt dir? Was hast du damals vermisst, was willst du heute nachholen? Würde es mir damit besser gehen?
Du trägst mich auf deinen Schultern durch gute und schlechte Zeiten. Wir haben keine Liebesbeziehung, sind eine Zweckgemeinschaft mit gewissen Vorzügen.
In mitten des Ozeans sinkt nach heftigen Stürmen ein Boot ganz langsam. Der Mann darin ist erschöpft, er bekommt den Kahn einfach nicht mehr leer, so sehr er sich bemüht. Ein zweites Boot nähert sich, der Mann schöpft Hoffnung – Rettung in Sicht nach langer Zeit. Der andere Mann kommt immer näher, grüßt kurz, schaut: […]
Über Tote sagt man nichts Schlechtes. Wenn dir also nichts Positives einfällt, dann musst du schweigen. Doch jedes Leben erzählt eine Geschichte.
Du weißt, wie wahre Liebesgeschichten beginnen. Dies sind einige von ihnen.
Würdest du das kleine Mädchen, das du einst warst, vor all den Scherben bewahren, durch das es laufen musste? Nein.
Stille ist Luxus. Im Wald kannst du sie finden, kannst nackt herumrennen. Doch nun weicht die Stille der Sprachlosigkeit.
Vor mir liegt ein Stein. Kein kleiner Kiesel. Er lässt mich nicht vorwärts kommen – oder schützt er mich?
Wir hatten es selten leicht miteinander, du und ich. Von Liebesbeziehung konnte kaum die Rede sein, mein liebes Leben.
Wenn dein Ego nie wachsen konnte, ist es dir eben egal, wie ehrlich ein „Ich liebe dich“ ist. Hauptsache, du bekommst es zu hören.
„Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten nach unten, als sie in ihrer Freude die Hände noch oben riss.
Er sah ihre Narben am Handgelenk …“ – Wie geht es wohl weiter?
„Wie konnte sie nur? Ja, ihr ging es dreckig, aber was sollten wir denn machen? Mein tiefempfundenes Beileid. Sag´ Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt muss ich erstmal los.“
Im dunklen Wasser des kleinen Sees versinken Nachtgedanken, heißt es. Doch aus ihm können auch zauberhafte Wesen steigen.
Ich hab´s geschafft: Ich bin tot. Endlich kann ich machen, was mir Freude am Leben gibt.
Jeder Mensch hat zwei Ohren. Nur was wir damit anfangen, ist recht unterschiedlich. Umso erleichternder ist es in Krisenzeiten, wenn du jemanden findest, der zuhören kann. In den letzten Jahren lernte ich, dass dies wohl meine Superkraft ist. Diese biete ich Dir hier an.
1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Wie erklärst du Empathie? Kannst du es in einem Satz beschreiben? Oder bräuchtest du eher eine A4-Seite? Würde dir überhaupt etwas einfallen? Setzt du es mit Mitgefühl gleich? Hast du Empathie?
Ich lernte Anja in einer psychosomatischen Klinik kennen. In dieser Zeit entschied sie sich, ihrem Mann den Laufpass zu geben. Entscheidend war, zu spüren, dass Mann sich auch anders um sie bemühen kann als es jener tat, mit dem sie 14 Jahre zusammenlebte. Im Nachhinein erkennt sie in ihm einen Menschen mit narzisstischen Zügen. Narzissten verstehen es sehr gut, deine Schwächen zu finden und sie zu nutzen, meist ist es der nie gesund gewachsene Selbstwert.
In Anjas Kopf sitzt der innere Kritiker, der ihr immer wieder klarmacht: „Das machst du falsch. Du bist falsch.“ Er lässt sie nach der Entscheidung auch daran zweifeln, ob die Trennung richtig ist. Ihre Schwester hatte Anja vor der Hochzeit gewarnt: „Nicht diesen Mann! Du hast was Besseres verdient.“
In der Klinik hat sie die freie Wahl. Die erste fällt auf einen Mann, der harmlos, freundlich, zurückhaltend wirkt – allerdings die Diagnose narzisstische Persönlichkeit hat. Ist es Zufall, dass Anja wieder bei solch einem Typ landet? Der Abschied von ihm fällt Anja schwer, doch der nächste Kandidat ist längst da. Ein anderer Mitpatient, recht konservativ eingestellt, sieht dieses Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit Kopfschütteln: Noch nicht mal richtig getrennt und schon von einem zum anderen …
Anja genießt die Aufmerksamkeit von Anton, für sie ein spürbarer Unterschied zu dem, was ihr Mann für sie übrig hat. Mit Anton kann sie über alles reden, nachdem sie sich entschieden hat, sich ihm gegenüber zu öffnen. Mit Vertrauen tut sie sich schwer. Sie fühlt sich verstanden, genießt die Zeit mit ihm. Er schenkt ihr so viel Aufmerksamkeit wie keiner anderen Mitpatientin. Das macht Mann nicht einfach so, oder?
Nach dem Ende der Klinikzeit treffen sie sich, es läuft – bis Anja etwas Falsches sagt: „Die Treffen mit dir sind der Höhepunkt meiner Woche.“ Wenn du dich um einen anderen Menschen bemühst, würdest du doch nichts lieber hören als einen solchen Satz, oder? Doch Anton reagiert nicht begeistert, überhaupt nicht – ernüchternd für Anja. Die Treffen laufen aus, der Kontakt per Chat und Telefon bleibt.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“ Anja weiß es nicht – und hängt mächtig in den Seilen. Die rosarote Brille ist auf ihre Nase geschweißt, auch als wir uns zu dritt treffen. Anja und Anton sitzen mir gegenüber. Ich weiß, wie sehr sie innerlich an ihm hängt – und er preist ihr locker-flockig mehrere Männer an. Anja lächelt äußerlich. Ich greife mir innerlich an den Kopf: Wie Scheiße muss es sich anfühlen, wenn dir der Mensch, der Farbe in dein oft graues Leben bringt, andere Typen schmackhaft macht … Empathie?
Die Verabschiedung zwischen Anton und mir ist deutlich emotionaler als jene zwischen ihm und Anja. Wenn sie immer noch einen Beweis brauchte, dass er nicht der Farbenbringer sein will, dann ist es dieses Treffen. Anton steigt in sein Auto, ich laufe mit Anja zum Bahnhof.
„Kann er nicht einfach mal doof sein?!“, fragt sie mit reichlich Seufzen und Verzweiflung in der Stimme, die Schultern auf Halbmast.
Die Reaktion, die mir auf der Zunge liegt: „Kannst DU nicht einfach mal doof sein?!“ Anja weiß, dass ich mir Hoffnungen bei ihr mache, doch wenn ein Mensch so neben mir in den Seilen hängt, gewinnt in mir das Mitgefühl gegen Egoismus. Empathie?
Mit dem Treffen verschwindet die rosarote Brille nicht – nicht bei Anja, auch nicht bei mir. Irgendwann schreibt sie: Sie merke schon, dass sie sich in meinen Augen entzaubern würde. Ist das die sanfte Version, mir einen Korb zu geben? Oder ist es für Anja immer nur eine Frage der Zeit, wann Mann all die Fehler an ihr entdeckt, welche ihr innerer Kritiker ihr täglich seitenweise vorbetet? Kann Mann sie überhaupt lieben, ohne narzisstisch-manipulativ zu sein? Wenn sie so wenig von sich hält, kannst du doch nicht kommen mit „Passt schon“?! Dann bist DU doch der verlogene Typ, oder? Wenig später sorgt sie für klare Verhältnisse zu meinen Ungunsten. trotzdem bleiben wir in Kontakt.
Zwei Monate nach dem Treffen zu dritt rauscht Anja in ein enormes Tief, das ihr Angst vor sich selbst macht, sie geht freiwillig in die Klinik. Der Liebeskummer scheint die Hauptrolle dabei zu spielen. Anton lässt sie nicht los – er hat schon längst losgelassen. Noch immer hat sie ein Bild von ihm in positiven Farben, auch wenn sie dazwischenschiebt: „Ich weiß, dass er kein Heiliger ist.“
Ich selbst lernte Anton in der Klinik nur wenig kennen. Auffällig war, wie enorm schlecht er verlieren konnte. Daneben gab es allerdings einen Farbtupfer, den Anja – ebenfalls recht erfolgsorientiert bei Spielen – nicht kannte. Dieser Tupfer hatte das Potential, Anjas Bild von Anton stark zu verwaschen. Doch wollte ich das? Sie hatte erst in ihrem Mann den Falschen erkannt, dann die Enttäuschung mit dem ersten Klinik-Kandidaten – sollte ich ihr jetzt klarmachen, dass sie sich schon wieder mächtig in einem Menschen getäuscht hatte? Ihr ging es absolut nicht gut und ich konnte Null abschätzen, was ein Geraderücken von Antons Bild bei Anja anrichten würde. Irgendwie schien es ihr immer noch gutzutun, ihn kennengelernt und greifbar zu haben als scheinbar ganz anderen Typ Mann. Außerdem: Wie sieht das aus, wenn ich mir Hoffnungen bei ihr machte und dann den anderen madig mache? Empathie?
In der Klinik stabilisiert sie sich langsam, bei ihrer Therapeutin ist natürlich auch Anton Thema. So, wie sie mir schreibt, denke ich wieder: „Arghh, wenn du wüsstest, was ich weiß …“ Langsam wechselt dieser fehlende Farbtupfer von „Wenn ich ihr davon erzähle, wäre das ihr K.o.“ zu „Das ist die vielleicht einzige Chance, wie sie sich von ihm befreien kann.“
Ich will, dass Anja es noch in der Zeit erfährt, während der sie rund um die Uhr Personal um sich hat, das sie auffängt. Als sie wieder von einem Therapeutengespräch über Anton schreibt, lasse ich durchblicken, dass ich ihr Bild von ihm verändern könnte. Sie möchte Bedenkzeit, gibt am nächsten Tag ihr Okay.
Anton, Anja und ich spielten in der Klinik abends oft Brettspiele, wir hatten viel Spaß. Als Anja an einem Abend kurz aus dem Raum ging, erzählte mir Anton von einer Bettgeschichte, recht stolz. Als die Frau anfing, mehr in dieser Bett-Beziehung zu sehen, hatte er ihr die Augen öffnen müssen. So wie er diese Geschichte erzählt hatte, klang das nicht nach einem einfühlsamen Mann, der Frauen auf Händen trägt – und wenn, dann nur bis zur Bettkante. Anton schien kontrollieren zu wollen, welche Frau was in ihm sieht – und bloß nicht zu viel. Wenn sie diese Regel verletzt, gibt es Klartext. Als Anja die Treffen mit ihm zum Höhepunkt der Woche erklärt hatte, verstieß auch sie wohl gegen diese Regel. Was Anja am gleichen Abend aus Antons Mund direkt erfuhr: Er hatte in seinen 40 Lebensjahren rund 25 Frauen leidenschaftlich geküsst. Zusammen mit der Bettgeschichte entstand für mich dieses Bild von ihm: Lange, innige Bindungen sind ausgeschlossen, das Jagen ist ihm wichtig, nicht gemeinsam verbrachte Zeit.
Anjas Reaktion auf meine Nachricht: „Scheiße.“ Tränen. Wut. Ernüchterung. Es ist gut, dass Schwestern und Therapeuten greifbar sind, sie werden in der Folge gebraucht. Auch wenn es ihr weh tut, ist sie mir dankbar.
Die rosarote Brille wird blasser, langsam, sehr langsam. Anja bleibt mit Anton in Kontakt, auch per Telefon. Mittlerweile ist ein Dreivierteljahr vergangen. Die Sucht namens Liebe hält im Schnitt ca. 6 Monate, danach wird der Blick meist klarer. Doch bei Anja dauert es. Sie glaubt, dass sie mit Anton befreundet bleiben kann, schließlich gibt es auch abseits von Liebe Verbindendes mit ihm. Ich will ihr diese Illusion ungern nehmen, doch wenn jemand so an einem Menschen hängt, der andere dagegen eher weniger, dann wird da immer ein Stein im Schuh sein, der schmerzt. Aus eigener Erfahrung und der Erfahrung anderer rate ich jedem unglücklich Verliebten: absolute Abstinenz. Kein Kontakt, kein „Nur mal Hallo sagen“, kein „Einfach nur mal so treffen“ und dabei den Geruch der Droge wieder wahrnehmen. Liebe ist eine Sucht wie jede andere – nur stärker.
Anja hatte ich dies über die 9 Monate bis dahin ein, zwei Mal so geschrieben, aber nicht direkt auf sie gemünzt, eher als allgemeine Erkenntnis – natürlich mit dem Hintergedanken, dass sie nur mit dem Kontaktabbruch zur Ruhe kommen würde. Aber sag einem Menschen, der in einem anderen Menschen das große Glück sieht: „Lauf!!!“ Nicht zu ihm, sondern von ihm weg, für immer.
Anjas rosarote Brille landet mit der Zeit unter dem Bett, ist mal weiter entfernt, mal näher, sobald sie mit Anton telefoniert. Zum Geburtstag muss sie ihm natürlich übers Telefon gratulieren, ist ja harmlos. In der Nacht zuvor träumt sie davon: Sie gratuliert Anton – zum 60. Geburtstag. Und er? Reagiert uninteressiert. Genau das ist Anjas Angst, bevor sie mit Anton tatsächlich am Telefon spricht.
Ich schreibe ihr zu ihrem Traum: „Also ein Mann, von dem du dir Aufmerksamkeit/Anerkennung/Zuneigung erhoffst, aber er lässt dich links liegen. Der rote Faden aus der Kindheit?“
Ich wusste so gut wie nichts über Anjas Start ins Leben, obwohl sie in den Gruppentherapien viel gesprochen hatte. Laut meiner vagen Erinnerung war ihr Vater gestorben, doch das war falsch, „er war nicht da“, so Anja. Ich wurde das Gefühl nie los, dass sie mir nicht vertrauen kann und fragte deshalb auch kaum nach, was das Verstehen des anderen schwer macht.
Entsprechend antwortet Anja auf meine Frage, ob die ausbleibende Aufmerksamkeit eines Mannes der rote Faden aus Kindertagen bis heute ist: „Naja, so einfach ist es nicht. Verbundenheit ist das neue Wort.“
Die Antwort überrascht mich nicht. Ein schnelles „Da liegst du richtig“ kenne ich von ihr nicht. Das mag auch an ihrem Trotz liegen, der sich gerne zeigt. Überrascht werde ich am Tag darauf: „Ich habe mit meiner Freundin gestern Abend geredet und überlege, ob es nicht doch so ist. Roter Faden und so. Du liegst recht oft richtig, denke ich.“
Für mich fühlt sich das „Du liegst recht oft richtig“ wie ein Ritterschlag an. Aber warum sollte auch bei ihr mein sonst so sicheres Gespür versagen? In den rund 14 Jahren zuvor hatte sich dieses Gespür entwickelt, vor allem durch das Zuhören bei den Geschichten anderer und meiner eigenen. Aus erster Hand kenne ich, was unerwiderte Liebe und das ewige Hinterherlaufen mit einem macht. Genauso kenne ich das Loch, welches durch Trauer ausgelöst wird. Ich kenne auch den Leck-mich-am-Arsch-Zustand, bei dem Gefühle gedämpft zu sein scheinen. Du bist in dieser Phase nicht traurig, aber du findest auch Dinge nicht schreiend komisch. Als die Oma einer Kumpeline starb und sie sich einer gefühlsmäßigen Schwebe befand, versuchte ich nicht, sie krampfhaft zum Lachen zu bringen, sondern einfach nur da zu sein, unverkrampft, mit der Gewissheit, dass es sich irgendwann wieder verändert. Empathie?
In diesen 14 Jahren kam ich immer wieder mit Menschen ins Gespräch, die sich bei mir verstanden fühlten, die sich mir öffnen konnten, so wie sie es bei anderen nicht bzw. kaum konnten. Bei diesen Gesprächen trieb mich immer Neugier an, auch wenn die Geschichten, die mir erzählt wurden, meist deprimierend waren. Mich interessierte immer der rote Faden, das Warum. Detektivarbeit. Wenn sich der rote Faden fand, war es immer ein Aha-Moment, als würde im Krimi der Täter gefunden. Mit jeder Unterhaltung wurde mir bewusster: Keiner unserer Special Effects kommt aus heiterem Himmel, jeder ist der Donner nach dem Einschlag – und der findet im Kinderzimmer statt. Die Beziehung mit einem Narzissten hat nichts mit Dummheit oder ähnlichem zu tun. Ein Narzisst weiß, was dir fehlt und nutzt es für sich aus – meist ist es Aufmerksamkeit. Selbst Stalken kann als Beweis von Liebe gesehen werden, wenn du als Kind keine Liebe bekommen hast.
Anton hatte Anja in der Klinikzeit und danach viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber was war sein Ziel? Wofür der ganze Aufwand, wenn sie ihn nicht zum Highlight der Woche erklären durfte? Was hatte er mit ihr vor? Einfach die nächste Kurzzeit-Bettgeschichte? Anders war es nicht zu erklären.
Eines hatte er erreicht: Stammgast in Anjas Kopf zu bleiben. Doch der Gast wird mit zunehmender Zeit zur Belastung, Anja kann und will ihn nicht mehr beherbergen. Und so entschließt sie sich nach einem Jahr zum harten Entzug: absolute Abstinenz, Kontaktabbruch, Chat löschen. Weg von der Droge. Weg von „Vielleicht ja doch noch …“
Als Anja während unserer Klinikzeit schweren Herzens Abschied genommen hatte von Kandidat 1, hing sie durch. Ich war erst meinen dritten Tag dort, sah die beiden nebeneinander am Tisch im ansonsten leeren Raum sitzen, die Hände berührten sich. Mit ihm war sie immer wieder zu einer Allee mit Kirschbäumen gegangen. Als sie wütend auf ihn war, holte sie ihm Kirschen – später wurde ihr klar, dass sie immer wieder Männern gefällig ist, sich selbst aber dabei völlig vergisst.
Ich ging davon aus, dass ich 2 bis 3 Wochen in der Klinik bleiben würde. Bis heute ist mir ein Rätsel, warum ich damals auf die Idee kam, Anja würde nun mit mir statt Kandidat 1 rausgehen – war der Wunsch Vater des Gedanken?! Auf jeden Fall sagte ich ihr, dass ich nicht mit ihr zur Allee laufen werde. Meine Superkraft namens Zuhören war mir inzwischen bewusst und ich wollte nicht, dass Anja sich von mir auch wieder gut verstanden fühlt, ich aber nach 2, 3 Wochen weg bin und sie wieder in den Seilen hängt. Abhängigkeit von Männern war ein großes Thema bei ihr. Empathie?
Was wäre passiert, wenn ich doch die Rolle übernommen hätte, mit ihr den Weg zu den Kirschbäumen gegangen wäre? Wenn ich mich nicht in sie hineingefühlt hätte, sondern egoistisch gewesen wäre? Hätte sie sich in mich verliebt statt in Anton? Oder wäre ihr „einfach nur“ der monatelange Liebeskummer inklusive dem zweiten Klinikaufenthalt erspart geblieben? Ist Empathie in dieser Welt der falsche Weichensteller für unsere Wege? Wenn so viele Menschen ohne gesundem Selbstbewusstsein das Kinderzimmer verlassen, sich kaum selbst lieben können und damit auch kaum „echte“ Liebe annehmen können, wie weit kommst du dann mit dem, was du als Empathie empfindest?
Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. So kannst du es bei Wikipedia lesen. Empathie wird gleichgesetzt mit Einfühlungsvermögen. Laut neuerer Hirnforschung gibt es wohl einen deutlichen Unterschied zum Mitgefühl. Empathie ist kein Gefühl, aber mit vielen Gefühlen verbunden.
Empathie funktioniert nur, wenn du deine eigenen Emotionen wahrnimmst, verstehst, deuten kannst. Wenn du dich selbst nicht verstehst, kannst du schwer andere verstehen. Zum Abschluss der Klinikzeit hatte ich Anja einen Brief geschrieben mit Wünschen für ihre Zukunft. Rund ein Jahr später las sich dieser Brief für sie anders, jetzt machte er mehr Sinn, weil sie sich inzwischen durch weitere Therapien und Selbstreflexionen besser kennengelernt hatte.
Ist es überheblich, wenn man glaubt, den Kern von fremden Menschen teils besser erkennen zu können als dieser Mensch selbst? Ich versuche, demütig zu bleiben, immer wieder Fragen zu stellen anstatt mich festzulegen: „Hey, wach auf, du willst die Aufmerksamkeit, die dein Vater dir nie geschenkt hat! Wenn du so weitermachst, landest du wieder bei einem Narzissten!“ Solche verbalen Einläufe würden voraussetzen, dass Menschen von Vernunft geleitet sind, man ihnen nur sagen braucht, was das Richtige für sie ist, sie sagen „Danke!“ und schweben durchs weitere Leben.
Hätte der Mensch etwas mit Vernunft zu tun, dann hätte Anja nach dem Treffen mit Anton und mir gesagt: „Okay, hab geschnallt, dass der mich nicht will, also probieren wir zwei es.“ Sie hätte sich monatelangen, schmerzhaften Liebeskummer erspart, wäre – hoffentlich – nicht noch einmal in der Klinik gelandet. Ich hätte es ausgehalten, das Highlight ihrer Woche zu sein. Aber in Sachen Liebe ist Vernunft noch machtloser als abseits davon. Optisches Beuteschema, Geruch, Hüfte-Taille-Verhältnis – wenn etwas davon nicht stimmt, kann Amor einpacken.
Aber es spielen, wie mir inzwischen klar ist, eben auch die roten Fäden aus der Kindheit eine Rolle. Du kannst nur so viel Liebe empfangen, wie du dich selbst liebst. Wenn dein innerer Kritiker dir ständig Listen deines Scheiterns überreicht, wie sollst du dann an ein ehrlich gemeintes „Ich hab nichts an dir auszusetzen“ glauben? Die „Liebe“ eines Narzissten ist da zielgruppenorientiert perfekt zugeschnitten: Nicht ehrlich, aber gerade so viel, wie du dich selbst lieben kannst.
Narzissten scheinen nicht lange Single zu sein, sie haben die Anziehungskraft von Misthaufen auf Fliegen. Mein Vater, absolut lieblos gegenüber Frau und Kindern, war 20 Jahre verheiratet, ich war bisher zwei Monate in einer Beziehung. In meinem Umfeld gab und gibt es reichlich Beziehungen, die ich nicht geschenkt haben möchte. Toxische Beziehungen scheinen Standard zu sein. Die Liebe der meisten Menschen zu sich selbst ist äußerst übersichtlich und damit können sie auch andere nicht wirklich lieben und Liebe annehmen.
Gespieltes Mitgefühl ist in Mode: So tun, als würde man sich für andere einsetzen. Reden, aber nichts wirklich tun. Frag die Leute im Ahrtal, frag Hinterbliebene von Terroranschlägen. Populistische Parteien, die nicht einmal den Anschein machen wollen, empathisch zu wirken, sind obenauf. Immanuel Kant gehörte zu den Ersten, die sich mit dem Missbrauch von Empathie durch Politiker befassten. Um Macht zu bekommen, braucht es nicht unbedingt eine Armee, es reicht schon der meisterhafte Umgang mit Worten. Das gilt genauso für toxische Beziehungen. Du brauchst deinen Partner nicht unbedingt an die Kette legen, die richtig platzierten Sätze können reichen.
Forscher befassen sich heute auch mit dem Missbrauch der Empathie durch Medien. Vom „Geschäft mit Gefühlen“ ist die Rede. Wer sich über Werbung finanzieren muss, muss so viele Menschen wie möglich anziehen und das erreichst du, wenn du negative Emotionen kitzelst: Wut, Neid, Angst, Frust. Schau dir Überschriften an: Wie sind sie formuliert? Empatisch?
Empathie kann krank machen, zur Empathischen Erschöpfungsstörung führen. Bin ich deshalb so im Arsch? Zu viel mitgefühlt?
Empathie für Menschen, deren Land zerbombt wird? „Ist doch egal, ob die von dem oder dem Oligarchen geplündert werden! Keine Waffen!“ Ich stand mit 11 Jahren nachts auf der Straße, meine Mutter war mit mir aus der Wohnung geflohen, weil mein Vater mal wieder zeigen musste, wer der Herr im Hause ist. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn keiner zu Hilfe kommt, keiner dem Tyrannen in den Arm fällt. Ich weiß, wie es ist, wenn der Übermächtige machen darf, was er für richtig und sich für unfehlbar hält. Ich weiß, dass ein solcher Mensch nicht mit Diplomatie zu stoppen ist. Ein schief gewachsenes Ego ist nicht mit Worten geradezurücken. Und auch wenn du vorher Fehler gemacht hast, sollte das kein Grund sein, Hilfe zu versagen. Ja, mein Bruder hatte mal wieder Scheiße gebaut, aber das ist für einen Vater kein Grund, gewalttätig zu werden.
Der Mangel an Empathie wird der Sargnagel dieser Welt sein. Die Aktien der Empathie scheinen weltweit in den Keller zu rauschen und vererben sich an kommende Generationen. Eine Trendwende kann es nur geben, wenn Kinder mit gesundem Selbstbewusstsein aufwachsen, sie sich als Erwachsene selbst lieben können, nicht auf das Abwerten anderer angewiesen sind. Dann können wir auch nicht abhängig werden von manipulativen Narzissten. Wir brauchen keine Casanovas, bei denen wir stolz sind, als Nummer 26 in sein Blickfeld gelangt zu sein. Wir brauchen niemandem Kirschen holen, wenn wir wütend auf ihn sind. Wir brauchen unser Selbst nicht vergessen. Wir können mit anderen mitfühlen, weil wir unsere eigenen Gefühle wahrnehmen, verstehen. Wir können daran glauben, einfach nur so geliebt zu werden, ohne brav Pfötchen geben zu müssen oder anders gefällig zu sein. Wir können einfach mal doof sein.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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Nicht zuletzt durch die Serie „The Big Bang Theory“ ist sie zur berühmtesten Katze der Welt geworden, die nie ein Mensch gesehen hat: Schrödingers Katze. Das Tier sitzt in einem Karton, zusammen mit tödlichem Gift. Das Gift kann jederzeit freigesetzt werden. Solange du nicht in den Karton schaust, weißt du nicht, ob die Katze noch lebt. Du stehst daneben und auch wenn du weißt, dass das Tier entweder lebt ODER tot sein muss, ist die Katze für dich eigentlich beides: tot UND lebendig.
Im Gegensatz zur Katze in diesem Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger lebt Sophie tatsächlich – oder sie lebte. 2015 lernte ich sie kennen, sie schrieb mich auf einer Plattform an, bei der es ums Unterhalten geht, aber die vor allem zur Suche nach dem passenden Deckel genutzt wird. Ihr Name war mit einer Warnung versehen: Ich sollte darauf achten, dass Sophie noch nicht 18 ist. Als sie mich – zu dem Zeitpunkt war ich 43 – anschrieb, glaubte ich an eine Falle: Wollte mich jemand in irgendetwas locken und mich zu erpressen?! Warum würde eine 25 Jahre jüngere Frau Kontakt zu mir suchen?! Doch es war keine Falle, Sophie war echt, knapp 18.
Sie lebte rund 300 km entfernt von mir – oder sie lebt noch immer dort. Warum die Frage offen ist bei einer so jungen Frau? Weil sich viel Gift im Karton mit Sophie befand. Mit 12 stand sie auf dem Balkon, sprungbereit. Vier Briefe hatte sie zuvor geschrieben. Ihr Karton war die Familie, die eigentlich ein sicherer Raum sein sollte. Ihr Gift waren ihre Eltern, ihr Bruder. Ein halbes Jahr hatte dieser Sophie immer wieder geschlagen. Die Eltern wussten davon, doch es war ihnen egal. Und so stand Sophie auf dem Balkon, zum Abschied bereit. Liebe, Zuneigung, Anerkennung fand sie bis dahin weder bei ihrer Mutter noch bei ihrem Vater. Entsprechend winzig war ihr Selbstwert. Wenn dich deine eigenen Eltern mobben, kannst du nichts wert sein.
Sophie sprang nicht. Doch sie glaubte, sie würde nicht älter als 27. In dem Alter starben Musiklegenden wie Janis Joplin, Kurt Cobain und Amy Winehouse. Sophie war nicht krank – nicht körperlich. Ihre Psyche war jedoch schon früh ein Trümmerfeld, sturmreif geschossen von jenen, die sie in diese Welt gesetzt hatten.
Entsprechend viel Kraft verlangte ihr die Ausbildung zur Altenpflegerin ab, aber auch das Leben an sich. Immer wieder tauchte sie länger ab, um sich dann mit einem neuen Account zurückzumelden. Zeitweise zog sie bei ihren Eltern aus und bei ihrer Oma ein. Diese schien der einzige Halt in der Familie für Sophie, wurde aber irgendwann „wunderlich“, teils giftig, vielleicht eine Alterserscheinung.
Immer wieder gab es psychische Einbrüche, Selbstverletzungen. Wirklich gut ging es ihr nie. Einem Kumpel zuliebe ging Sophie für kurze Zeit zu einer Psychologin. Doch diese kam ihr irgendwann „zu nah“. Mit ihren Fragen drohte die Therapeutin offenbar eine Tür bei Sophie zu öffnen, die diese aber geschlossen lassen wollte. Was genau sich hinter der Tür verbarg, konnte sie nicht sagen, es war ein absolut ungutes Gefühl und so brach Sophie die Besuche ab.
Für mich war Sophie wie eine Begegnung mit meinem 18-jährigen Ich. Ich stellte mir immer wieder vor, was ich hätte in diesem Alter gebraucht, um mein Schneckenhaus verlassen zu können. Erst mit 38 hatte ich erstmals das Gefühl, von einer Frau als Mann wahrgenommen zu werden, nicht nur als der gute Kumpel, der so gut zuhören kann. Diese kopfinterne Veränderung von einem Neutrum hin zu einem Mann bewirkte viel, löste eine Kettenreaktion aus, die ich mir rückblickend viel eher gewünscht hätte. So versuchte ich Sophie, nicht als Teenager, sondern als Frau wahrzunehmen und ihr das auch so zu vermitteln.
Anfang 2020 tauchte sie nach langer Stille wieder auf. Ohne Worte schickte sie mir das Foto eines Briefs, in welchem ihr zur bestandenen Prüfung zur Altenpflegerin gratuliert wurde. Ich fühlte mich versetzt in die Rolle ihres Ersatzvaters und gab mein Bestes, um ihren durchschimmernden Stolz auf den Abschluss und das Durchhalten der Ausbildung zu bestärken und ihr mageres Selbstbewusstsein ein wenig zu füttern. Wenn sie über ihre Arbeit schrieb, war immer wieder ein „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“ zu spüren. Mein Vater war zu dieser Zeit selbst in einem Pflegeheim, wodurch ich ein klein wenig Einblick in die Arbeit des Personals hatte und Sophies Schaffen besser nachvollziehen konnte.
In den Tagen darauf präsentierte sie mir ihre neuen Schuhe, ganz in weiß. Auffällige Farben trug Sophie schon in den Jahren zuvor nicht. Auffallen wollte sie nie, lieber unsichtbar sein.
„Hab 5 Kilo abgenommen“ – mit ihrem Gewicht war sie nie glücklich, mit ihrer Figur kam sie nicht klar. Trotzdem hatte sie mir 2015 Fotos geschickt, von einem Kumpel gemacht. Einerseits fühlte ich mich damals geschmeichelt, denn solche Bilder hatte mir zuvor keine Frau geschickt. Andererseits hoffte ich, dass sie mit diesen Fotos nicht leichtfertig umgehen würde, auch wenn ihr Wunsch nach positivem Feedback verständlich war, so wie die Anerkennung im Elternhaus gegen Null ging.
Wer sein Kinderzimmer ohne gesundes Selbstbewusstsein verlässt, betritt Umwege zum Glück, die immer Wege ins Unglück sind. Du willst endlich Aufmerksamkeit, einen Hauch von Zuneigung, Liebe – all das, was du bisher nie bekommen hast.
Dafür nimmst du Sachen in Kauf, die dir am Ende nicht gut tun, ob toxische Beziehung, Sucht oder andere Umwege zum Glück. Wann immer es um Sophies Figur ging, versuchte ich vorsichtig, ihre großen Selbstzweifel ein wenig geradezurücken, brachte dabei die Bilder von 2015 in Erinnerung. Doch das Selbstbild hing dank ihres Elternhauses verdammt schief, mit langen Nägeln festgeklopft. Sie wolle bloß nicht so dick werden wie viele Pflegerinnen, denen sie begegnet war. Ihre Essgewohnheiten schwankten zwischen Magerkost und Pizza nebst Energy-Drink. Als Fan von geregelten Mahlzeiten wünschte ich ihr jemanden an die Seite, mit dem sie eine Balance finden konnte – beim Essen wie im ganzen Leben.
Und einen potentiellen Kandidaten hatte Sophie inzwischen gefunden. Er wohnte nicht weit weg von ihr, sehr ländlich. Ihrem Hang zu mehr oder weniger älteren Männern war sie treugeblieben, 10 Jahre trennten beide. „Dieses Jahr kriegst du den Antrag, damit wir nächstes Jahr heiraten“, zitierte Sophie ihren Freund. Er wolle ein Kind, wenn es ein Junge wird, soll er Finn heißen. Sophie bevorzugte „Jonas“. Ich schrieb zwischendurch: „Gut, dass ihr es nicht eilig habt.“ Zu meiner leichten Beruhigung trat Sophie selbst etwas auf die Bremse: „Lass irgendwas sein und man merkt, das Zusammenleben funktioniert nicht …“
Bis zu dieser Zeit Anfang 2020 hatte ich reichlich Geschichten gesammelt mit dem Muster „Ich will ein Kind und Familie, dann wird endlich alles gut.“ Nur wurde es nie gut. Babys sind nicht die Lösung deiner Probleme, sie werden zum Erbe deiner Probleme. Ja, diese süßen Gesichter scheinen jeden Schmerz vergessen lassen zu können. Eine Frau, die als Teenager von ihrem Vater missbraucht worden war, ging diesen Weg. Auch sie glaubte, mit einem Kind werde alles gut. Das Kind war da, der Partner im Streit weg und die Frau merkte immer mehr, dass die alten Wunden nicht durch ein Kind geheilt werden.
Sophie hatte in den 5 Jahren zuvor immer wieder davon gesprochen, so bald wie möglich Mutter werden zu wollen – gleichzeitig glaubte sie, nicht älter als 27 zu werden. Ich gönnte ihr jedes Glück der Welt, aber ich gönnte keinem Kind, unter diesen Umständen geboren zu werden. Wer mit sich selbst nicht klarkommt, kann einem Kind nicht vorleben, wie es mit sich selbst klarkommt. Wer keinen Selbstwert hat, kann keinen Selbstwert weitergeben. Und so wünschte ich Sophie, dass sie von ihrem neuen Freund gut behandelt wird, aber dass sich die Familiengründung noch weit in die Zukunft verschieben würde.
Mitte Februar 2020 tauchte Sophie wieder ab. Im Gegensatz zu früher versuchte ich dieses Mal, ihr Verschwinden positiv zu sehen. „Wenn sie sich nicht melden, geht es ihnen gut.“ Ich glaubte, dass nun der neue Freund meine „Aufgaben“ übernommen hatte und Sophie so glücklich wäre, wie es unter ihren Umständen möglich war.
Anfang September 2020 war sie wieder da – und sie klang alles andere als glücklich. Sie sei wieder Single. Meine Antwort: „Autsch. Woran ist es mit dem jungen Mann auf dem Lande gescheitert? Hoffentlich nicht wieder so ne Nummer mit ner anderen wie der eine.“
Sophie: „Er ist nun Papa seit knapp nem Monat.“
Ich: „Ääähm, dank dir?!“
Sophie: „Nein. Ähnliche Situation wie 2017… Nicht getrennt, aber schon mit einer anderen zusammen. Ich ziehe sowas wohl magisch an. Aber es in Ordnung.“
Nichts war in Ordnung. Der Sohn wurde im Juli geboren – von der Ex des Freundes, von dem mir Sophie im Februar geschrieben hatte. Die Ex war damals ungefähr im 4. Monat schwanger – und der Freund schmiedete gleichzeitig mit Sophie Pläne über eine Familie, schwafelte von Heirat.
„Ich befinde mich derzeit in der schwierigsten Downphase, die ich bisher hatte … Ursache? Ich weiß es nicht“, schrieb Sophie. „Ich bekam im März dann auch Schlafprobleme bis Anfang August … wenns gut lief insgesamt 2-3 h geschlafen. 2-3 Tage wach war nicht mehr unnormal … abschalten ging nicht mehr. Ab 12 Uhr gearbeitet meist bis 23 Uhr… – freiwillig Juli, dann Diagnose Burnout die ich hinnahm aber ehrlich? … ich glaube nicht dran. Ja ich bin nicht mehr wirklich leistungsfähig bzw. belastbar aber es liegt größtenteils daran das ich kaum Zeit für einen Ausgleich habe und hier sowieso alleine lebe und jetzt nach knapp 12 Monaten anfange, den Ort kennenzulernen.“
Für mich stand außer Frage, dass die Trennung und vor allem die erneute heftige menschliche Enttäuschung die Gründe waren für die Schlafprobleme und Sophies rauschende Talfahrt. 2010 erlebte ich selbst drei Monate, in denen ich maximal 1-3 Stunden pro Nacht schlief. Genau wie bei Sophie ging eine extreme menschliche Enttäuschung voraus. Immer wieder dachte ich beim versuchten Einschlafen: „Wie kann ein Mensch so falsch sein …“
Doch Sophie wollte keinerlei Zusammenhang sehen zwischen dem „Übrigens werde ich Papa mit meiner Ex“ und den schlaflosen Nächten: „Es lag definitiv nicht an der Trennung. Hingenommen und alleine weiter gemacht. Mir ist das ehrlich gesagt alles Schnuppe und ich bin sehr gleichgültig geworden was auch okay ist.“
Mein Schlaf kehrte 2010 erst zurück, als ich mir sagte: „Ach egal, ob ich diese Nacht schlafe, leg ich mich halt tagsüber hin … Scheiß drauf …“ Meine Selbstständigkeit machte dies möglich, Sophie musste weiterhin auf Arbeit funktionieren. Ohne Gleichgültigkeit hätten sich meine Schlafstörungen immer weiter gezogen, weil ich weiterhin im Stressmodus gewesen wäre: „Du musst doch endlich mal wieder schlafen!!!“ Stresshormone verjagen aber Schlafhormone. Als der Schlaf zurückkam, blieb eine Leck-mich-am-Arsch-Einstellung, offenbar ein Selbstschutz der Psyche. Genauso blieb eine permanente Benommenheit bis heute, als würde man nachts um 2 aufstehen: Man funktioniert, aber irgendwie ist man nicht klar da.
Und es zeigten sich in der Zeit nach den schlaflosen Monaten zwei Autoimmunerkrankungen. In meinem Blut fanden sich Antikörper, die die Schilddrüse angreifen können und verschiedene Stellen meiner Haut wurden nicht mehr braun im Sommer, Diagnose: Vitiligo. Und auch hier sollte sich bald eine Parallele finden zu Sophie, nur dass es sie deutlich heftiger erwischte.
Wieder verschwand Sophie, dieses Mal nur einen Monat. Anfang Oktober 2020: „War heute beim Arzt… Verdacht auf Blutarmut… richtig nett.“
14 Tage später: erhöhte Entzündungwerte. Sophie beschrieb nun auch Symptome, die sie seit der Schlafentzug-Phase hatte: Schwindel, kraftlose Beine, unwillkürliche Zuckungen, neuerdings „zeitweise Blindfisch“: „Ich falle ab und zu um, vors Waschbecken, gegen Küchenschränke, vors Sofa, auf dem Weg zum Klo. Montag lag ich halb aufm Sofa und wurde hochgezogen, weil ich am Zucken war. Ich bin dann sofort wieder ansprechbar und kann reagieren. Passiert meist 1 bis 2 Mal am Tag. Licht aus und Tschüss.“
Wieder zwei Wochen später: Sophie schickte mir Fotos von der Kardiologie-Abteilung – nicht als Pflegerin, sondern als Patientin: „Es liegt wahrscheinlich eine Verengung der Halsschlagader vor. Am Mittwoch geht es wohl auf die Neurologie, Schädel-MRT war auffällig, Verdacht auf Multiple Sklerose.“
Vier Tage später: „MS konnte ausgeschlossen werden, dafür wurde eine hochgradige Gefäßwandentzündung festgestellt. Da bekomme ich demnächst Kortison. Macht ja nur das Immunsystem kaputt xD Nach der Entlassung gibts engmaschige Kontrolle beim Gefäßdoc. Ultraschall auch erledigt, um zu sehen, ob die Gefäße sich geweitet haben. Ist eher selten mit dieser Gefäßwandentzündung im europäischen Raum. Die Ärzte können es sich nicht erklären, da ich weder rauche, nur selten Alkohol trinke und relativ gut auf meine Ernährung achte. Drogen auch nicht. Und trotzdem Aneurysma im Kopf … Durch das bin ich umgekippt, weil das Hirn nicht richtig versorgt wird. Am Hals verengte Schlagadern, da bekomme ich Stents eingesetzt. Bluthochdruck am Bein, zu niedriger Blutdruck in den Armen. Gutartige Zyste am Eierstock, paar Gallensteine. Weiter arbeiten in der Pflege wird mir abgeraten, Ausbildung alles umsonst. Bekomme hier einige Mitleidsblicke.“
Zwei Tage später: „Bleibe länger. Ultraschall ergab, das es zwar eine Verbesserung gab aber auch gleichzeitig eine Verschlechterung. Irgendwann schaltest du ab und verdrängst, was der Doc zu dir sagt und lässt nur noch zu. Nach der Entlassung komme ich wenige Wochen später nochmal für einige Tage her … um dann kurz darauf ambulant weiterzumachen. Wurde heute entschieden.“
Einen Tag später: „Diagnose steht fest: Vaskulitis.“
Bei dieser Autoimmunerkrankung greifen körpereigene Zellen die Wände der Adern an. Die Gefäßwandentzündungen bei Sophie, die sich die Ärzte bis dahin nicht erklären konnten, waren nun kein Rätsel mehr – aber ein großes Problem. Autoimmunerkrankungen sind bisher nicht heilbar, man kann nur versuchen, die Symptome abzufedern. Und es gibt immer wieder Schübe, also Phase, in denen der Körper sich selbst stärker angreift. Bei Vitiligo wird dann das optische Problem größer, bei Adern wird es lebensgefährlich.
Wir hatten also beide eine heftige menschliche Enttäuschung, anschließend drei Monate massive Schlafstörungen und wenig später tauchten Autoimmunerkrankungen auf. Schwer zu glauben, dass die Erkrankungen auch ohne die Enttäuschungen aufgetaucht wären.
Einen Monat später, Mitte Dezember 2020, meldete sich Sophie kurz von Zuhause und beschrieb den nächsten Klinikaufenthalt: eine Infusion, welche die Autoimmunerkrankung in Schach halten soll und das Setzen der Stents in die linke Halsschlagader – „die rechte ist ja nicht mehr zu retten, Gefäße zu sehr betroffen, das dort ein Eingriff wenig Sinn macht. Option Bypass.“
Einen Tag vor Weihnachten postete sie ein Bild von sich bei Facebook, wieder aus der Klinik: Schlaganfall. Die Folge: eine Dysphasie: „Ich weiß was ich sagen möchte, aber kann nicht.“ Mit dem Lesen war sie schnell überfordert. In den drei Wochen danach antwortete Sophie selten und nur mit ein, zwei Wörtern. Auf meine Frage „Wie ist die Lage?“ kam: „Geht es …“ Auf meine Antwort bekam ich keine Reaktion mehr.
Heute, fast vier Jahre später, ist Sophie für mich gleichzeitig lebendig und tot, wie Schrödingers Katze. Ich weiß nicht, wie es weiterging. Und ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll, wie es weiterging. Ich könnte ihre Schwester anschreiben und fragen, ob Sophie noch lebt und wenn ja wie. Aber ich weiß nicht, welche Antwort ich erhoffen soll.
Wenn Sophie über die Misshandlungen durch ihre Familie schrieb, über die psychischen Folgen, wenn sie mir Bilder ihrer Selbstverletzungen schickte und ihre Suizidgedanken andeutete, wünschte ich mir für sie einen riesigen Stinkefinger, den sie ihrer Familie hätte zeigen können: „IHR bekommt mich nicht klein! Ich werde leben! Ich werde älter als 27!“
Andererseits schien mir das Leben für sie ein einziger Kampf zu sein, den sie nie und nimmer gewinnen konnte. Wie so viele andere suchte sie doch noch Zuneigung in ihrer Familie – wie bei so gut wie allen wäre das ein sich nie erfüllender Wunsch geblieben. Mit ihrem kaputtgeschlagenen Selbstbewusstsein würde sie immer wieder bei Typen landen, die sie früher oder später enttäuschen. Wo auch immer sie Halt suchte, landete sie hart auf dem Boden. Mit der Gefäßentzündung hätte sie wohl immer zwischen Leben und Tod gestanden – oder sie steht. Ist Sophie Geschichte? Ist ihre Geschichte zu Ende? Ging sie weiter?
Für mich lebt sie und ist gleichzeitig tot. Wie Schrödingers Katze. So kann ich glauben, sie wäre von allen Sorgen befreit oder hat doch noch eine Chance, glücklich sein zu können. Vielleicht liegt sie nach weiteren Schlaganfällen dauerhaft in einem Bett, betreut von einer Altenpflegerin in Ausbildung, so wie Sophie einst eine war. Diese Fortsetzung der Geschichte würde ich ungern lesen, aber sie würde zu Sophies Leben passen. Und so werde ich es wohl dabei belassen: Der Karton bleibt geschlossen.
Sophies Geschichte wird mich zusammen mit all den anderen Geschichten immer dafür eintreten lassen, dass werdende Eltern ab dem Zeitpunkt, zu dem die Schwangerschaft feststeht, psychologisch betreut werden bis das Kind 18 ist. Ziel der Betreuung soll sein, Persönlichkeitsstörungen und Verletzungen aus der Kindheit der Eltern zu erkennen und zu behandeln, so dass das Kind eine viel bessere Chance hat, das Kinderzimmer mit einem gesunden Selbstwert zu verlassen. Ein solcher Mensch wird weder eine toxische Beziehung eingehen müssen, noch mit seinem selbstsüchtigem Verhalten einen anderen Menschen so krank machen wie Sophie.
Das letzte Wort überlasse ich ihr, „meinem Küken“, wie ich sie manchmal kopfintern bezeichnete. Vielleicht steckt ja auch darin des Rätsels Lösung, warum ich nichts mehr von ihr höre. Ein Jahr nach unserem ersten Kontakt hatte die mir damals 18-Jährige geschrieben: „Du bist fast der Einzige dem ich alles erzähle…Die Fragen stellen. Um Rat / Hilfe bitte. Und das länger wie nur 3 Monate oder so… Mein Kreis ist so klein, weil ich irgendwann nicht mehr mit Personen zurecht komme. Irgendwas stört mich dann und dann bin ich gestresst … Ende ist meistens dann der Kontaktabbruch.“
Den Blick hinter die Gardinen mit 80 weiteren Biografiesplittern gibt es in meinem Buch:
Wer Menschen verstehen will, muss ihnen zuhören, sie beobachten, hinter die Fassade schauen: Warum heiraten wir? Sind Frauen von Natur aus gute Mütter? Was erlebt man bei der Partnersuche? Wem verdanken Elon Musk und Kanye West ihre Erfolge? Was treibt andere Prominente an – und was ist dein eigener Antrieb? Fallen psychische Erkrankungen vom Himmel? Warum steht jemand 5 Stunden unter der Dusche? Wieso glaubt Käpt´n Crazy, die Chinesen würden kommen? Sind Krankenhäuser tatsächlich Hurenhäuser? Warum verheimlicht eine 50-Jährige, dass ihr Vater soff?
Mit den Antworten auf diese Fragen wird unerklärliches Verhalten entzaubert. Kein Hashtag, kein Gendern und keine Kampagne wird diese Welt retten können. Erst wenn wir einsehen, wie wir ticken, kann sich etwas verändern. Komm mit auf eine Reise, die Dich verändern wird!
Das Buch gibt es bei bod.de, bei Amazon, genauso bei allen anderen Onlinehändlern. Du kannst aber auch beim Buchhändler um die Ecke danach fragen. Die ISBN: 9783 7557 0721 9. (Da sich bisher kein Verlag interessiert hat, werden keine Exemplare zum Mitnehmen rumliegen, deshalb bitte vorerst direkt im Laden bestellen.)
Sophie lebt – und ist tot. Was besser ist für sie? Ich weiß es nicht.
„Da war nichts.“ Meggie hatte eine schöne Kindheit, dennoch geht es ihr schlecht. Warum?! Dann erwacht der Elefant.
„Ich habe mich gefreut, wenn Papa fünf Minuten Zeit für mich hatte.“ Jens hat den Arbeitseifer seines Vaters geerbt und wird in sechs Jahren sterben.
Elon Musk, Kanye West, Mel Gibson – denen ist doch allen der Erfolg zu Kopf gestiegen! Die spinnen doch einfach nur! Willst du mit ihnen tauschen?
„Warum hat er mich nicht lieb? Bin ich einfach ein Nichts?“ Diese Fragen stellt sich Katis jüngerer Sohn und denkt dabei an seinen Vater.
Suizid kann Freiheit bedeuten. 2020 hat Ulli die erste freie Entscheidung seines Lebens getroffen. Dieser Neubeginn bedeutete seine Freiheit. Und sein Ende.
Saskia gibt mit Ü40 die Hoffnung nicht auf, von ihrer Mum ein nettes Wort für ihr Dasein zu hören. Bettina bekam mit 20 ein Kind, um ihrem Elternhaus zu entkommen – und lebt seitdem in den gleichen Verhältnissen.
Natascha Kampusch als Hassobjekt?! Das macht keinen Sinn – doch beim Zuhören erklärt sich auch beim Thema Hass, wie sich unsere „Special Effects“ entwickeln.
Annie ist 16, 1,70 m, 40 kg. Ihr Vater versteht nicht, warum sie nicht einfach mehr isst. Er selbst steckt jeden Monat 500 Euro in sein Onlinespiel. Annies Mutter vermeidet Diskussionen mit ihm über ihr Rauchen. Verstehen des jeweils anderen? Fehlanzeige.
Die einen waschen ihre Firma grün, die anderen leben beim Yoga ihren Narzissmus aus. Was steckt hinter dem Gendern?
Wer Frauen sichtbar machen will, muss das komplette Bild ins Scheinwerferlicht rücken – auch die Schattenseiten.
Wo in der Geschichte sind die ganz konkreten Beispiele dafür, dass Appelle an die Vernunft etwas zum Guten verändern? Mein Vater kann nicht gemeint sein.
Über Tote sagt man nichts Schlechtes. Wenn dir also nichts Positives einfällt, dann musst du schweigen. Doch jedes Leben erzählt eine Geschichte.
Knapp 18 Mio. Menschen werden pro Jahr wegen psychischer Erkrankungen behandelt. So etwas können Parteien doch nicht ignorieren, oder?
Frage: Was muss passieren, damit diese Welt weniger verrückt ist? Antwort: Wir müssen zuhören lernen. Oder wir verbieten das Kinderkriegen.
Jochen wäre fast ertrunken, der Vater zerrte ihn wieder ins Wasser. Opfer und Täter, weiß und schwarz. Doch ist es wirklich so einfach?
Du weißt, wie wahre Liebesgeschichten beginnen. Dies sind einige von ihnen.
Und wieder glauben wir, Erwachsene umerziehen zu können – und wieder haben wir nichts aus der Geschichte gelernt.
Er verfolgt dich, er bespitzelt dich, er glaubt dir nicht, du machst Schluss mit ihm. 10 Jahre später sitzt du mit ihm und euren beiden Kindern am Frühstückstisch.
In dieser Welt passiert vieles, was aufgedeckt gehört. Gibt es jedoch zu einem Ereignis 101 unterschiedliche Wahrheiten, dann werde ich nachdenklich.
Die Welt wird von einer unsichtbaren Macht geleitet – sagen nicht nur Verschwörungsanhänger, sondern Milliarden Menschen.
Er baut den Keller zur Wohnung um, weil die Chinesen kommen. Sie spricht vom Angriff der Roboter. Wenn du ihre Geschichten kennst, wirst du sie verstehen.
„Als ich Krebs hatte, bekam ich Mitleid, Zuspruch und Unterstützung. Als Depressionskranke war ich immer die faule Sau.“
Stille ist Luxus. Im Wald kannst du sie finden, kannst nackt herumrennen. Doch nun weicht die Stille der Sprachlosigkeit.
Als Robert Enke durch Suizid starb, herrschte große Trauer. Doch längst jagen wir seine Nachfolger Richtung Abgrund.
1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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Anfang 2022 hatte ich es endlich geschafft: Ich schmiss mein Buch „Verrückt – ein Aufschrei“ auf den Markt, an dem ich Monate bis Jahre gesessen hatte. All die Geschichten derer, für die sich kein Schwein interessiert, füllten 700 Seiten – mehr waren von der Druckerei her nicht möglich. Die Moral all dieser Geschichten: Jede psychische Erkrankung entsteht durch einen Einschlag in der Kindheit. Ich bin nicht der Entdecker dieser Erkenntnis, sie ergibt sich aus dem Zuhören und dem Vorgehen der Psychologen. Bei ihnen geht es immer um die Kindheit. Nicht, weil sie gern lustige Geschichten von kleinen, süßen Zwergen hören möchten, sondern weil sie eben aus Erfahrung wissen, wo der rote Faden anfängt, der sich in Depressionen, Zwangsstörungen, Selbstverletzungen, Sucht, Selbstzweifel usw. fortsetzt.
Im Sommer 2024 konnte ich dies aus erster Hand recherchieren. Mein Körper machte in den Jahren zuvor immer weniger das, zu was er eigentlich in der Lage gewesen sein sollte. Während ich 2016 jeden Tag bei Wind und Wetter 6, 7, 8 km wanderte, schaffte ich inzwischen keine 500 m mehr aller paar Tage, ohne dass sich die Muskeln im Nachhinein darüber beschwerten. Um herauszufinden, wo der Hase im Pfeffer liegt, ging ich in eine psychosomatische Klinik. Für mich war es schwer vorstellbar, dass es keine organische Ursache gibt, dass alles „nur“ von der Psyche kommt. Ja, meine Kindheit war reich an Einschlägen und auch als Erwachsener hagelte es unregelmäßig Fäkalien in die Trompete. Aber wieso sollte ich deshalb kaum noch laufen können?
„Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden“, so sagte es mir meine Psychologin in der Klinik. Hmm. Da ich inzwischen alles Mögliche an Diagnostik der Organe ohne Befund hinter mir hatte, fing ich an, diesen Satz zu glauben. „Sie müssen sich mehr um sich selbst kümmern“, war ein weiterer Satz, der in den Therapiesitzungen fiel. Ich hatte von einem ziemlich kleinen Teil jener Menschen erzählt, deren Geschichten ich über die Jahre zuvor gesammelt, ihnen zugehört hatte. Geschichten, die Psychologen täglich zu hören bekommen, aber sie haben ihre Techniken, damit es sie mit der Zeit nicht erschlägt. In mir steckten diese Geschichten nebst meiner eigenen. In meinem Buchtitel heißt es nicht umsonst „… – ein Aufschrei“. Das Buch war mein Versuch der Selbstreinigung, des Alarmschlagens, des „Hört doch endlich mal zu!“ – doch weder Journalisten noch Buchverlage wollten davon etwas wissen. Also muss mein Körper das ausbaden, was der Kopf nicht verarbeiten kann.
In der Klinik stellte ich mich deshalb in den Mittelpunkt meines Denkens – ich war aber auch einfach zu platt fürs weitere Zuhören. Und so fragte ich Mitpatienten keine Löcher in den Bauch über deren Geschichten, blieb so gut es ging bei mir.
Mit drei Mitpatienten (zwei Männer, eine Frau) erlebte ich lustige Abende. Wir saßen meist im Speiseraum zusammen und spielten. Unsere inneren Kinder kamen dabei nicht zu kurz. Jene Kinder, die in ihrer Kindheit nicht das bekamen, was Kinder bekommen sollten: Zuneigung, Anerkennung, Liebe von BEIDEN Elternteilen.
„Wie die Kinder“ ging es unter uns vieren auch zu, als eine neue Patientin auf Station kommen sollte. Sie wurde mit Anfang 30 angekündigt. Mein Hang zu ganz leicht jüngeren Frauen war allseits bekannt – auch, dass ich mich bis Mitte 40 erfolgreich von Frauen jeglichen Alters hatte fernhalten können. Und so hieß es von meinen Spielgefährten: „Die Meggie setzen wir im Speiseraum neben dich!“
Dutzende, furchtbar kindische Witze später saß sie dann neben mir. Ich war heilfroh, dass keiner dieser netten Leute nun einen dieser Witze neu auflegte und wir uns nicht vor Lachen auf den Boden legen mussten. Wer in eine solche Klinik kommt, hat äußerst selten ein stabiles Selbstbewusstsein und wenn du als „Die Neue“ dann scheinbar ausgelacht wirst, könntest du schnell wieder deinen Koffer packen, nur weil so ein paar Kinder im Alter von 30 bis 50 anwesend sind.
Doch Meggie wurde schnell warm mit uns Kindern. Gleich am ersten Tag war sie dabei bei einem weiteren Spieleabend. Die Kinder waren inzwischen ins Jugendalter gekommen und spielten „Flaschen drehen“. Eine Menge von eher eindeutigen als zweideutigen Fragen wartete auf Antworten: „Wie viele Menschen hast du leidenschaftlich geküsst?“ bis „Welches ist deine Lieblingsstellung?“ Nirgends geht es lustiger zu als in einer psychosomatischen Klinik.
Meggie machte mit, sie wirkte nicht peinlich berührt, ergriff nicht die Flucht – was ich durchaus verstanden hätte. Oft hatte sie ein spitzbübischen Lächeln auf den Lippen. Und immerhin hatte sie damit das Schlimmste hinter sich, denn meine drei Spielkameraden verließen zwei Tage später die Station.
Jede psychische Erkrankung entsteht durch einen Einschlag in der Kindheit. Das sagte ich auch Meggie in einem unserer ernsteren Gespräche. Sie kam mit der Diagnose Borderline in die Klinik, war zuvor auch schon in einer anderen. Borderline war für mich Neuland, ich hatte bis dahin niemanden, der mir aus seinem eigenen Leben darüber etwas erzählt hatte – zumindest glaubte ich das.
Meggie sagte mir, dass sie schwer neue Kontakte halten kann. Nach ca. drei Monaten lässt sie neue Verbindungen meist einschlafen. Das erinnerte mich sofort an eine Frau, mit der ich fünf Jahre zuvor immer mal wieder Kontakt hatte. Anne war 18, als sie mich anschrieb – ich verstand nicht, was sie mit mir altem Knochen wollte. Mit der Zeit wurde das Bild rund. In ihrer Familie hatte sie nur Gegner, Anne war der Sandsack für alle und schon mit 12 stand sie auf dem Balkon, zum Absprung bereit.
Ca. vier Jahre nach unserem ersten Kontakt schrieb sie mir: „Du bist fast der Einzige, dem ich alles erzähle…Die Fragen stellen. Um Rat / Hilfe bitte. Und das länger wie nur 3 Monate oder so… Mein Kreis ist so klein, weil ich irgendwann nicht mehr mit Personen zurecht komme. Irgendwas stört mich dann und dann bin ich gestresst … Ende ist meistens dann der Kontaktabbruch.“ Ich las Meggie diese Sätze vor und sie konnte es 1:1 nachvollziehen. Es sei typisch bei Borderline.
Als ich sagte, dass Anne mir ein Foto geschickt hatte, auf dem ein geritzter Unterarm zu sehen war, sprach Meggie von ihren eigenen Selbstverletzungen. Auch diese seien bei Borderline typisch. Normalerweise spreche sie nicht mit anderen darüber, weil sie bisher meist nur verständnisloses Kopfschütteln erntete. Ich erinnerte mich an einen Satz einer Verwandten, den auch eine Frau von einem Onlinedate mir gesagt hatte bezüglich ihrer Selbstverletzungen: „Der Schmerz zeigt, dass ich lebe.“ Auch dies konnte Meggie unterschreiben. Ja, diese Selbstverletzungen seien völlig sinnlos, das würde ihr natürlich auch jedes Mal klar, nachdem es passiert ist. Aber in dem Moment, wo es passiert, sei es wie eine Sucht und jegliche Vernunft hat in dieser Minute keine Chance.
Hätte ich anderen nicht zugehört, dann hätte ich nichts gewusst über all das, was Meggie mir erzählte und ich hätte vermutlich so reagiert, wie viele reagieren: Kopfschütteln. Nur weiß ich heute: Alles hat einen Grund, so unvernünftig es auch sein mag und dieser Grund ist immer in der Kindheit zu finden.
„Da war nichts.“ Meggie zuckte mit den Schultern und schien sich ein klein wenig über meine großen, ratlosen Augen zu freuen. Sie zerriss einfach mal so die 700 Seiten, an denen ich so hart gearbeitet hatte. „Meine Eltern sind selbst unter gewalttätigen Eltern groß geworden und sie wollten ihren eigenen Kindern das nicht antun. Sie haben uns Kindern viel Freiraum gelassen, haben uns auch aus dem größten Blödsinn rausgeholt, ohne uns danach die Ohren langzuziehen. Ich hatte eine schöne Kindheit.“
700 Seiten. Für die Tonne. Ich schrieb einer Freundin: „Wenn Meggie nicht irgendwas aus ihrer Kindheit extrem verdrängt hat, kann man bei ihr nicht sagen: An der Stelle haben die Eltern versagt und dort ist die Ursache für die Erkrankungen.“
Immerhin war ich mit Meggie in einem Punkt vereint: Auch sie suchte nach der Ursache für ihre körperlichen Probleme, von denen es eine Menge gab und die sie arbeitsunfähig machten.
In einem weiteren „Küchengespräch“ erzählte Meggie vom Tod ihrer Oma, als Meggie 15 war. Die Eltern hatten ihr nicht gesagt, dass es mit ihrer Oma zu Ende geht, so dass Meggie nicht Abschied nehmen konnte, was sie ihren Eltern stark verübelte. „Na dann ist das vielleicht der Grund für deine Probleme?“, stellte ich den Raum. Ganz geschlagen wollte ich mich mit meiner Einschlag-Erkenntnis nicht geben. Dass Meggie mir die Geschichte um ihre Oma unter Tränen erzählte, zeigte, dass die Wunde da war. Von ihrer Therapeutin bekam sie als Hausaufgabe, einen Abschiedsbrief an ihre Oma zu verfassen, um darin all das zu sagen, was sie ihr noch hätte sagen wollen. Auch sollte sie mit ihren Eltern über die Enttäuschung sprechen, die durch das Verschweigen entstanden war und wohl noch immer rumorte.
Aber reicht das für Borderline, für Selbstverletzungen? Reicht das für diese ständigen Selbstzweifel, das ständige „Ich bin schuld“ bei jeglichem Anlass, von dem Meggie mir erzählte? Hatte sie schlechte Gene, die aus einer großen Mücke einen Elefanten gemacht hatte?
„Als ich 9 war, hat mein Vater uns verlassen für eine andere.“ Meggie sagte dies fast beiläufig, als wir wieder zusammensaßen. „Ich war sooo wütend auf ihn. Und ich dachte, dass das ganz klar meine Schuld ist.“
Ich sah Meggie wie versteinert an: „Ähm, in deiner Kindheit ist also nichts passiert?!“ Sie musste grinsen und mir rauschten diverse Felsbrocken von meinem Herzen: Ich brauchte die 700 Seiten doch nicht einstampfen. Nach einem Jahr kehrte ihr Vater in die Familie zurück, bereute seinen Irrweg, aber klar, der Einschlag war da. In der Schule erlebte Meggie Mobbing, war aber zunächst auch selbst Täterin.
Auf jeden Fall: Rätsel gelöst.
Meggie wirkte meist eher unbeschwert, das spitzbübische, fast schon kindliche Lächeln auf den Lippen, wenn es ihr gut ging. Wenn es ihr mies ging – und sie es nicht überspielen konnte, war es deutlich zu sehen. Sie war inzwischen vielleicht zwei Wochen in der Klinik, als sie mit verheultem Gesicht zum Mittagessen kam. Auch während des Essens konnte sie sich nicht beruhigen. Ich versuchte, meinem Plan treu und bei mir selbst zu bleiben. Doch wenn neben mir jemand so mit sich kämpft, kann ich nicht einfach mit meinem Tablett aufstehen und gehen. Als die meisten Mitpatienten aus dem Raum waren, fragte ich leise, was los ist.
„Ich sehe ein Bild vor mir seit ein paar Tagen …“ Meggies Stimme war kaum zu hören und mit dem Kampf gegen die Tränen, die weiterhin liefen, überlagert. Auf meine Frage, was sie sieht, konnte sie nur sagen: „Ich sehe einen Raum, verschwommen … Jeden Tag wird das Bild ein bisschen deutlicher.“
Ob sie sagen könne, wie deutlich das Bild in Prozent sei, raunte ich.
„Vielleicht 60% heute.“
Meggie konnte keine Details nennen, nur, dass es eher dunkel sei und sie ein Kind war. Ich stellte mir ein Kellerabteil vor, fragte aber nicht nach solchen Details. Schon das, was sie jetzt sah, schien mehr als genug für sie zu sein. So, wie dieses verschwommene Bild in ihr arbeitete, blieb ich bei einer einzigen Vermutung hängen. Diese sprach ich nicht aus, ich war kein Fachmann, sondern Laie und nur wegen „Ich sehe einen Raum“ und den Tränen einen „Tipp“ abzugeben, schien mir völlig unangebracht, auch wenn ich mit meiner Intuition selten danebenliege.
Das Bild wurde mit jedem Tag etwas deutlicher und Meggies Kampf ging jeden Tag in eine neue, härtere Runde. Seit Jahren konnte sie nachts kaum schlafen, immer erst gegen 4 bis 6 Uhr, die Gründe waren unbekannt. Weder Körper noch Kopf bekamen in all der Zeit die Erholung, die es braucht. Und jetzt raubte dieses schärfer werdende Bild Energie, die in Meggie kaum vorhanden war. Die feuchten Augen und die kämpfenden Mundwinkel wurden häufiger, unbeschwerte Momente seltener.
Mit einem Mitpatienten versuchten wir, Meggie ein wenig Halt zu geben, sie ab und zu für ein paar Minuten auf andere Gedanken zu bringen, ohne dass es krampfhaft wurde. Auf dem Klinikgelände gab es einen Feldhasen, der eine gute innere Uhr zu haben schien. Gegen 20 Uhr tauchte er an einem Baugelände auf, manchmal mit Anhang, wir tauften ihn den 8-Uhr-Hasen. Mit Meggie und dem Mitpatienten gingen wir auf „Hasenjagd“. Wir Männer schwärmten von Hasenbraten, entwickelten Rezeptideen, während Meggie Meister Lampe um jeden Preis verteidigen wollte. Ich überlegte laut, ob mir eine Hasenpfote zu Liebesglück bei einer Mitpatientin verhelfen könnte und dass der Hase damit sicher einverstanden wäre, weil er mir jegliches Glück gönnen würde – Meggie sah das anders.
Natürlich ersetzte die Hasenjagd keine Therapieminute. Bei ihrer Psychologin konnte Meggie das Bild, das jeden Tag deutlicher wurde, nicht ansprechen. Sie hatte Angst, dass in dem Moment der komplette Staudamm in sich zusammenstürzen und Meggie in den Wassermassen ertrinken würde. Noch immer war nicht das Wort ausgesprochen worden, um welches es zu gehen schien. Noch immer hielt ich mich selbst beim Aussprechen zurück, auch wenn ich mir inzwischen sicher war, um was es geht. Ich hoffte, Meggie würde es als Erste über die Lippen bringen. Und ich hatte Angst, dass ich den Staudamm einreiße, wenn ich das Wort in den Mund nehme. Meggie wirkte eh schon jeden Tag näher am Ertrinken, ohne dass der Damm brach, der 20 Jahre unerschütterlich zementiert stand.
Nur irgendetwas musste passieren. Meggie ging zu ihrer Therapeutin, sie sprachen über Oma und Eltern – aber nicht über den gigantischen Elefanten. Dabei war ER es ja, der alles erklären würde. Er war der Einschlag in der Kindheit. Wegen ihm war sie hier – und wusste 20 Jahre nichts von ihm.
Sie vermied das Wort weiterhin, was ich problemlos verstehen konnte. Ich ging dazu über, „M-Wort“ zu sagen, wenn es um den Elefanten ging. Der Versuch, ein paar Steinchen vom Damm zu lösen, ohne dass er sofort explodiert. Für Meggie schien das in Ordnung zu sein und ich glaubte, dass es für sie auch befreiend sein müsse, wenn für uns klar war, um was es geht, ohne dass sie Einzelheiten nennen musste. Von denen gab es eh keine. Aus dem Bild des Raums wurde kein Video mit Handlung und Ton, es tauchte kein Akteur auf. Aber Meggie wusste, was in dem Raum auf dem Dachboden passiert war, auch das Haus kannte sie. Das Bild habe sie immer wieder ganz vage begleitet und irgendwie Unbehagen in ihr ausgelöst, aber den Grund erfuhr sie erst jetzt, 20 Jahre später.
An einem weiteren Sommerabend ging mein Mitpatient und ich zum Garten der Klinik, unweit des Hasen-Reviers, Meggie wollte hinterherkommen. Wir saßen auf einer Bank in der Sonne, als sie mit müden Beinen angeschlichen kam, wieder feuchte Augen und Wangen. Ihr Zustand war einfach übel, ein totaler Zusammenbruch schien nur eine Frage von Tagen. Noch immer wussten nur wir beiden Männer von dem, was in ihr so unglaublich arbeitete.
Später erfuhr Meggie, dass gerade Traumatisierte einen inneren Kreis von Menschen haben, denen sie sich anvertrauen können. In diesen Kreis passen oft nur ein, zwei Personen hinein. Einerseits ehrte es uns ja, dass Meggie ausgerechnet zwei Männern so sehr vertrauen konnte, obwohl sie damit bisher immer Probleme hatte – der Grund war nun klar. Andererseits konnten wir nicht helfen und Hilfe war dringendst nötig.
Wir stellten uns in den Garten, grübelnd, wie es weitergehen kann. Ich fragte Meggie, ob es für sie in Ordnung wäre, wenn wir für sie das Eis brechen würden. Der Plan war, der diensthabenden Schwester zu sagen, dass Meggie mit ihr reden müsste. Mit dieser Schwester kam sie gut klar, sie gehörte zu jenen, die über Empathie verfügen. Es sollte der kleine Schubs werden, der „die Sache“ ins Rollen bringt. Wenn die Schwester erst mal weiß, worum es geht, wird es die Therapeutin erfahren und diese hätte genug Erfahrung, wie ab da weiter zu verfahren ist.
Nach einem Besuch beim 8-Uhr-Hasen gingen wir wie die drei Musketiere Richtung Klinikgebäude. Okay, es fühlte sich schon arg seltsam an, Meggies Beine waren eher weich wie gekochte Nudeln statt stahlhart wie ein Säbel, Stress pur in ihr. Der Schwester kam es ein bisschen wie Kasperletheater vor, als wir drei vor ihr standen, wie wir später erfuhren. Aber wir hatten bis dahin keine Übung darin, wie man einem Missbrauchsopfer helfen kann, das Ende des Verdrängungsprozesses zu starten. Meggie sprach lange mit der Schwester, unter vielen Tränen. Diese trockneten auch danach nicht so schnell, aber Meggie war froh, dass der Elefant nun einen Namen hatte.
Das M-Wort kam ihr weiterhin nicht über die Lippen. Ich fragte sie, ob es für sie ein Anfang wäre, wenn sie „Ich bin ein Missbrauchsopfer“ sagt statt „Ich wurde missbraucht“, dann wäre ganz klar, wer Täter und wer Opfer war. Meggie gab sich andauernd die Schuld für alles Mögliche und mir gefiel der Gedanke überhaupt nicht, dass sie sich auch für das, was ihr mit 10 passiert war, Schuld zuschreiben könnte. Über die Jahre hatte ich immer wieder gehört, dass Opfer sich mit „Ich war daran schuld“ rumschleppen. Meggie konnte mit der Idee leben, doch es sollte dauern, bis sie es sagen konnte.
Jede psychische Erkrankung entsteht durch einen Einschlag in der Kindheit. So, wie ich Meggie weiterhin und zunehmend leiden sah, hätte ich sie gern als Gegenbeispiel genommen. Dann gibt es eben in einem von 100 oder 60 Fällen keinen Beginn des roten Fadens im Kinderzimmer. Mein Buch wäre trotzdem nicht gleich für die Tonne gewesen. In ihm findet sich die Geschichte von Claire. Mit 9 Jahren bekam sie erste Angstanfälle. Mit Männern schlief sie als Erwachsene nie aus Liebe oder aus eigenem Bedürfnis. Immer tat sie es, weil sie meinte, man erwarte dies von ihr und sie müsse es tun, damit der Mann zufrieden ist. Machte einer sie an, stieg in ihr das Schuldgefühl auf, ihm zu Willen sein zu müssen. Entsprechend groß wurde die Zahl der Männer, mit denen sie ins Bett ging.
Dieses von ihr selbst als gestört empfundene Verhalten war für Claire ein völliges Rätsel – bis ihr ein Mann über den Weg lief, als sie sich mit ihrem Sohn in einem Geschäft umsah. Mit einem Schlag war der Film wieder da, der in der Kindheit entstanden und bis zur Begegnung mit diesem Mann tief im untersten Fach ihres Unterbewusstseins hinter dicken Türen lag. Für Claire stand fest: Dieser Mann war Täter an ihr. An dem Tag, an dem Claire im Freien zum Opfer wurde, herrschte Wind. Als Erwachsene fiel Claire immer wieder um, wenn sie in Zugluft stand. Jetzt war für die Ärzte der Grund klar. Wind bedeutete Gefahr: „Gleich passiert was Schlimmes, also abschalten.“
Dass ich jemals selbst live dabei sein würde, wenn bei einem Missbrauchsopfer der alte Film aus dem Giftschrank des Unterbewusstseins geholt wird, hatte ich nicht im Geringsten erwartet. Wie oft kommt das schon vor, dass ein solcher Einschlag so lange verdrängt werden kann zum vermeintlichen Schutz des Opfers? Häufiger, als ich denke, aber es ist kein Thema, wie so vieles bei psychischen Erkrankungen? Wenn wir schon mit Depressiven nicht umgehen können, wie soll das erst aussehen bei Claire, bei Meggie?
Im Buch zitiere ich eine Frau, die 14 Jahre nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall so im Arsch war wie nie zuvor. Ihre Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung. Wann immer sie ihre Geschichte erzählte, hörte sie als Reaktion: „Aber nach xx Jahren musst du das doch mal hinter dir lassen können?!“ Vielleicht hätte Hanna das gekonnt, wenn beim Unfall nicht ihre 4 Wochen alte Tochter auf dem Rücksitz gesessen und nicht wie tot gewirkt hätte. Für Hanna war klar, dass ihr Kind tot ist, doch Constanze hatte einfach tief geschlafen. 14 Jahre später: In Hannas Träumen stirbt Constanze auf unterschiedlichste Weisen noch immer. Wie sollst du etwas hinter dir lassen, wenn die Bilder dich ständig verfolgen?
„Siehst du den Täter?“, fragte ich Meggie irgendwann – „Oder würdest du ihn überhaupt sehen wollen?!“
Meggie verneinte beides. „Wenn ich wüsste, wer das war, dürfte meine Papa das nicht wissen, er würde den umbringen.“
Aber irgendwie hatten wir beide das beklemmende Gefühl, dass auch das Gesicht des Täters irgendwann auftauchen würde, so, wie es sich bis dahin gesteigert hatte. Für Meggie hoffte ich, dass mit dem Wachwerden der Bilder nun immerhin das Trauma bearbeitet werden kann. Der Gegner stand fest, also ran an die Arbeit, ihr Psychologen!
„Es wird Ihnen erst mal schlechter gehen, bevor es besser wird.“ So prophezeite es Meggies Psychologin aus ihrer Erfahrung.
„Noch schlechter?!“, fragte ich entgeistert. Meggie schien schon jetzt auf blutrotem Zahnfleisch zu kriechen. Wie sollte es ihr denn noch schlechter gehen?!
Nach 8 Wochen verabschiedete ich mich aus der Klinik, wenige Tage nach meinem Mitpatienten, der mit mir zu Meggies innerem Kreis gehörte. Als er ging, heulte Meggie und ich bekam einen Vorgeschmack, wie der Abschied zwischen uns aussehen würde. An meinem Entlasstag versuchte ich, schon im Vorfeld etwas Wind aus dem Segel zu nehmen und irgendwann versiegt jeder Tränenvorrat vorübergehend, wenn man im Tal der Tränen sitzt. Klar gab es feuchte Augen, aber ich war ja nicht komplett aus der Welt.
In den nächsten zwölf Monaten traf ich mich drei Mal mit Meggie, ansonsten schrieben wir. Mit den Monaten verstand ich, was die Psychologin meinte mit „Es wird Ihnen erst mal schlechter gehen, bevor es besser wird.“ Meggie konnte nicht mehr allein mit fremden Männern sein, ob Arzt, Anwalt, Psychologe. Sie bekam Anflüge von Panikattacken im Beisein mancher Männer, echte Panikattacken traten auch auf. Sie konnte nicht mehr mit anderen in einem Zimmer schlafen, auch nicht mit ihrer Schwester. Der Schlaf blieb eine Katastrophe – und wenn sie schlief, dann landete sie immer wieder in Albträumen. Aus dem verschwommenen Bild vom Anfang wurde ein Film, auch mit Ton. Das Gesicht des Täters tauchte auf.
Dissoziationen kamen hinzu. Diese beschreibt Meggie so: „Jeder kennt ja, dass man mal dasitzt und so vor sich hin träumt. So kannst du dir Dissoziation vorstellen. Du kannst dich normal mit mir unterhalten und dann kann es passieren von jetzt auf gleich, dass ich weg bin. Dann kann es passieren, dass ich einfach umfalle oder vom Stuhl kippe. Es gibt unterschiedliche Formen: Bei einer kannst du vor mir stehen, mit den Fingern schnipsen und alles machen, Witze erzählen – ich reagiere aber nicht mehr.
Normalerweise, wenn ein Mensch nicht mehr mit dir reden will, bewegt er ja trotzdem seine Augen, er hat Mimik, reagiert auf sein Gegenüber. Aber ich bin dann wie erstarrt. Das kann kurz sein, wo ich dann bewusstlos werde, wenn z.B. Männer im Raum sind. Da merke ich, wie mein Kopf immer weiter nach unten sinkt und ich versuche, mich aufzuraffen, mit Kühlakku, die mir jemand bringt. Eine Mitpatientin hat mich immer wieder mal angefasst, mich angesprochen, die konnte damit umgehen. Ich kann dir danach sagen, was du gesagt hast, also ich höre und sehe alles, kann aber nicht reagieren. Manche Schwestern haben da mit mir gesprochen und ich hätte die in der Luft zerreißen können wegen ihrer Ahnungslosigkeit. Wenn ich so dissoziiere, hab ich keine Kontrolle über meinen Körper. Wenn ich wieder zu mir komme, brauche ich ne ganze Weile, bis ich wieder alles bewegen kann. Hände und Beine sind da wie gelähmt, das ist typisch. Manche Schwestern haben meine Finger oder Füße bewegt. Durch Kühlakkus kommt Gefühl zurück.
Eine Mitpatientin hat eine andere Form der Dissoziation. Keiner darf sie anfassen, bis auf eine Ärztin und eine Schwester, sonst fällt sie um und ist weg. In der Gruppentherapie fällt sie immer wieder vom Stuhl, knallt dann richtig auf den Boden, ungebremst. Aber sie versteht dich auch. Wenn sie wieder zu Bewusstsein kommt, krampft sie, es schüttelt sie, sie knallt mit dem Kopf irgendwo dagegen. Da muss man dann schnell was zum Polstern haben. Sie kann dann länger nicht laufen, hat Schmerzen durch den Krampf. Ich hoffe, dass das nicht so wird bei mir. Die Ärztin sagte, am Anfang ist Dissoziation milde, kann dann schlimmer werden.“
„Sie haben noch Freunde?!“, fragte ihre Psychologin überrascht nach einigen Monaten. Normalerweise würden sich in dieser Phase die sozialen Kontakte stark ausdünnen. Die Selbstverletzungen gerieten in immer mehr Phasen außer Kontrolle, konnten sich dann für einige Zeit legen, bis es wieder suchtartig und nahezu unkontrollierbar wurde.
Stress bekämpfte sie u.a. mit Zucker, was ihr Übergewicht verstärkte. Der Blick in den Spiegel wurde dadurch noch mehr zum Verzweifeln. Als ich in dieser Zeit die Meinung einer Influencerin las, dass Übergewichtige an den Folgekosten beteiligt werden sollten, wenn es keinen medizinischen Grund gibt, wusste ich nicht, was ich denken sollte. Diese Frau hatte selbst mit Magersucht zu kämpfen. Warum sie diese Erkrankung hatte, dürfte ihr in einer ihrer sicher stattgefundenen Therapien klargeworden sein. Warum ging sie dann davon aus, dass Esssucht entweder etwas Organisches als Ursache haben muss und wenn nicht, dann ist das einfach nur fehlender Wille?! Ich konnte es nur darauf schieben, dass diese Influencerin einmal mehr nach jener Aufmerksamkeit aus war, die sie in ihrer Kindheit vermisste und zu ihrer Magersucht geführt hatte. Aber vielleicht ist es bei ihr ja einfach nur ein medizinisches Problem. Über Selbstzweifel könnte sie sich aber ganz sicher mit Meggie unterhalten. Bei dieser waren die Zweifel schon vor dem Wachwerden der Bilder Stammgast und wurden nun nicht weniger.
In der Klinik war unter Therapeuten und Patienten vom inneren Kritiker oder Richter die Rede, der einem ständig in den Ohren liegt, was mit einem alles nicht stimmt. Meggie hatte keinen Kritiker oder Richter in sich, sondern einen Henker. Ohne langen oder kurzen Prozess stand das Urteil immer schon fest: „Schuldig!“ Auch jetzt, wo sie wusste, dass sie Null schuld an ihrer Schieflage hatte, bekam sie keine mildernden Umstände. Schuldig, schuldig, schuldig. Nichts wert. Gegen Suizidumsetzungen musste sie sich immer mehr wehren, Versuche gab es.
Ich war schon bei Hanna, der Frau mit dem Unfall, nicht gut darin, einem Menschen mit Suizidgedanken zu erklären, dass sich das Leben aus diesem oder jenem Grund doch lohnt. Wenn ein Mensch derart leidet und immer mehr leidet, bringe ich es nicht übers Herz, zu sagen: „Aber guck mal, heute ist es sonnig und da vorn gibts Eis!“ Vor allem bringe ich solche Durchhalteparolen nicht über die Lippen, wenn ich sehe, wie mit Menschen dicht am Abgrund umgegangen wird. Das, was wir als Gesellschaft bezeichnen, ist unglaublich gut darin geübt, sich empathisch, solidarisch, bunt, ökologisch, weltoffen, gutmenschelnd zu präsentieren. Seltsamerweise bin ich noch keinem Menschen begegnet, der das Leben lieber hinter sich gehabt und gesagt hätte: „Aber ich fühle mich so gut aufgehoben unter meinen Mitmenschen, dass ich bleiben will.“
Viel mehr erlebte ich bei diesen Menschen, wie sie von Behörden – möglichst in Gendersprache – mit Papierbergen zugeschüttet wurden. Wie sie von Kranken-, Rentenkassen und Versicherungen unter sehr einfühlsamen Firmenslogans hin- und hergeschickt wurden nach dem Motto: „Wir wollen nicht zahlen, sollen die anderen machen! Wie Sie bis dahin über die Runden kommen?! Nicht unser Problem.“ Seltsamerweise fühlen sich dann Menschen nah am Abgrund genau wie psychisch Erkrankte ohne Suizidabsichten überflüssig, hilflos, entkräftet, ernüchtert, enttäuscht, einsam. Und ich soll unter solchen Umständen Meggie sagen: „Ach, das Leben kann doch schön sein. Jetzt gehst du halt paar Jahre durchs tiefste aller Täler, aber danach wird bestimmt die Sonne scheinen“?! Nee, das kann ich nicht.
Der Satz „Verdrängen heißt nicht vergessen“ stammt von einer Frau, die ich 2011 online kennengelernt hatte und die mich aus meinem Schildkrötenpanzer holte. Sie war die erste Frau in meinem Leben, bei der ich mich als Mann wahrgenommen fühlte, nicht als der Typ, der so gut zuhören kann. Wir schrieben viel über Gott und die Welt, über die Einschläge, die es auch bei ihr reichlich gab.
Wir kannten uns ca. ein Jahr, als sie mir schrieb, dass da noch „ein Hammer“ sei, bei dem sie überlegt, ob sie mir davon schreibt. Ich reagierte mit einem lachenden „Oh je“ und wartete gespannt, was da kommt. Das Lachen verschwand ganz schnell, als sie den Hammer auspackte: Missbrauch mit 10, 11 Jahren. Also so ziemlich im gleichen Alter wie Meggie. Während Meggie sich mit Partnerschaften sehr schwer tat, war die Frau, die mich wachgeküsst hatte, verheiratet mit zwei Kindern.
Doch von Normalität konnte auch bei ihr nicht die Rede sein. Ihr Mann hatte in meinen Augen narzisstische Züge, was sie selbst nicht so sah. Übergewicht, vor allem durch reichlich Eis essen, war auch bei ihr Thema. Auf schwierige Lebensphasen reagierte sie mit Flucht in die Arme anderer Männer. Kurz nach dem völlig überraschenden Tod ihres Mannes ging sie auf Flirtversuche eines anderen ein, der sein Glück schon ein Jahr lang versucht hatte, als der Ehemann noch lebte. Bis dahin hatte sie die Nase über Frauen gerümpft, von denen ich ihr erzählte und die immer wieder neue Partner haben mussten: „Wie kann eine Frau denn bitte so verzweifelt sein?!“
Nach dem Tod ihres Mannes legte ich ihr dringendst ans Herz, zu einem Psychologen zu gehen. Neben dem Missbrauch im Kindesalter gravierte sich der frühere Tod ihres Vaters und der Suizid eines Freundes nach der Trennung in ihren Lebenslauf, zu dem Zeitpunkt war sie 20. Ihre Tochter verhielt sich als Kind aus meiner Sicht sehr auffällig, immer wieder gab es massive Wutausbrüche. Wenn Eltern ihre Traumata nicht bearbeiten, werden die Kinder meist zu den Erben dieser Einschnitte auf irgendeine Weise. Bücher über vererbte Traumata gibt es.
Vor allem zum Wohle ihrer Kinder legte ich ihr den Gang zum Psychologen ans Herz. Den Tod ihres Mannes hatte sie mitverfolgen müssen, Geräusche der Wiederbelebungsversuche blieben in ihrem Ohr – das nächste Trauma war perfekt. Als sie mir 9 Monate nach dem Tod ihres Mannes schrieb, sie werde nicht zum Psychologen gehen und der neue Mann werde im kommenden Jahr bei ihr einziehen, beendete ich den Kontakt. Für mich war es, als hätte ich zugucken sollen, wie ein Betrunkener ins Auto steigt mit den Worten: „Ich fahre jetzt mal schnell durch diese kurvige Allee.“ Klar, das kann gutgehen. Aber mir ging es zu dem Zeitpunkt schon körperlich mies und ich wollte nicht warten, was diese Fahrt bringt.
Als ich nun bei Meggie das Ende der unabsichtlichen Verdrängung erlebte und diese anhaltende Talfahrt, fragte ich mich, ob es nicht doch besser ist, wenn die alten Bilder im Archiv hinter Stahltüren bleiben. Ich sah keinen Nutzen für Meggie und verstand nicht, warum die Bilder gerade ab unserer Begegnung in der Klinik wach wurden. Bei Claire war es die Begegnung mit dem vermeintlichen Täter, der alles wachwerden ließ, aber bei Meggie schien es keinen Trigger zu geben, der den Staudamm zum Brechen brachte.
Ihre Psychologin sagte, dass die Psyche es wohl jetzt für den richtigen Zeitpunkt hält. Aber auch das leuchtete mir nicht ein. Meggie war nicht kraftstrotzend mit überflüssiger Energie in die Klinik eingerückt. Da gab es keine Reserven, um mit ihnen einfach mal für paar Wochen ein Trauma anzugehen. Meggie hatte das, was ihr mit 10 passiert war, überlebt. Die Psyche hätte doch sagen können: „Ja, das war Scheiße, aber seitdem ist nichts mehr passiert, also lass uns das Leben ab heute genießen.“ Nein, das Bild musste raus, es musste zum Film werden mit allen Details. Wozu?
Zu meinem Erstaunen sah und sieht Meggie das Ende der nie beabsichtigten Verdrängung als notwendiges Übel an, auch nach einem Jahr. Sie sagt nicht: „Ach wäre doch alles wie in den Tagen, bevor das Bild deutlicher wurde.“ Klar, wirklich gut ging es ihr auch da schon nicht, von normalem Leben war sie ein ordentliches Stück weit weg.
Wir waren und sind uns einig, dass das Trauma nie verarbeitet sein wird im Sinne von „Da ist jetzt alles tippitoppi.“ Traumata sind nicht heilbar, sie können nicht aus dem Lebenslauf radiert werden. Die Narbe wird immer da sein. Für Meggie geht es um eine Bearbeitung, um eines Tages von den stärksten Folgen befreit sein zu können. Es wird auch dann immer wieder Momente geben, in denen sie sich seltsam verhält, weil da ein Gesicht auftaucht, ein Geruch, ein Wort. Doch es wird sie nicht mehr so lange und heftig aus der Bahn werfen – hoffentlich.
Wer auch immer mit gut gemeinten Ratschlägen zu Meggie kommt, der sollte zuvor eintausend Mal Danke sagen, nicht in ihrer Lage zu sein.
Ihr Wunsch, eines Tages Mutter zu sein, ist wohl ihre stärkste Versicherung vor einem selbstgewählten Tod. Ob diese Versicherung ewig hält, bleibt abzuwarten. So, wie die „Gesellschaft“ mit ihr umgeht, würde ich nicht mein bisschen verbliebenes Geld darauf wetten. Im Frühjahr ´24 war sie wieder in der Klinik, so wie sie es nun in regelmäßigen Abständen sein wird. Versprochen wurde ihr ein Einzelzimmer, weil sie eben inzwischen nicht mehr mit anderen im gleichen Raum schlafen kann. Gelandet ist sie in einem Zweibettzimmer. Sie solle so versuchen, ihre Ängste zu überwinden. Dabei mangelt es Meggie nicht an innerem, hochgradigem Dauerstress. Jede Minute Schlaf würde ein Krümel Hilfe sein. Doch so wanderte sie eben nachts über den Flur mit innerer Panik, versuchte mit der Zeit, auch im Zimmer zu bleiben, der Puls hoch.
Versprochen wurden ihr 12 Wochen Aufenthalt. Kurz vor Ablauf der achten Woche wurde ihr der Entlasstermin für den übernächsten Tag mitgeteilt, für Meggie ein weiterer Schlag gegen den Kopf. Einige Schwestern zeigten sich absolut einfühlsam in Meggies Ausnahmezustand, andere Schwestern schienen Spaß daran zu haben, mit der Bombe zu spielen.
Ein Gutachten zu einer von Ärzteseite klar verpfuschten Rücken-OP mit drastischen Folgen fiel zugunsten der Klinik aus, der Prozess sollte eingestellt werden. Ein Mensch, der in seiner Kindheit großes Unrecht erfahren musste, erfährt als Erwachsene großes Unrecht wegen Geld – genau so macht man Menschen kaputt, jagt sie auf Brücken. Nein, einfach macht man es Meggie nicht.
„100% aller psychisch Erkrankten haben Wut in sich.“ Das sagte eine Psychologin, von der mir erzählt worden war. „Die meisten kommen aber nicht an diese Wut ran.“ Unterdrückte Gefühle waren auch Thema während meines Klinikaufenthalts. Vor allem bei Trauer und Wut reagierte mein Körper deutlich, dazu ein hohes Maß an Ungerechtigkeitsempfinden. Meggie kann die Wut nicht rauslassen, die auch in ihr kocht. Sie kann nicht in den Wald gehen und schreien, in der Klinik hatte sie es mit einem Therapeuten versucht, aber sich nicht getraut. Und ich merkte bei mir, dass man Energie braucht, um Wut rauslassen zu können. Energie dafür hat aber aber weder sie noch ich. Wenn überhaupt, dann richtet Meggie auch die Wut gegen sich selbst.
Nur ein Ventil scheint für sie greifbar, angeboten von Rechtspopulisten. Eine Partei, in deren Wahlprogramm psychisch Erkrankte nur vorkommen, wenn es um importierte Messerstecher geht. Eine Partei, in der Meggie am wenigsten Verständnis finden würde für ihre Problematik – von anderen Parteien wäre allerdings nicht haufenweise mehr Einfühlungsvermögen zu erwarten. Macht das Sinn? So wenig wie Selbstverletzungen – aber alles hat einen Grund. Auch das Rauslassen von Wut ist selten ein mit Vernunft verbundener Akt. Wer Parteien entzaubern will, die von Wut/Hass auf andere leben, muss dafür sorgen, dass Kinder psychisch gesund ihr Elternhaus verlassen können.
„Ich hoffe, dass wir in paar Jahren sagen können: War das eine irre Zeit damals …“, schrieb ich Meggie ein Jahr nach unserer ersten Begegnung. „Damals haben wir Flaschen drehen gespielt mit ziemlich eindeutigen Fragen und du warst mit dabei. Heute würdest du wohl nicht mitmachen, oder?“
„Nein.“
Ihr Leben hat sich extrem verändert – dabei ist ihr in diesen 12 Monaten nichts Dramatisches passiert. Nur ein 20 Jahre altes Bild wurde wach. Nur.
„Nach so vielen Jahren musst du das doch abhaken können?!“ Wer das sagt, sollte nach den Einschlägen in der eigenen Kindheit Ausschau halten und den roten Faden zu heutigen, seltsamen Verhaltensweisen suchen. Sie sind ganz sicher da. Jede psychische Erkrankung entsteht durch einen Einschlag in der Kindheit. Das braucht nicht Missbrauch sein, auch nicht andere Formen von Gewalt, kein Einsperren im Keller.
„Haben Ihre Mutter und Ihr Vater die Bedürfnisse nach Zuneigung, Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung erfüllt?“, so ist das Grundprinzip jeder Therapie. Stell dir diese Frage selbst, suche nach der Antwort. Wenn sie „Nein, meine Mutter/mein Vater waren nicht da für mich“ lautet, dann wirst du auch den roten Faden finden können, der aus deinem Kinderzimmer hin zu deinen heutigen „Special Effects“, also deinen Eigenheiten führt. Deinen Schuldgefühlen, deinen Schamgefühlen, deinen Ich-bin-nichts-wert-Gefühlen, deinen Ängsten, deiner Wut, deinem Hass, deinem Drang nach Aufmerksamkeit, deiner toxischen Beziehung, deinem Narzissmus, deiner Sucht, deinen Depressionen, deinem Borderline, deiner bipolaren Störung. Du kannst nichts davon einfach mal abhaken und damit nicht das, was in deiner Kindheit passiert ist.
Und stell dir die Frage: Wie hättest du ohne Verletzungen dein Kinderzimmer verlassen können? Was wäre dazu nötig gewesen, ganz praktisch? Die Antwort darauf würde dir sagen, was du heute selbst machen solltest, wenn du Kinder hast oder welche planst. Und wenn deine Antwort einfach nur lautet: „Ich hätte die Anerkennung von Mum/Dad gebraucht“, dann frage dich, ob deine Eltern einen Schalter hatten, mit dem man Empathie, Fürsorge, Zuneigung, Liebe ein- und ausschalten kann. Lautet die Antwort darauf „Nein, den Schalter gab es nicht“, dann suche weiter nach einer wirklich praktischen Antwort. Wenn diese anders ausfällt als „Sie hätten zum Psychologen gemusst, um ihre eigenen Verletzungen/Traumata zu bearbeiten“, dann lass es mich bitte wissen. Bis dahin bleibt meine einzige Lösung: Sie hätten das machen müssen, was Meggie macht.
Ich schreibe für mein Leben gern, der Umgang mit Worten erzeugt ein gutes Gefühl in meinem Hirn. Nur würde ich viel lieber Geschichten schreiben voller knisternder Erotik zwischen Menschen auf Augenhöhe, ohne Abhängigkeiten aus Kindheitsenttäuschungen. Das Verherrlichen toxischer Beziehungen inklusive wundersamer Selbstheilung von Narzissten wirst du von mir niemals lesen, auch nicht in 50 Schattierungen von Grau. Ich würde gern Geschichten schreiben zum Schieflachen. Geschichten über Paralleluniversen, wo mein Parallel-Ich ohne Hasenpfote doch noch die Frau aus der Klinik bekommt und mit ihr zu zweit Flaschen drehen spielt. Geschichten über die Leichtigkeit des Daseins. Aber Meggie existiert und ihre Geschichte ist die Geschichte vieler Menschen, für die sich kein Schwein interessiert und deren Leben ein Gang auf Messerspitzen ist.
„Kann es sein, dass Sie Frauen retten wollen?“, fragte mich meine Psychologin. So, wie sie es mir erklärte, klang es nachvollziehbar: „Sie haben in Ihrer Kindheit eine schwache Frau – Ihre Mutter – erlebt, die unter einem despotischen Mann – Ihrem Vater – zu leiden hatte. Eigentlich hätte Ihre Mutter SIE retten müssen, aber als Kind glaubten Sie, dass Sie Ihre Mutter beschützen müssten. Und deshalb kümmern Sie sich heute so um Frauen, vergessen sich dabei aber selbst völlig und sind dadurch so im Arsch.“
So plausibel das klang, bin ich inzwischen etwas anderer Ansicht. Ich möchte nicht Frauen retten, sondern Kinder davor bewahren, den gleichen Scheiß durchmachen zu müssen wie ich und wie andere. Bei erwachsenen Frauen, die gerettet werden müssten, ist das Kind ja schon längst im Brunnen gelandet, sie hätten genauso wie ich als Kind andere Umstände gebraucht, um heil das Kinderzimmer verlassen zu können.
Und wann immer sich heute Prominente, die einzig und allein nach Aufmerksamkeit zu gieren scheinen, mit Babys zeigen, überkommt mich starkes Mitleid mit diesen Kindern. Genauso geht es mir mit Kindern, die in vergifteten Beziehungen geboren werden. In meiner Kindheit gab es den Begriff „toxische Beziehung“ noch lange nicht, aber er trifft auf meine Eltern absolut zu. Eine Beziehung weit weg von Augenhöhe. Ich weiß, wie es sich als Kind in einem solchen Klima lebt und wie laut das Echo ist weit in die Zeit des Daseins als Erwachsener.
Aus Opfern werden Täter. Auch das sollten uns die Geschichten real existierender Menschen lehren. Dazu brauche ich mir nur die Geschichte meines Vaters ins Gedächtnis rufen. Wer keine Opfer will, muss dafür sorgen, dass es keine Täter gibt. Warum fing Meggie mit ca. 12 an, andere zu mobben, zwei Jahre nach dem Missbrauch? Einfach nur Pubertät? Oder musste die erlittene Verletzung „raus“, die Wut? Wollte sie hart sein, um nicht selbst wieder verletzt zu werden?
Wenn Meggie ihre Trauma-Bearbeitung überlebt, wird sie – hoffentlich – keinen Partner brauchen, der ihren schwachen Selbstwert schamlos ausnutzt, was das Markenzeichen toxischer Beziehungen ist. Meggie wird – hoffentlich – den inneren Henker los und ihn durch einen Berater ersetzen, der ihr Tipps ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit gibt. Die Selbstverletzungen werden verschwinden – hoffentlich restlos. Mit dem Abschied vom Henker wird sie – hoffentlich – weniger Zucker brauchen, weil weniger Stress anfällt. Sie wird abnehmen, der Blick in den Spiegel wird angenehmer. Sie wird Komplimente annehmen können, wenn auch am Anfang dezente. Die langsame Veränderung wird ihr guttun, kleine Rückschläge nicht ausgeschlossen. Männer werden in ihr nicht mehr pauschal Angst auslösen. Ob jener, der heute sehr geduldig wartet, dann noch im Rennen sein wird, bleibt abzuwarten. So wie sie ihn beschreibt, scheint er zu den sehr wenigen Menschen (m/w/d) zu gehören, die beziehungstauglich auf Augenhöhe sind.
Wenn Meggie ihre Trauma-Bearbeitung überlebt und eine Beziehung auf Augenhöhe eingehen kann, wird sie deutlich weniger Ballast an ein eigenes Kind vererben und dem Kind ein angenehmes, giftfreies Kinderzimmer bieten können. Die Gefahr, dass dieses Kind eines Tages Täter wird, wäre deutlich geringer – z.B. ein Täter wie der an Meggie. Sie hat in ihrer Hand, ob ein Erbe ihrer Geschichte irgendwann jemandem etwas Ähnliches antut wie ihr angetan wurde. Würde jeder seine Traumata bzw. schmerzhaften Erfahrungen aus der Kindheit bearbeiten unter professioneller Hilfe, anstatt sie der nächsten Generation in die Wiege zu werfen, sähe die Welt deutlich anders aus. Eigentlich sollten wir heilfroh sein, dass Meggie sich das antut. Eigentlich. Und eigentlich sollten wir ihr auf diesem Weg sämtliche Steine wegräumen, anstatt neue hinzuschmeißen. Eigentlich.
Den Blick hinter die Gardinen mit 80 weiteren Biografiesplittern gibt es in meinem Buch:
Wer Menschen verstehen will, muss ihnen zuhören, sie beobachten, hinter die Fassade schauen: Warum heiraten wir? Sind Frauen von Natur aus gute Mütter? Was erlebt man bei der Partnersuche? Wem verdanken Elon Musk und Kanye West ihre Erfolge? Was treibt andere Prominente an – und was ist dein eigener Antrieb? Fallen psychische Erkrankungen vom Himmel? Warum steht jemand 5 Stunden unter der Dusche? Wieso glaubt Käpt´n Crazy, die Chinesen würden kommen? Sind Krankenhäuser tatsächlich Hurenhäuser? Warum verheimlicht eine 50-Jährige, dass ihr Vater soff?
Mit den Antworten auf diese Fragen wird unerklärliches Verhalten entzaubert. Kein Hashtag, kein Gendern und keine Kampagne wird diese Welt retten können. Erst wenn wir einsehen, wie wir ticken, kann sich etwas verändern. Komm mit auf eine Reise, die Dich verändern wird!
Das Buch gibt es bei bod.de, bei Amazon, genauso bei allen anderen Onlinehändlern. Du kannst aber auch beim Buchhändler um die Ecke danach fragen. Die ISBN: 9783 7557 0721 9. (Da sich bisher kein Verlag interessiert hat, werden keine Exemplare zum Mitnehmen rumliegen, deshalb bitte vorerst direkt im Laden bestellen.)
Sophie lebt – und ist tot. Was besser ist für sie? Ich weiß es nicht.
„Da war nichts.“ Meggie hatte eine schöne Kindheit, dennoch geht es ihr schlecht. Warum?! Dann erwacht der Elefant.
„Ich habe mich gefreut, wenn Papa fünf Minuten Zeit für mich hatte.“ Jens hat den Arbeitseifer seines Vaters geerbt und wird in sechs Jahren sterben.
Elon Musk, Kanye West, Mel Gibson – denen ist doch allen der Erfolg zu Kopf gestiegen! Die spinnen doch einfach nur! Willst du mit ihnen tauschen?
„Warum hat er mich nicht lieb? Bin ich einfach ein Nichts?“ Diese Fragen stellt sich Katis jüngerer Sohn und denkt dabei an seinen Vater.
Suizid kann Freiheit bedeuten. 2020 hat Ulli die erste freie Entscheidung seines Lebens getroffen. Dieser Neubeginn bedeutete seine Freiheit. Und sein Ende.
Saskia gibt mit Ü40 die Hoffnung nicht auf, von ihrer Mum ein nettes Wort für ihr Dasein zu hören. Bettina bekam mit 20 ein Kind, um ihrem Elternhaus zu entkommen – und lebt seitdem in den gleichen Verhältnissen.
Natascha Kampusch als Hassobjekt?! Das macht keinen Sinn – doch beim Zuhören erklärt sich auch beim Thema Hass, wie sich unsere „Special Effects“ entwickeln.
Annie ist 16, 1,70 m, 40 kg. Ihr Vater versteht nicht, warum sie nicht einfach mehr isst. Er selbst steckt jeden Monat 500 Euro in sein Onlinespiel. Annies Mutter vermeidet Diskussionen mit ihm über ihr Rauchen. Verstehen des jeweils anderen? Fehlanzeige.
Die einen waschen ihre Firma grün, die anderen leben beim Yoga ihren Narzissmus aus. Was steckt hinter dem Gendern?
Wer Frauen sichtbar machen will, muss das komplette Bild ins Scheinwerferlicht rücken – auch die Schattenseiten.
Wo in der Geschichte sind die ganz konkreten Beispiele dafür, dass Appelle an die Vernunft etwas zum Guten verändern? Mein Vater kann nicht gemeint sein.
Über Tote sagt man nichts Schlechtes. Wenn dir also nichts Positives einfällt, dann musst du schweigen. Doch jedes Leben erzählt eine Geschichte.
Knapp 18 Mio. Menschen werden pro Jahr wegen psychischer Erkrankungen behandelt. So etwas können Parteien doch nicht ignorieren, oder?
Frage: Was muss passieren, damit diese Welt weniger verrückt ist? Antwort: Wir müssen zuhören lernen. Oder wir verbieten das Kinderkriegen.
Jochen wäre fast ertrunken, der Vater zerrte ihn wieder ins Wasser. Opfer und Täter, weiß und schwarz. Doch ist es wirklich so einfach?
Du weißt, wie wahre Liebesgeschichten beginnen. Dies sind einige von ihnen.
Und wieder glauben wir, Erwachsene umerziehen zu können – und wieder haben wir nichts aus der Geschichte gelernt.
Er verfolgt dich, er bespitzelt dich, er glaubt dir nicht, du machst Schluss mit ihm. 10 Jahre später sitzt du mit ihm und euren beiden Kindern am Frühstückstisch.
In dieser Welt passiert vieles, was aufgedeckt gehört. Gibt es jedoch zu einem Ereignis 101 unterschiedliche Wahrheiten, dann werde ich nachdenklich.
Die Welt wird von einer unsichtbaren Macht geleitet – sagen nicht nur Verschwörungsanhänger, sondern Milliarden Menschen.
Er baut den Keller zur Wohnung um, weil die Chinesen kommen. Sie spricht vom Angriff der Roboter. Wenn du ihre Geschichten kennst, wirst du sie verstehen.
„Als ich Krebs hatte, bekam ich Mitleid, Zuspruch und Unterstützung. Als Depressionskranke war ich immer die faule Sau.“
Stille ist Luxus. Im Wald kannst du sie finden, kannst nackt herumrennen. Doch nun weicht die Stille der Sprachlosigkeit.
Als Robert Enke durch Suizid starb, herrschte große Trauer. Doch längst jagen wir seine Nachfolger Richtung Abgrund.
1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
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„Hi. Kann ich mich zu dir setzen?“
„Okay.“
„Was machst du hier?“
„Ich warte auf Post.“
„Oh, dann ist es wohl was Wichtiges.“
„Kann man so sagen.“
„Ein Liebesbrief?“
„Post von Papa.“
„Ah, cool. Schreibt er oft?“
„Nein.“
„Aber er hat dir Bescheid gegeben, dass er schreibt?“
„Nein.“
„Oh. Wie lange wartest du schon?“
„Hmm … Seit ich Kind war.“
„Autsch. Dann hast du wohl viel Geduld.“
„Eigentlich nicht.“
„Was macht dich optimistisch, dass er noch schreibt?“
„Naja … Er ist mein Papa.“
„Verstehe. Kann er schreiben?“
„Was?!“
„Naja, kann ja sein, dass er gar nicht schreiben kann und du wartest und wartest und hoffst. Du siehst nicht wirklich glücklich aus.“
„Hmm …“
„Eigentlich könnten wir hier zusammen warten auf Post von unseren Vätern. Seltsamerweise habe ich nie auf einen Brief von meinem gewartet. Ich hab glaube schon als Kind eingesehen, dass er nicht schreiben kann. Seit paar Jahren weiß ich auch warum. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, seine Mutter ging viel arbeiten und hatte kaum Zeit übrig – und auch nicht wirklich viel Liebe für ihre Kinder. Mein Vater hat dadurch nicht gelernt, wie man schreibt. Ich verstehe, dass ich nie Post von ihm bekam – was nicht heißt, dass ich Verständnis dafür habe im Sinne von Sein Verhalten entschuldigen.“
„Und was hast du davon?“
„Naja, ich denke, es hat mich frei gemacht.“
„Wie das?“
„Ich kann rumsitzen, ohne auf etwas zu warten. Ich hatte 20 Jahre keinen Kontakt zu ihm, hab ihn dann wiedergesehen und gemerkt, dass er sich Null geändert hat. Er hätte nicht mal ansatzweise verstanden, wieso ich mir Post von ihm gewünscht hätte, wieso das wichtig sein soll. Und so läuft das bei so ziemlich allen Menschen. Wir lernen das Schreiben nicht, nur weil wir älter werden. Und wir lernen auch nicht einfach so, wie wichtig es ist, seinen Kindern mal zu schreiben – selbst wenn uns selbst ein Brief als Kind gutgetan hätte.“
„Hmm …“
„Was würde passieren, wenn dein Vater doch noch schreibt?“
„Es wäre einfach schön.“
„Du hast doch sicher auch Post von anderen bekommen?!“
„Ja. Wobei …“
„Was?“
„Ich hab viel dafür getan, dass sie mir schreiben.“
„Zu viel?“
„Denke ja. Hat viel Energie gekostet.“
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“
„Hmm … Nicht wirklich.“
„Weiß dein Vater, dass du wartest? Also hast du ihm gegenüber auch viel getan, damit er doch noch schreibt?“
„Als Kind ja. Hat aber nicht geholfen.“
„Wenn ich erraten könnte, was du dir in dem Brief zu lesen erhoffst und ich würde dir das ehrlichen Herzens so schreiben: Würde das Sinn für dich machen?“
„Wie meinst du das?“
„Du hast dir die Briefe, die du bisher bekommen hast, immer hart erarbeitet. Wenn dann jemand von sich aus Ähnliches schreibt, ohne dass du vorher die Welt aus den Angeln heben brauchst: Würde dir das was geben?“
„Gute Frage …“
„Oder würde eine Stimme in dir sagen: Nee, nee, du hast so einen Brief gar nicht verdient, wenn du dir vorher nicht den Allerwertesten aufreißt?“
„Hmm …“
„Sorry für die vielen Fragen, ich geh wohl lieber wieder, will dich nicht nerven. Ciao.“
„Moment. Würdest du mir schreiben?“
„Klar. Aber nur, wenn du eine Sache machst.“
„Hmm, okay.“
„Du reißt dir nicht den Allerwertesten auf dafür.“
„Du bist doof.“
„Und du kannst ganz gut lächeln.“
Wenn du Gefühle nicht mehr aushältst, leg einen Sarkophag darüber. Doch was, wenn der bricht?
Du wartest. Und wartest. Das Warten tut dir weh, dennoch wartest du weiter.
Jeder hat so sein Päckchen zu tragen – für mich ein furchtbarer Spruch. Ich sehe dabei immer ein Schulterzucken, als wäre es ein Naturgesetz, dass jede Generation der nächsten Steine in den Rucksack packt.
Was macht dich glücklich, mein Kind? Was fehlt dir? Was hast du damals vermisst, was willst du heute nachholen? Würde es mir damit besser gehen?
Du trägst mich auf deinen Schultern durch gute und schlechte Zeiten. Wir haben keine Liebesbeziehung, sind eine Zweckgemeinschaft mit gewissen Vorzügen.
In mitten des Ozeans sinkt nach heftigen Stürmen ein Boot ganz langsam. Der Mann darin ist erschöpft, er bekommt den Kahn einfach nicht mehr leer, so sehr er sich bemüht. Ein zweites Boot nähert sich, der Mann schöpft Hoffnung – Rettung in Sicht nach langer Zeit. Der andere Mann kommt immer näher, grüßt kurz, schaut: […]
Über Tote sagt man nichts Schlechtes. Wenn dir also nichts Positives einfällt, dann musst du schweigen. Doch jedes Leben erzählt eine Geschichte.
Du weißt, wie wahre Liebesgeschichten beginnen. Dies sind einige von ihnen.
Würdest du das kleine Mädchen, das du einst warst, vor all den Scherben bewahren, durch das es laufen musste? Nein.
Stille ist Luxus. Im Wald kannst du sie finden, kannst nackt herumrennen. Doch nun weicht die Stille der Sprachlosigkeit.
Vor mir liegt ein Stein. Kein kleiner Kiesel. Er lässt mich nicht vorwärts kommen – oder schützt er mich?
Wir hatten es selten leicht miteinander, du und ich. Von Liebesbeziehung konnte kaum die Rede sein, mein liebes Leben.
Wenn dein Ego nie wachsen konnte, ist es dir eben egal, wie ehrlich ein „Ich liebe dich“ ist. Hauptsache, du bekommst es zu hören.
„Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten nach unten, als sie in ihrer Freude die Hände noch oben riss.
Er sah ihre Narben am Handgelenk …“ – Wie geht es wohl weiter?
„Wie konnte sie nur? Ja, ihr ging es dreckig, aber was sollten wir denn machen? Mein tiefempfundenes Beileid. Sag´ Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt muss ich erstmal los.“
Im dunklen Wasser des kleinen Sees versinken Nachtgedanken, heißt es. Doch aus ihm können auch zauberhafte Wesen steigen.
Ich hab´s geschafft: Ich bin tot. Endlich kann ich machen, was mir Freude am Leben gibt.
Jeder Mensch hat zwei Ohren. Nur was wir damit anfangen, ist recht unterschiedlich. Umso erleichternder ist es in Krisenzeiten, wenn du jemanden findest, der zuhören kann. In den letzten Jahren lernte ich, dass dies wohl meine Superkraft ist. Diese biete ich Dir hier an.
1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Seit Kindertagen trägst du ihn mit dir herum. Wer dir die Steine in den Rucksack legte, ist dir klar. Und wenn du sein Gesicht nicht erkennen kannst, dann weißt du immerhin, wodurch die Steine zu deinem Ballast wurden. Sie werden dir auch morgen aus dem Rucksack auf die Füße fallen und nicht weniger werden, nur weil ein neues Jahr beginnt, so schön es auch wäre.
Du wirst, wenn du es bisher so gemacht hast, die Schmerzen der aus deinem Rucksack fallenden Steine ertragen, weil diese Schmerzen nicht so schlimm sind, als wenn du den Rucksack abnehmen, ihn dir anschauen würdest mit der Frage, wie genau er auf deinen Rücken kam. Wenn du Glück hast, wird deine Verdrängung dich lebenslänglich begleiten – wobei du nicht wirklich glücklich sein kannst, weil du über die Steine, die dir auf die Füße fallen, immer wieder stolperst, sie deinen Weg in Richtungen bewegen, auf denen neue Schmerzen warten. Wenn du Pech hast, wird dir der Rucksack aus dem scheinbaren Nichts irgendwann vom Rücken gerissen, dir vor die Augen geworfen. Die Bilder, wie er auf deinen Rücken kam, werden wach und die Schmerzen sind ungleich größer, als die der fallenden Steine. Dieses Pech muss jedoch nicht das Ende des Weges sein, sondern kann der Beginn eines neuen werden.
Oder du kehrst immer wieder zu jenen Menschen zurück, die dir in deiner Kindheit die Steine in den Rucksack schmissen. Du hoffst, dass sie sich verändern, dir Steine abnehmen, dir beim Tragen helfen – doch du verlässt jedes Mal ihr Haus mit neuen Steinen.
Oder dich hat ein riesiger Stein erwischt, du musstest all deine Energie aufbrauchen, um ihn von dir rollen zu können und jetzt fehlt sie dir, um den Rucksack aus der Kindheit wie zuvor tragen zu können. Das Gewicht zwingt dich in die wackligen Knie, du kannst die Füße kaum heben, um große Schritte über die aus dem Rucksack fallenden Steine zu machen.
Was auch immer der Rucksack mit dir macht: Fürs neue Jahr wünsche ich dir Menschen, die dir beim Tragen helfen, beim Weg über die Steine, beim Wegrollen selbiger. Menschen, die dir nicht erklären wollen, wie du zu laufen hast, wenn sie über ihre eigenen Steine ständig stolpern. Menschen, die deinen verlangsamten Gang nicht ausnutzen wollen für ihre ganz eigenen Zwecke. Menschen, in deren Hand du deine legst, weil du ihnen vertrauen kannst, dass sie dich beim Stolpern auffangen werden. Menschen, die dir nicht deren eigene Steine vor deine Füße schmeißen. Menschen, die mit dir Steine bemalen oder sie zu kleinen Kieseln zermahlen, so dass der Weg leichter wird. Menschen, die da sind, wenn die Steine dich zu erschlagen drohen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Menschen, die das Tragen erträglicher machen.
Das wünsche ich mir selbst genauso.
Wenn du Gefühle nicht mehr aushältst, leg einen Sarkophag darüber. Doch was, wenn der bricht?
Du wartest. Und wartest. Das Warten tut dir weh, dennoch wartest du weiter.
Jeder hat so sein Päckchen zu tragen – für mich ein furchtbarer Spruch. Ich sehe dabei immer ein Schulterzucken, als wäre es ein Naturgesetz, dass jede Generation der nächsten Steine in den Rucksack packt.
Was macht dich glücklich, mein Kind? Was fehlt dir? Was hast du damals vermisst, was willst du heute nachholen? Würde es mir damit besser gehen?
Du trägst mich auf deinen Schultern durch gute und schlechte Zeiten. Wir haben keine Liebesbeziehung, sind eine Zweckgemeinschaft mit gewissen Vorzügen.
In mitten des Ozeans sinkt nach heftigen Stürmen ein Boot ganz langsam. Der Mann darin ist erschöpft, er bekommt den Kahn einfach nicht mehr leer, so sehr er sich bemüht. Ein zweites Boot nähert sich, der Mann schöpft Hoffnung – Rettung in Sicht nach langer Zeit. Der andere Mann kommt immer näher, grüßt kurz, schaut: […]
Über Tote sagt man nichts Schlechtes. Wenn dir also nichts Positives einfällt, dann musst du schweigen. Doch jedes Leben erzählt eine Geschichte.
Du weißt, wie wahre Liebesgeschichten beginnen. Dies sind einige von ihnen.
Würdest du das kleine Mädchen, das du einst warst, vor all den Scherben bewahren, durch das es laufen musste? Nein.
Stille ist Luxus. Im Wald kannst du sie finden, kannst nackt herumrennen. Doch nun weicht die Stille der Sprachlosigkeit.
Vor mir liegt ein Stein. Kein kleiner Kiesel. Er lässt mich nicht vorwärts kommen – oder schützt er mich?
Wir hatten es selten leicht miteinander, du und ich. Von Liebesbeziehung konnte kaum die Rede sein, mein liebes Leben.
Wenn dein Ego nie wachsen konnte, ist es dir eben egal, wie ehrlich ein „Ich liebe dich“ ist. Hauptsache, du bekommst es zu hören.
„Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten nach unten, als sie in ihrer Freude die Hände noch oben riss.
Er sah ihre Narben am Handgelenk …“ – Wie geht es wohl weiter?
„Wie konnte sie nur? Ja, ihr ging es dreckig, aber was sollten wir denn machen? Mein tiefempfundenes Beileid. Sag´ Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt muss ich erstmal los.“
Im dunklen Wasser des kleinen Sees versinken Nachtgedanken, heißt es. Doch aus ihm können auch zauberhafte Wesen steigen.
Ich hab´s geschafft: Ich bin tot. Endlich kann ich machen, was mir Freude am Leben gibt.
Jeder Mensch hat zwei Ohren. Nur was wir damit anfangen, ist recht unterschiedlich. Umso erleichternder ist es in Krisenzeiten, wenn du jemanden findest, der zuhören kann. In den letzten Jahren lernte ich, dass dies wohl meine Superkraft ist. Diese biete ich Dir hier an.
1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
„Na, Kleiner, wie gehts dir?“
Das Kind guckt mich neugierig an: „Wer bist du?“
„Das würdest du mir nicht glauben. Verrätst du mir, wie alt du bist?“
„Drei.“
„Und dein Name?“
„Thorben. Und deiner?“
„Ich heiße auch Thorben.“
Das Kind staunt still, zeigt dann die Straße entlang bergab: „Da fahren Züge!“
„Ich weiß. Siehst du gern Züge fahren?“
„Ja, die Dampfloks!“
„Die machen viel Rauch. Aber die sind auch laut, oder?“
„Ja, das mag ich nicht.“
„Ich weiß. Wir können ja hier warten, bis wieder ein Zug kommt. Oder wollen wir näher ran?“
Das Kind schaut mich an.
„Wenn du möchtest, nehm ich dich an die Hand und wenn es dir zu laut wird, halten wir dir die Ohren zu.“
„Aber nur ein Stück, ja?“
„Na klar.“
„Mein Papa macht das nicht.“
„Ich weiß.“
„Kennst du den?“
„Ja.“
„Wohnst du hier?“
„Ja, früher schon, als ich so alt war wie du und seit fast 20 Jahren auch wieder.“
„Kennst du meine Mutti auch?“
„Ja.“
Der Kleine grinst überrascht, ich lächle zurück.
„Da kommt ein Auto, wir gehen an den Rand. Weißt du, was das für eins ist?“
Der Kleine schüttelt den Kopf.
„Das ist ein Trabant. Und dort drüben … Wenn ich es richtig lesen kann, ist das ein Moskwitsch.“
Der Junge lacht.
„Komisches Wort, oder? Mooooskwiiitsch.“
„Moooskiiiitschhhh. Mein Papa hat auch ein Auto.“
„Weißt du, was für eins?“
„Ein grünes, aber so komisch.“
„Tschitscheringrün.“
Wieder lacht der Kleine.
Ich grinse zurück: „Ich weiß, aber die Farbe heißt wirklich so. Das ist ein EMW, den hat nicht jeder. Dein Opa hat auch so einen, oder?“
„Ja, der ist aber schwarz.“
„Hey, guck, die Schranken gehen runter. Siehst du dort oben in dem kleinen Haus den Mann? Der kurbelt sie runter und wenn der Zug durchgefahren ist, dann kurbelt er sie wieder hoch. Jetzt müssen wir glaube zehn Minuten warten, wenn ich es noch richtig weiß.“
„Sooo lange?“
Ich grinse: „Ja. Wir können ja nochmal die Straße hoch und runter laufen, wenn du willst.“
„Oder rennen! Mal sehn, wer schneller ist.“
„Rennen?! So hab ich dich nicht in Erinnerung. Aber fall nicht … Ach, renn einfach.“
„Bis da hoch!“
„Und du bist wirklich Thorben?!“
Lachend spurtet der Zwerg vor mir her.
Auf halber Strecke bleibt der Lockenkopf in seinem dunkelblauen Anorak stehen, dreht sich zu mir um, das Gesicht zeigt sich unbeschwert. Alles ist genau wie auf einem Bild aus meinem Fotoalbum. Mit 40 hatte ich es durchgeblättert und blieb an diesem Bild hängen. „Wo ist das Lachen hin?“, hatte ich mich gefragt. Schon bei dieser Frage war ich den Tränen nahe. „Wenn du wüsstest, wie die nächsten Jahre so werden“, hatte ich meinem jungen Ich in Gedanken zugeflüstert. Ich hatte mich nie depressiv gefühlt, aber als ich das Lachen dieses kleinen Jungen sah, fiel es mir schwer, ihn und mich zusammenzubringen. Ich fühlte Mitleid mit diesem Jungen, weil ich seine Zukunft kannte. Er würde in den nächsten Jahren sein so unbeschwertes Lachen verlieren. Es war, als hätte ich ihn vor seiner Zukunft warnen und beschützen wollen, war aber komplett hilflos, da seine Geschichte schon längst geschrieben war. Es waren noch viele andere Bilder in meinem Fotoalbum aus der Kindheit, aber nur dieses eine hatte diese Wirkung auf mich.
Der Junge rennt weiter, ich gebe mich geschlagen. Als ich ihn erreiche, fragt er mich, warum ich weine.
„Ach, nichts.“ Und in der nächsten Sekunde höre ich die Stimme in meinem Kopf: „Ah ja, du drückst also wieder Gefühle weg, die dann deinen Körper zerfressen. Schönes Vorbild.“ Aber soll ich diesem Kind erzählen, was alles passieren wird, ohne es vor all dem beschützen zu können?
„Kommt der Zug gleich?“
Ich wische meine Wangen trocken und biete dem Jungen meine Hand an: „Wir gehen einfach wieder zu den Schranken, die Dampflok hören wir ja schon von weitem.“
Seine kleine Hand greift zögernd nach meiner: „Papa macht das nicht.“
„Ich weiß. Aber du magst das auch nicht so sehr, oder?“
Er schaut mich ratlos an.
Ich grinse: „Na alles weiß ich auch nicht mehr über dich. Deine Mama sagt, dass du kein Kuschelkind bist. Aber vielleicht fängt das erst später an, dass du dir Küsse schnell von der Wange wischst und so.“
Sein Blick bleibt fragend.
„Okay, da kommen wir nicht weiter, kein Problem. Wobei mich schon interessieren würde, wann das angefangen hat und warum. Ob es Kinder gibt, die von Natur aus so distanziert zu ihren Eltern sind. Oder ob das was mit Vater zu tun hat, weil er dich so gut wie nie auf den Arm getragen hat, dich heute nicht in die Arme nimmt, streichelt usw. Ob es was damit zu tun hat, dass du nicht zu heulen hast. Oder darfst du weinen? Sagt der Papa dann was?“
Der Junge legt die Stirn in Falten und bleibt still.
„Sagt er nicht: Hier wird nicht geheult? Oder kommt das erst später?“
Die Antwort bleibt offen.
Wir stehen schweigend abseits der Schranke, von weitem ist der Zug zu hören. Der Junge lässt meine Hand los, hebt die Hände langsam hoch, Richtung Ohren. In der ersten Silvesternacht seines Lebens bekam er hohes Fieber durch die Knallerei draußen. Laute Geräusche wird er auch später als Erwachsener möglichst meiden. Bei nahen Gewittern wird er sich die Ohren zuhalten. Die lauten Geräusche, die er als Kind in den nächsten Jahren in der Wohnung hören wird ohne Feuerwerk und Donner, wird er nicht durch zugehaltene Ohren ausblenden können. Und er wird sich alleingelassen fühlen mit all seinen Ängsten. Sein Vater wird ihm nicht die Ohren zuhalten, ihn behutsam an etwas heranführen, was dem Kleinen unheimlich erscheint.
Der Zug rauscht vorbei. Die wuchtigen Stöße des Dampfkessels lassen die Luft vibrieren und ergreifen die Körper. Ich lege meinen Arm um den Jungen, der die Hände auf die Ohren presst. Seine Augen sind groß und lassen nicht erkennen, ob es Angst ist oder Neugier – und ob Stolz in ihm aufkommt, sich so nah herangetraut zu haben.
Die ersten drei Lebensjahre eines Kindes sind die wichtigsten. Wir kommen völlig hilflos auf die Welt und sind völlig abhängig von unseren Eltern. Sie müssen unsere sämtlichen Bedürfnisse erkennen und erfüllen. Wir können nicht über die Wiese laufen und uns ein paar Grashalme abpflücken, wenn wir Hunger haben. Wir können uns kein Fell wachsen lassen, dank dem wir nicht frieren. Wir können nicht sagen, was uns weh tut, was wir gerade brauchen, was uns quer liegt. In den Momenten können wir nur losheulen. Ignorieren unsere Eltern diese Hilferufe, weil es sie einfach nicht interessiert oder sie es nervt, beginnt das Lernen: Meine Bedürfnisse sind nicht wichtig. Wenn ich es kann, muss ich mich selbst darum kümmern. Wenn ich es nicht kann, bleiben sie unerfüllt, ob das Bedürfnis nach Fürsorge, Wärme, Zuneigung oder Anerkennung. Und nimmt dir niemand die Angst, bleibt sie dein treuer Begleiter.
„Na, alles gut?“
Der Zug steht am Bahnhof, weit genug entfernt, so dass der Junge seine Hände von den Ohren nehmen und mit dem Kopf nicken kann. Sein Gesicht sagt: Er ist glücklich.
„Guck mal, da kommt jemand.“
Ich drehe mich um, sehe einen Jungen mit glatten Haaren und Brille. Er läuft langsam, der Blick nach unten. Nur flüchtig sieht er zu uns auf, will die Straßenseite wechseln. Langsam gehe ich auf ihn zu, setze mein vertrauenerweckendstes Gesicht auf. Wieder versucht er, mir auszuweichen, also spreche ich ihn mit leiser Stimme an: „Du bist Thorben, nicht wahr?“
Er schaut mich an, seine Mimik verrät nichts, außer Unsicherheit. Ich gehe weiterhin langsam auf ihn zu: „Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich und den kleinen Mann hier kennen wir beide.“
Die Sonne kommt raus, die Temperatur klettert spürbar. An den Straßenrändern stellen sich die Grashalme auf, atmen ein sattes Grün ein, während Blumen zwischen den Halmen ihre Blüten nach oben recken. Die kahlen Bäume ziehen sich grüne Blätter im Übermaß an. Der Kleine fragt, ob er seinen Anorak ausziehen darf, ich helfe ihm. Als ein Marienkäfer auf seinem Arm landet, reagiert er ängstlich. Ich lege meinen Finger neben das Insekt, bis es auf ihn krabbelt: „Brauchst keine Angst zu haben. Marienkäfer können nicht wie Bienen stechen, es kitzelt nur, wenn sie auf dir laufen.“
Argwöhnisch schaut der Kleine, wie der Käfer weiter auf meine Hand wandert.
„Ängste …“, sage ich mit leiser Stimme zu dem älteren Jungen, der sich auch jetzt nichts anmerken lässt. Auch nicht, als ich murmele: „… kennen wir, was?“
Er bleibt still, seine Augen verfolgen den Kleinen, der ein Stück abseits herumläuft und die Blumen betrachtet.
„Wie gehts dir?“, frage ich den Älteren, in der Hoffnung, damit das Eis brechen zu können, doch er zuckt nur mit den Schultern.
Meine Stimme bleibt leise: „Siehst müde aus. Nicht gut geschlafen?“
Er schüttelt kurz mit dem Kopf.
„Weil du Angst im Dunkeln hattest? Oder …?“
Keine Reaktion.
„War Stimmung?“
Seine Augen wandern schnell zur Seite.
„Was für ein Tag ist heute? Sonnabend?“
„Sonntag.“
„Ah. Ist dein Bruder nachts besoffen von der Disko heim und Vater war noch munter, auch besoffen?“
„Mhmh.“
„Okay, und dann war Stimmung … Du durftest alles vom Bett aus mit ansehen …“
Er nickt, kaum sichtbar.
„Wie alt bist du?“
„Elf.“
Ich merke, wie Stress in mir aufsteigt: „Welchen Monat haben wir?“
Er schaut ungläubig: „August?!“
„Also August ´84?“
„Ja“ – seine Stirn bleibt in Falten.
Der Stress in mir nimmt weiter zu, mein Körper fühlt sich an, als würde immer mehr Strom durch ihn fließen: „Vater und dein Bruder sind sich angegangen im Kinderzimmer, Mutti hat dich aus dem Bett geholt, dann habt ihr im Korridor gestanden, Vater hat versucht, Mutti einen leeren Wassereimer über den Kopf zu stülpen, dann ist sie mit dir raus aus der Wohnung und runter vors Haus mit dir?“
Er nickt, kaum sichtbar.
„Und dann standet ihr da im Dunkeln, sie wusste nicht, wohin, ob in den Garten da drüben, aber da hättet ihr auf der Bank übernachten müssen, weil es keine Laube gibt?“
Wieder nickt er.
„Dann kam Vater raus, hat euch klargemacht, wieder reinzukommen, damit niemand was mitbekommt?“
„Ja.“
„Und niemand kam zu Hilfe …“
„Ja.“
„Wie gehts dir?“
Er zuckt kurz mit den Schultern, als wäre fast nichts passiert.
„Du hast nicht geheult, richtig?“
„Nein.“
„Weil es ähnlich schon paar Mal so vorher war?“
„Ja.“
„Es ist irgendwie normal, oder? Du kennst es nicht anders?“
„Ja.“
„Aber die letzte Nacht war nochmal schlimmer?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Und keinen interessiert, wie es dir geht … Weil ja niemand weiß, was passiert ist. Also musst du deine Gefühle wieder mit dir selbst ausmachen. Oder sie wegdrücken.“
Er schweigt.
„Und nach den Ferien gehst du wieder in die Schule und bist das Mamasöhnchen und der Streber …“
Stille.
„Im November fährst du fünf Wochen in die Pionierrepublik am Werbellinsee bei Berlin und du wirst nicht verstehen, warum die anderen wieder nach Hause wollen. Dich zieht nichts in diese Wohnung.“
In seinem Gesicht stehen Fragezeichen, aber auch der Ausdruck des Verstandenwerdens.
„Du solltest nachts schlafen können und nicht auf der Straße stehen müssen. Kein Kind sollte das. Dass das eigentlich Wahnsinn ist und alles andere als normal, wirst du erst spät in deinem Leben sehen. Bis dahin wirst du immer wieder allein im Dunkeln stehen, ohne dass dir jemand zu Hilfe kommt. Und immer wieder wird deine Geschichte nicht zählen. Das, was du letzte Nacht erlebt hast, wird sich wiederholen. Nicht auf diese Weise, aber das Muster. Und immer wieder musst du das, was du fühlst, mit dir selbst ausmachen, bis es eines Tages zu viel wird. Dann beginnt dein Körper zu leiden, weil der Kopf es nicht mehr schafft.“
Eine Träne setzt sich auf der Wange des Jungen in Bewegung, genau wie auf meiner.
„In paar Tagen werdet ihr in den Urlaub fahren, Mutti fährt aber nur mit dir und deinem Bruder. Und sie wird sich scheiden lassen wollen wegen der letzten Nacht und allem, was davor war.“
Keine erkennbare Reaktion.
„Vater wird aber erst in 5 Jahren ausziehen, weil sich das mit der Scheidung hinziehen wird, ER sie einreichen muss, weil in seiner Welt nur Männer so was dürfen und weil es nicht so schnell eine Wohnung für ihn geben wird.“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Hauch von Resignation bei dem Jungen erkenne.
„Ich weiß, lange Zeit … Kein Plan, wie ich dir helfen kann. Diese Nacht wird dir immer in Erinnerung bleiben, auch deiner Mutti. Sie wird immer bereuen, nicht auch deinen Bruder mit raus aus der Wohnung genommen zu haben. Aber das hätte auch nichts geändert … Diese Nacht hätte einfach niemals passieren dürfen, genau wie die anderen Nächte. Dein Bett ist nicht der Ort, wo du zur Ruhe kommen kannst, so wie es eigentlich sein sollte. Schon deine Angst im Dunkeln, die dir niemand nimmt, weil keiner davon weiß und sich keiner darum kümmert … Und dann wird das Bett regelmäßig zum Sitzplatz für dieses Theater … Hattest du letzte Nacht Angst, also als es so … wurde?“
„… Ich weiß nicht.“
„Irgendwie glaub ich dir das. Aber bei so vielen Ängsten, die du hast, wäre es eigentlich klar. Du magst eh nicht das Laute …“
Stille.
„Scheiß Situation … Spätestens mit dieser Nacht fängt es wohl an, dass wir Wut, Trauer, Hilflosigkeit, Ungerechtigkeitsempfinden wegdrücken müssen. Gegen Vater kommst du nicht an, da müsste deine Wut schon auf Amoklauf-Niveau sein. Ach, du weißt nicht, was Amokläufe sind, oder? Die Welt ist in der Richtung noch etwas heil, auch wenn sie alles andere als gesund ist. Ich will dich da auch nicht auf dumme Ideen bringen. Auf jeden Fall kommst du im Moment nicht gegen Vater an, erst in ein paar Jahren wirst du ihm ab und zu Kontra geben und nicht mehr komplett alles schlucken. Mutti ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Wogen zwischen den anderen glätten zu wollen: zwischen Vater und deinem Bruder, zwischen Vater und seinen Schwiegereltern. Eigentlich wollte sie vor Vater verheimlichen, dass dein Bruder aus dem Wohnheim seiner Lehrstelle fliegen könnte, weil er zu einer vom Personal mehrmals pampig wurde. Vater hat es aber zwangsläufig erfahren und wollte mit deinem Bruder in der letzten Nacht darüber diskutieren – funktioniert ja nur, wenn er besoffen ist. Dass dieses Verheimlichen immer wieder nichts bringt, wird dich übrigens zu einem Menschen machen, der brachial ehrlich ist. Das mag super klingen, aber ab und zu solltest du es lassen, weil du dir damit schaden wirst. Du selbst gibst dir heute schon größte Mühe, nirgends Ärger zu machen, damit es nicht noch mehr Theater gibt und deine Mum zu leiden hat. Und obwohl du eigentlich alles richtig machst, bekommst du so viel ab … Und während die anderen untereinander mit sich beschäftigt sind, stehst du allein da mit deinen Gefühlen, Bedürfnissen. Du wirst irgendwann sagen, dass du nebenbei großgeworden bist, weil deine Familie für dich gar keinen Blick hatte, weil sie eben so mit sich beschäftigt ist.“
Er schaut mich an, wieder ohne wirkliche Regung.
„Die Flucht auf die einsame Insel klappt auch nicht, richtig?“
Ein fragender Blick.
Ich schmunzle: „Ich meine Michaela. Du bist doch schon jetzt in sie verliebt, oder?“
Zum ersten Mal weichen sich die Gesichtszüge des Jungen auf: „Ähm, naja.“
„Ah, doch schon so früh. Ich wusste es nicht mehr. Mit Ende 10 verliebt man sich 1984 eher selten. Du fängst jetzt die fünfte Klasse an und sie kommt in die dritte, klingt verdammt früh. Und im November am Werbellinsee lernst du Daniela kennen und wirst hin und weg von ihr sein.“
Seine Augen werden groß.
„Japp. Sie wird abends mit anderen Mädels auf ihrem Zimmer versuchen, Beulen am Kopf zu bekommen, damit sie wieder heim können und du wirst inständig hoffen, dass sie bleibt. Eigentlich dürfen die Jungs abends nicht hoch zu den Mädchen, aber du machst es natürlich und sie verstecken dich im Schrank, du Casanova.“
Die Augen werden nicht kleiner.
„Ja, stille Wasser können manchmal ziemlich tief sein. Du bekommst Post von Michaela – so jung und stehst zwischen zwei Frauen …“
Er grinst.
„Sie sind deine Hoffnung darauf, auch mal was Schönes erleben zu können, oder? Deshalb verliebst du dich so früh? Nicht wenige Erwachsene flüchten ans Meer, um die Welt um sich herum vergessen zu können. Dir reicht es, in ihre Augen zu schauen. Und zu hoffen, dass die Sonne aufgeht.“
„Und …“
„Du willst wissen, wie es weitergeht mit den beiden?“
„Naja … Ja.“
Ich verziehe mein Gesicht: „Wirklich?“
Die Schultern des Jungen fallen wieder nach unten: „Hmmm.“
Ich überlege. „Also … Ich weiß, wie sehr du an ihnen hängen wirst, wie groß deine Hoffnungen sein werden und wie … naja, enttäuscht du sein wirst. Sie werden nicht deine rettenden Inseln. Sie sind nicht der kleine oder größere Tupfen Leichtigkeit zur sonstigen Schwere. Am Ende werden sie alles nur noch ein bisschen schwerer machen. Wegen Michaela wirst du dein erstes, kleines Buch schreiben, in glaube vier Jahren. Du wirst dabei hoffen, sie doch noch von dir überzeugen zu können, weil du glaubst, dass Liebe etwas mit inneren Werten zu tun hat, also dass du ein guter Mensch sein musst, damit sich jemand in dich verlieben kann. Michaela wird aber bei einem landen, der einen Laden überfallen wird. Du wirst vorher denken, dass sie schon sehen wird, was sie an dir gehabt hätte und der Überfall wird dir gefühlt Recht geben – aber sie wird es trotzdem nie bedauern. Ist wohl zu früh, dir das jetzt genauer erklären zu wollen, auch wenn du ein helles Köpfchen bist. Schreib trotzdem das Büchlein, wenn dir danach ist. Das Schreiben wird dir helfen, mit deinen Gefühlen umzugehen, sie wenigstens auf Papier rauslassen zu können. Das ist nicht ideal, aber besser, als dass du noch mehr runterschluckst. Das Büchlein wirst du „M.“ nennen und du wirst dich in deinem Leben noch in mindestens … vier Frauen verlieben, deren Name mit M beginnt.“
„VIER?!“
„Ja, und auch noch hintereinander. Du wirst dich manchmal selbst wundern, was es so für Zufälle gibt.“
„Und …?!“
„Hmm, es wird fast jedes Mal so sein wie mit deiner ersten M. Nur mit einer M wirst du für zwei Monate die Leichtigkeit des Lebens kennenlernen dürfen, wobei … Ach, wundere dich einfach nicht, wenn sie anfängt, dich zu verletzen. Lies dann ihre alten Mails – das sind Briefe, nur nicht auf Papier, sondern …, ach lass dich überraschen. Wenn du liest, was sie mal über sich selbst geschrieben hatte, wirst du verstehen, warum sie sich plötzlich so verwandelt und dich verletzt. Merk dir mal bipolare Störung, das wird dich öfters verfolgen. Dann kannst du diese M schnell abhaken und die schönen Erinnerungen bleiben trotzdem.“
Jetzt arbeitet es deutlich in dem Jungen.
„Kipp mir nicht aus den Latschen. Ich würde dir ja gern mit auf den Weg geben, dass du dich in keine M verlieben solltest, weil es nichts bringt. Aber du wirst es trotzdem, wenn alles so läuft, wie es bei mir gelaufen ist. Liebe ist keine Entscheidung der Vernunft, die man ein- und ausschalten kann. Hmm, sollte ich mit einem Elfjährigen echt darüber reden? Ich würde dich einfach gern beschützen wollen. Du hast jetzt schon ganz andere Narben, vor denen ich dich noch viel lieber beschützt hätte. Dein Selbstbewusstsein ist ziemlich bei Null, obwohl du voriges Jahr bei der Kreis-Matheolympiade Dritter warst, immer zu den Klassenbesten gehörst oder der Beste bist, seit einem Jahr Gitarre spielst und als einer von fünfen aus dem Kreis in diesem Jahr an diesen Werbellinsee fahren wirst. Eigentlich solltest du nicht mit gesenktem Blick durch die Gegend laufen müssen. Aber von Vater gibts nur Kopfnüsse, wenn du einen Fehler gemacht hast. Oder hast du in den Ohren, dass er mal gesagt hat: Junge, ich bin echt stolz auf dich?“
Er grinst.
Auch ich lächle, wobei es mir im nächsten Moment einfriert: „Schon schräg: Du erwartest das nicht mal, weil du ihn kennst … Du wirst später Menschen begegnen, die mit 30, 40, 50, 60 noch immer darauf hoffen, von Vater oder Mutter ein Ich bin echt stolz auf dich zu hören und sie werden es nie bekommen. Aber der Mann, der da in unserer Wohnung mit uns lebt, erweckt ja nicht mal den Hauch des Anscheins, dass er unser Vater ist, oder?“
Der Junge schaut mich nachdenklich an.
„Mach dir keinen Kopf darüber. Es wird viel Zeit vergehen, bis dir das klar wird. Du wirst ganz glücklich damit sein, dass du den Mann da so siehst, weil du eben nicht wie viele andere diesem ewigen Traum hinterherhängen musst, wenigstens ein kleines Zeichen von Anerkennung oder gar Zuneigung von ihm zu bekommen. Allerdings … Du wirst das alles fast schon stolz einer Psychologin so erzählen, also dass du den Mann da gar nicht als Vater empfunden hast, weil er immer auf Abstand zu dir blieb, außer wenn er dir eine Kopfnuss geben wollte oder du ihm die Hand morgens und vor dem Bettgang schütteln musstest. Du wirst keine einzige Umarmung, kein Händchenhalten, kein Streicheln, kein „Wie gehts dir? Alles gut?“ von ihm in Erinnerung haben. Er hat dich in die Welt gesetzt, er bringt das Geld nach Hause und damit ist sein Job erledigt. Um die Bedürfnisse seiner Kinder hat sich Mutti zu kümmern, auch wenn ja alle Weiber eigentlich dämlich sind in seiner unendlichen Weisheit.“
„Selbst zu dumm, um Tütensuppe zu kochen …“
„Ah, die Szene gabs also schon. Keine Angst, du wirst Frauen später nicht so behandeln. Du schlägst eigentlich ins Gegenteil aus, willst ihnen auf Augenhöhe begegnen, sie nicht bevormunden, nicht befehlen, nicht verletzen, sie annehmen, wie sie sind. Das wird dich zu einem angenehmen Mitmenschen für Frauen machen, aber … Ach, lieber nicht. Weißt du, dass du doch irgendwann den Satz Ich bin stolz auf dich hören wirst?“
Der Junge schaut verdutzt.
„Ja! Natürlich nicht von Vater, sondern von einem Mann, der dich kaum kennt, wenn du fast 50 bist. Wird ein Gartennachbar sein. Er wird sehen, wie du dich um Mutti kümmerst und wie du dich sonst so verhältst. Und der wird sagen, dass er stolz auf dich ist. Du wirst dich überrascht bedanken und dich später fragen, wie jemand auf etwas stolz sein kann, was er gar nicht … gebaut, geschaffen, wie auch immer hat. Aber du verstehst schon, was er meint.
Und paar Monate später wirst du in einer Klinik landen, weil du kaum noch laufen kannst und niemand dir bis dahin sagen kann, warum. Wäre jetzt eine zu lange Geschichte, wieso du so kaputtgehst. Jedenfalls wirst du dort 8 Wochen sein und wenn du die Klinik verlässt, werden dir zwei deutlich jüngere Frauen lange in den Armen liegen und dir Sachen über dich sagen, die du vorher nie gehört hast. Und eine Frau um die 60 wird einen Mann um die 60 andächtig fragen, ob er schon mal einem Menschen wie dir begegnet ist. Er wird überlegen und leise „Nein“ sagen. Und eine andere Frau um die 30 wird sagen: „Der Thorben ist einmalig, den gibt es nicht noch einmal so.“ Dann fährst du mit der Straßenbahn zum Bahnhof und deine Sonnenbrille wird ein paar Tränen verdecken, weil du immer wieder dran denken musst, was sie gesagt haben – dabei bist du einfach nur die ganze Zeit DU gewesen. Vielleicht kannst du ja jetzt schon ein bisschen stolz auf dich sein. Ich weiß aus vielen Geschichten: Eigentlich braucht jedes Kind von Mutter UND Vater die ehrliche Anerkennung, damit Selbstbewusstsein wachsen kann. Wenn Mutti ab heute Vater dazu nötigen würde, dir Anerkennung zu geben – es würde nichts nutzen, weil du das Schauspiel durchschauen würdest. Das muss schon ehrlich sein.
In dieser Klinik wirst du auch zum ersten Mal erleben, dass Menschen an dem, was heute passiert ist, Anteil nehmen. Deiner Psychologin wirst du von der Nacht erzählen, auch wie Vater sonst war. Wenn ihr euch eine Woche später wieder gegenüber sitzt, wird sie sagen, dass sie bei deinem Erzählen mächtig Wut in sich spürte auf Vater und du hast alles so erzählt, als wäre es nichts Außergewöhnliches gewesen. Auch andere Patienten werden sagen, dass sie diese Wut in sich merkten auf Vater, wenn du davon erzählst.“
„So lange?“
„Ja. Aber wenn ich es richtig weiß, wirst du es vorher auch niemandem erzählen, ist ja eigentlich lange her und du kennst es nicht anders, es ist Normalität. Erst da merkst du, dass du diese Nacht als Rucksack mit Steinen ständig mit dir rumträgst.
Ach, nochmal wegen der Mädels: Lass dich nicht zu sehr runterziehen, wenn es jetzt nicht klappt. Versuch trotz aller Liebe nicht eine zu übersehen, von der du wohl wirklich Signale bekommst, sie geht in deine Klasse. Und wenn du dann in die EOS gehst nach der 10. Klasse, dann wirst du eine Antje kennenlernen und von ihr hin und weg sein. Lustigerweise wird sie dir irgendwann erzählen, dass sie in einen Typen verliebt war, der hier in der Stadt wohnt – und der Gleiche ist, der Michaela bekommen wird. Aber bei Antje wirst du wirklich Chancen haben! Sie wird später mit ihren Eltern in den Westen ziehen – ach so, in fünf Jahren wird es eine Revolution hier geben und danach dürfen alle überall hin reisen. Du fährst dann mit Opa auch mal rüber, auch nach Hamburg und Westberlin. Jetzt guck nicht so, bis dahin mach einfach die Wandzeitungen der Schule über die Überlegenheit des Sozialismus und 1989 tust du überrascht.
Zurück zu Antje, das ist wichtiger: Also sie wird in den Westen ziehen, du wirst ihr Briefe schreiben und in einem wird sie erklären, dass du Chancen bei ihr gehabt hättest. Sie wird manchmal einen früheren Bus nehmen, damit sie zusammen mit dir zur Schule fahren kann – das wirst du aber bis zu dem Brief nicht wissen und erst recht nicht ahnen können. Ein Mädchen macht so was wegen DIR?! Kann nicht sein! Du wirst jeden Morgen eine Stunde zeitiger aufstehen, dir die Haare waschen, damit dieses Kraut, was dir dann wild durcheinander auf dem Kopf wächst, wenigstens nach ETWAS aussieht – und am Ende wirst du wieder fluchen, weil es ein einziges Chaos ist. Und das machst du, damit du deine Chancen bei Antje erhöhst – an die du nicht so wirklich glauben wirst, aber wie immer hoffst du und hoffst. Spar dir das Aufstehen: Sie würde dich auch so nehmen.
Und lass dir vom Frisör einfach die Haare kürzer schneiden, damit es nicht so ein Chaos gibt. Ja, Mutti wollte als zweites Kind ein Mädchen und bisher bist du viel öfters für eines gehalten worden, als dass dich jemand für einen Jungen gehalten hätte, stimmts?“
Er nickt mit einem Lächeln.
„Sie wird kurze Haare an dir auch dann nicht mögen, wenn du 50 bist. Aber so sehr du immer Rücksicht auf sie nehmen willst: Lass den Frisör mal was riskieren, damit du bisschen männlicher aussiehst. Ansonsten wirst du dich ziemlich lange nicht wie ein Mann fühlen, wobei es da wohl auch noch andere Gründe gibt. Die Männer um dich herum taugen ja Null als Vorbilder.
Zurück zu Antje. Also, du wirst Chancen bei ihr haben, das steht fest. Jetzt ist nur die Frage, wie du die letzte Meile zu ihr überwindest …“
„Letzte Meile?!“
„Ja, das ist unser großes Problem für laaange Zeit. Wir sind Körperkontakt nicht gewohnt, außer eben Kopfnüsse und Händeschütteln. Du wirst sie nicht morgens im Bus mit einer Umarmung empfangen können … Immerhin wird sie mal auf deinen Schultern sitzen, wenn ihr zu dritt zu einem Konzert fahrt. Du wirst dich aber nicht trauen, einfach mal deinen Arm über ihre Schulter zu legen oder um ihre Hüfte, wenn sie neben dir läuft. Oder kannst du dir das vorstellen? Denn wenn du es in 5 Jahren nicht machst, dann wirst du das erste Mal einen anderen Menschen umarmen, wenn du 40 bist und das wird dann nach dem Ende der Beisetzung von Tante Lucie sein.“
„Was?!“
„Ich will dir keinen Druck machen, aber … Deshalb wäre es so extrem wichtig, dass du selbstbewusst wirst, wenigstens ein Stück, ein, zwei Millimeter raus aus dem Schneckenhaus, dem Leben damit wenigstens eine Chance geben kannst, dass was passiert im positiven Sinne. Das andere, also der ganze Mist, kommt alles von allein. Ansonsten wird dein Hunger nach Leichtigkeit absurd groß, wenn du 50 bist und enorm viel Scheiße vorher passiert ist. Und dann wirst du ein paar Momente erleben können, aber die nächste kalte Dusche steht da schon bereit und wird dich erstarren lassen. Du bräuchtest bis dahin immer mal wieder Phasen, wo das Leben sich leicht anfühlt, so wie du nach dieser Nacht sicher umso mehr Sehnsucht nach Flucht auf die einsame Insel mit Michaela hast.
Aber sie wird nicht die sein, die Leichtigkeit bringt. Und eben auch nicht Daniela. Das hat nichts damit zu tun, dass du nichts wert bist. Mit 50 wirst du lernen, dass Menschen nur so viel Liebe annehmen können, wie sie sich selbst lieben können und du wirst bis dahin festgestellt haben, dass es verdammt wenige gibt, die sich in einem guten Maß lieben. Die meisten mögen sich wenig bis gar nicht, weil sie wie du eben von den Eltern keinen gesunden Selbstwert mit auf den Weg bekommen haben. Andere lieben sich über alle Maßen, die nennt man Narzissten. Du wirst dich in Frauen verlieben, die von Partnern links liegengelassen, gestalkt, geschlagen, anderweitig mies behandelt wurden …“
„Was ist gestalkt?!“
„Stimmt, kannst du noch nicht wissen. Das ist, wenn ein Mensch einen anderen rund um die Uhr beobachten will, ihn verfolgt, ihn angreift – das Leben mehr oder weniger zur Hölle macht. Diese Menschen betrachten Partner als Eigentum, das nicht abhanden zu kommen hat. Du wirst eine Verwandte haben, die mit einem solchen Mann zusammen sein wird und mit ihm ein Kind in die Welt setzen wird.“
„Was?!“
„Ja. Und das wird dich neben anderen Dingen weiter fertigmachen, weil du weißt, dass dieses Kind eines Tages auch im Dunkeln auf der Straße stehen wird und keiner hilft. Nicht unbedingt so, wie du es in der Nacht erlebt hast. Man kann Kinder auf sehr viele Arten kaputtmachen. Am Ende reicht ja schon der Vater, der keinerlei ehrliche Zuneigung für sein Kind zeigen kann.“
„Wie kann man nur …“
„Eben. Deine Verwandte wird von ihrem Vater keine Zuneigung bekommen. Damit wird sie sich nicht selbst lieben können, was sie in ihren Teenagerjahren im Internet in ihren Texten zeigen wird. Ach je, das Internet … Stell dir vor, du schreibst einen Brief und alle auf der Welt könnten ihn am Fernseher sehen. Ich weiß, das klingt wie aus einer anderen Welt, lass dich auch davon überraschen.
Zurück zu deiner Verwandten: Sie wird sich also nicht selbst lieben können und Menschen, die sich nicht selbst lieben, sehen in allem, was nur ein klein bisschen nach Zuneigung aussieht, einen echten Beweis dafür – so verlogen diese Zuneigung auch sein mag. Dann dürfen diese Partner ihre Freundin auch als verlogene Schlampe bezeichnen – sie wird ihn trotzdem als Menschen mit guten Eigenschaften ansehen, weil er ihr etwas gibt, was sie nie hatte. Und davon braucht sie nicht viel, weil „ganz wenig“ ist besser als „nichts“.
Du wirst Frauen niemals so behandeln wollen, weil du deine Mum leiden siehst und du über verdammt viel Empathie verfügst. Das ist, wenn man sich in die Gefühlslage eines anderen Menschen reindenken kann. Und damit ist deine Art, wie du einer Frau Zuneigung zeigst, langweilig für so einige. Sie sind aus ihrer Kindheit Drama gewohnt. Sie werden nicht sagen, dass sie das in einer Beziehung brauchen, sondern sie werden sagen, dass sie einen Mann mit guten inneren Werten möchten. Aber wenn du dich in sie verliebst, werden sie lange Beziehungen mit Männern hinter sich haben, die sie wie Dreck behandelt haben. Und wenn sie zwischen ihnen und dir hätten wählen können vor Beginn dieser giftigen Beziehungen, hätten sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht DICH genommen, sondern den Stalker, Schläger oder den Typen, für den seine Freundin schnell uninteressant wird.
Du wirst immer mal wieder von Frauen hören: Ich verliebe mich wegen der inneren Werte. Irgendwann explodiert es in dir und du würdest dem Nächsten, der diesen Satz sagt, fünf Meter Vorsprung geben, weil du ihn nicht mehr hören kannst. Der Satz wird auch von einer kommen, bei der du mal wieder auf Leichtigkeit hoffst. Sie wird dir einen Korb geben, du wirst durchhängen, auch wenn sie dir immerhin Klarheit gibt und du nicht ewig hoffen brauchst.
Aber dir wird in dieser Zeit bewusst, dass es schon auf innere Werte ankommt – aber nicht auf GUTE innere Werte. Wenn dem so wäre, hättest du mit 50 nicht nur zwei Monate Beziehung hinter dir und die ganzen Stalker, Schläger, Narzissten wären nicht jahrelang verheiratet. Du wirst damit hadern, dass solche gruseligen Typen Beziehungen haben durften mit Frauen, neben denen du gern sitzen und in deren Augen du gern gucken würdest, mit denen du endlich diese Leichtigkeit des Seins erleben möchtest. Sie werden dann aber diese Beziehungen hinter sich haben und sehr vorsichtig sein, was du ihnen nicht vorwerfen kannst, aber woran du trotzdem mittelschwer verzweifelst.
Mit 50 wird dir eine Psychologin sagen, du würdest immer wieder Frauen retten wollen, weil du Mum nicht helfen konntest, auch in der letzten Nacht nicht. Dabei hätte sie DICH retten müssen. Die Psychologin wird sagen, dass du eine schwache Frau und einen übermächtigen Mann erlebt hast in deiner Kindheit und damit ein verzerrtes Bild von den Geschlechtern entwickelt hast, so dass du eigentlich immer nur mit Frauen befreundet sein kannst – und sie retten willst. Aber eigentlich geht es dir darum, Kindern solchen Scheiß zu ersparen, wie du ihn jetzt wieder erlebt hast. Du wirst Frauen zuhören, die noch viel Heftigeres über sich ergehen lassen mussten, ziemlich genau in dem Alter, in dem du jetzt bist. Denk deshalb aber nicht, dass du im Vergleich dazu so gut wie gar nichts durchgemacht hast. Wenn dem so wäre, würdest du nicht diese Nacht als eine von sehr wenigen Momenten aus deiner Kindheit in Erinnerung behalten. Und du wirst dich an praktisch keinen Moment so wirklich erinnern, wo die Kindheit schön war. Andere erzählen, wie sie lustige Sachen mit ihren Eltern im Urlaub erlebt haben oder wie Papa ihnen dies und das beigebracht hat. Da wird nichts sein, was du in dieser Richtung noch vor Augen haben wirst.
Und glaub nicht daran, dass du dich in Frauen verliebst, um sie retten zu können. Du wirst dich in sie verlieben, ohne zu wissen, was sie so durchgemacht haben. Sie werden einfach alle ähnlich aussehen wie Michaela und Daniela und Antje. Nennt man optisches Beuteschema. Wenn du diese beiden Wörter gegenüber Frauen aussprichst, werden sie mit der Nase rümpfen und dir erklären wollen, dass sie sich eben wegen dieser berühmten inneren Werte verlieben und damit meinen sie positive Werte. Die ein oder andere wird dann aber mit der Zeit feststellen, dass der Ex dem Neuen doch ähnlich sieht. So wie bei dir Mädchen bzw. Frauen keine Chance haben werden, die anders aussehen als die Mädels jetzt, so wirst du mit deinem Gesicht nicht bei jeder ins Schwarze treffen können. Der Geruch spielt übrigens auch noch eine sehr wichtige Rolle beim Suchen und Finden.
Und dann kommt eben die Sache mit den inneren Werten dazu, also mit den wenig angenehmen Werten. Mit 50 wirst du viele Geschichten aus deiner Familie und dem Umfeld gehört haben, wie Beziehungen entstehen – und du wirst keine einzige davon haben wollen. In der Familie wird es eine Frau geben, die unbedingt eine Familie will und sie nimmt dafür einen Mann in Kauf, vor dem der Freundeskreis warnt und über den sie später sagen wird, sie habe ihn eigentlich nie wirklich geliebt – er war halt nützlich. Die gemeinsame Tochter wird das mit Magersucht und langer Therapie bezahlen müssen. Der Mann wird weitere Beziehungen haben, obwohl er phasenweise immer wieder sehr verletzend sein wird.
Eine Kumpeline wird knapp 20 Jahre in einer Beziehung sein mit einem Mann, der ihr den Kopf abschlagen wollte bei einer Trennung. Jetzt kann man sagen: „Der war früher, als sie ihn kennenlernte, bestimmt noch unauffällig und lieb.“ Sie fand in der Matratze ihres Wohnheim-Zimmers ein Babyfon, über das er für kurze Zeit mithören konnte, mit wem sie und was sie spricht – sie hat ihn trotzdem als Partner genommen.
Ein Typ hier im Ort wird erfahren, dass seine Freundin mit zahlreichen Männern schlief in den 3 Jahren Beziehungen. Er verlässt sie – und geht drei Monate später zurück: „Ich bekomme ja eh keine andere.“ Die Freundin bedroht Frauen, die sich an ihren „Freund“ ranmachen. Aber auch diese Frau hatte eine langjährige Beziehung.
Du wirst mit der Leiterin eines Pflegeheims sprechen. Sie wird erzählen, wie ihr Mann sie in die geschlossene Psychiatrie gebracht hat. Er hat sie verfolgt, wenn sie mit dem Auto irgendwohin fuhr, erklärte ihr in der Kneipe, sie solle auf den Teller schauen und sich nicht umgucken. Er selbst hatte mehrere Geliebte – und auch er war mehrere Jahrzehnte in mehreren gleichzeitigen Beziehungen.
Und so sammelst du über die Jahre mehrere Dutzend solcher Beziehungsgeschichten, die dir zeigen: Beziehungen haben sehr selten was mit Zuneigung zu tun, sondern sind das Ergebnis von Kindheitstraumata. Menschen erzählen, was sie bei einem anderen Menschen suchen und das klingt immer wieder ganz toll. Aber was sie am Ende finden, was sie anzieht und lange hält, hat oft damit nicht im Entferntesten was zu tun. Offenbar kann man auch Beziehungen verwenden für Selbstverletzungen.
Und du brauchst ja nur deine Eltern angucken. Würdest du eines Tages so fies wie Vater werden, hättest du deutlich größere Chancen, eine Frau zu bekommen. Klingt irre, ich weiß. Aber siehst du ja, er ist seit 17 Jahren mit Mum verheiratet. Ein Typ, der Null von Frauen hält, der alle Frauen als dämlich bezeichnet. Dieser Typ hat eine Beziehung seit zwei Jahrzehnten … Und er darf seine Kinder kaputtmachen … Und er wird mit knapp 50 Jahren ein Testament verfassen, in dem steht, dass seine Kinder erst 4 Wochen nach seiner Beisetzung von seinem Tod erfahren sollen und sie nur den Pflichtteil erben sollen. Er wird Unmengen an billigem Zeug kaufen, damit bei seinem Tod nicht viel Geld auf seinem Konto ist, damit seine Kinder, also du und dein Bruder, noch weniger erben können. Er stirbt übrigens 2021.“
„Echt?!“
„Ja. Du wirst keinerlei Trauer empfinden und er will eh sterben. Du wirst die Beisetzung organisieren, einen Teil der Rede verfassen, weil du kein Geheuchel hören willst. Es werden nur vier Leute da sein, einschließlich dir und Mum. Sie wird dich in dieser Zeit unterstützen, obwohl sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Vorher liegt Vater knapp zwei Wochen auf der Intensivstation durch einen dicken Herzinfarkt. Er wird nur noch im Bett liegen, manchmal wird er dich angucken, die Hände heben, seinen ganzen Körper bewegen wollen. Du wirst nicht wissen, was er noch mitbekommt, ob er dich versteht, ob er weiß, wer du bist. Und du wirst seine Hand halten.“
„Ich?!“
„Ja. Seltsame Vorstellung heute, oder? Gerade nach dieser Nacht. Hat aber nichts damit zu tun, dass du am Ende seines Lebens doch noch ein Zeichen von Zuneigung von ihm haben willst. Du würdest auch der Frau, die im anderen Bett vor sich hin stirbt, die Hand halten, weil du dir denkst, dass Menschen in diesem Zustand auf der Schwelle zum Tod Angst haben und eben eine Berührung ganz gut tut, die ein bisschen Sicherheit gibt. Da sind wir wieder beim Thema, was? Die haltende Hand im Sturm.“
Der Junge lässt den Kopf hängen.
„Du wirst, wenn du seine Hand hältst, stolz auf dich sein. Weil du eben damit zeigst, ganz anders geworden zu sein als er. Du wirst ein Foto davon machen, wie du überhaupt viele Bilder im Laufe deines Lebens knipsen wirst. Schöne Bilder übrigens, darauf wirst du auch stolz sein können, aber recht spät.
2019 wird Vater einen Schlaganfall haben. Wenn du ihn im Krankenhaus siehst, wird es das erste Wiedersehen nach 22 Jahren sein, weil du ihn nicht sehen willst. Du denkst bis dahin, dass du ihn erst wiedersehen wirst, wenn er im Sarg liegt. Er wird das nie verstehen, dass seine Kinder keinen Kontakt mit ihm mehr wollen nach der Scheidung und seinem Auszug.
Du wirst ihm, wenn du um die 20 bist, einen Brief schreiben, nachdem er sich über den wenigen Kontakt mit dir bei Mum beschwert. In dem Brief lässt du alles raus, was sich bis heute und die nächsten Jahre aufstaut. Du wirst ihn fragen, wozu er denn Zeit mit dir verbringen will, wo es doch Null Gemeinsamkeiten gibt: keine Hobbys, keine Interessen. Ob ihr euch eine Stunde schweigend hinsetzen sollt. Du wirst ihm seine Fehlerlosigkeit spiegeln, die er in seinen Augen hat und dass nur seine Meinung richtig ist. Wie er mit Mum umgegangen ist, wie er Latschen nach ihr warf. Wie dein Bruder während Handgreiflichkeiten mit Vater Verbrennungen mit dem Lötkolben abbekam. Wie Vaters Blicke waren, bei denen man sich jede Sekunde auf das Schlimmste gefasst machen musste. Und du schreibst von Ohrfeigen, die Mutti und du letzte Nacht bekommen haben, als er euch von der Straße reinholte. Du erinnerst dich also nicht erst mit 50 an diese Nacht … Du wirst auf Vaters Aussage zur Scheidung zurückkommen, dass er nur „Sohn Thorben“ darin geschrieben hat und kein „mein …“ Ja, dort explodierst du das erste und einzige Mal ihm gegenüber, wenn auch wie immer auf Papier. Aber sagen bräuchtest du ihm das alles eh nicht, da würde ich dir nach dem ersten Satz das Wort abschneiden.
Diesen Brief wird er laminieren und du findest ihn zu deiner großen Überraschung wieder, wenn du ca. 25 Jahre später nach seinem Schlaganfall die Wohnung aufräumst. Er wird ihn sicher nicht aufheben, weil er ein schlechtes Gewissen hat, sondern um immer zu wissen, wie böse DU DICH verhalten hast.
Bekomm keinen allzu großen Schock, wenn du zum ersten Mal seine Wohnung betrittst. Der Mann, der seine Kinder mit Nachdruck zur Ordnung anhält, wird ein zugemülltes Schlafzimmer und einen zugemüllten Keller haben.“
Dem Jungen fallen die Augen fast raus.
„Ja. Er wird es immer verstehen, nach außen wie ein ganz netter Mensch zu wirken, völlig unauffällig. Selbst seiner Lieblingsnichte wird der Mund offen stehen, wenn sie das Schlafzimmer betritt, obwohl sie zu den Geburtstagen bei ihm sein wird. Dort lässt er aber nie jemanden rein. Wenn du ihr von deiner Kindheit erzählst, wird sie sehr staunen, denn das alles hätte sie ihrem Onkel niemals zugetraut. Die fliegenden Latschen kennt sie von ihrem eigenen Vater.
Nach dem Schlaganfall wirst du auch auf Menschen außerhalb der Familie treffen, die mit Vater zu tun hatten. Seine Bibliothekarin wird sagen: „Ach je, na das hat er nicht verdient.“ Er wird jedes Jahr Urlaub in Österreich machen, immer in der gleichen Pension. Die Frau dort wird ihn als hochanständig bezeichnen, wenn du mit ihr telefonierst. Er sei einer von sehr wenigen Männern, bei dem sie sich nicht eingeschlossen hat, wenn er da war. Hätte sie erlebt, was du letzte Nacht erlebt hast, würde sie wohl doch den Schlüssel rumdrehen.“
„Der Wolf im Schafspelz …“ – die Schultern sacken wieder nach unten.
„Genau. Und wir haben keine Beweise, dass das Schaf in Wahrheit ein Wolf ist. Wenn Vater heute in den Garten dort drüben geht, wird er alle ganz freundlich grüßen, der hochanständige Mann. Unsere Geschichte zählt nicht, wir stehen allein im Dunkeln …“
„In den Garten können wir heute nicht, wir gehen in den Geburtstag zu Onkel und Tante.“
„Du liebe Zeit, und da wird wieder die heile Familie gespielt … Deiner Cousine wirst du auch nichts sagen, oder?“
Keine Reaktion.
„Klar, was könnte sie schon machen, ist ja noch jünger als du. Wer könnte überhaupt helfen? Deshalb wirst du fast immer still sein, wenn du schreien möchtest. Ach, dann ist heute der 5. August 1984?“
„Ja.“
„Oh Mann, das fällt mir jetzt erst auf. In 35 Jahren wird er genau zu dieser Zeit im Krankenhaus wegen des Schlaganfalls liegen. Und heute in exakt 35 Jahren wirst du einen Koffer für ihn in seiner Wohnung packen und den Koffer ins Krankenhaus schaffen, damit er zur Reha fahren kann. Das ist wieder verdammt schräg … Und nach der letzten Nacht wirst du dir das überhaupt nicht vorstellen können. Wenn mir das so bewusst gewesen wäre mit dem Datum, hätte ich … Hmm, keine Ahnung.“
Der Junge schaut zum Boden, dann zum Kleinen: „Da ist die Welt noch in Ordnung … irgendwie. Der kann noch lächeln …“
„Japp. Irgendwann wirst du dein Fotoalbum durchblättern und viele ernste Gesichter von dir darin sehen. Brauchst dir nur das Foto angucken in deinem Pionier-Ausweis oder im Handball-Ausweis. Der kleine, scheinbar unbeschwerte Junge taucht dort nicht mehr auf …“
Tränen laufen.
„Du wirst nie den Wunsch spüren, selbst Kinder haben zu wollen und ich kann dir das nicht wirklich erklären. Für andere mit noch viel mieserer Kindheit sind eigene Kinder DAS Lebensziel. Dein fehlender Kinderwunsch kann also nichts damit zu tun haben, dass du am Kindsein überhaupt nichts Positives sehen kannst. Von einer Frau, die durch ihren Vater Widerliches durchgemacht hat, wirst du hören, dass sie glaubte, mit einem Kind werde das Leben endlich besser – und sie wird sagen, dass es doch nicht so einfach läuft.
Eine andere wird dir sagen, dass sie Kindergeschrei nie leiden konnte und eigentlich keine Kinder will, aber die Familie und die Gesellschaft würden ja von einer Frau erwarten, Kinder zu bekommen. Und sie wird auch eins bekommen, obwohl sie am besten weiß, wie es ist, wenn man ohne Liebe in die Welt gesetzt wurde. Ihre eigene Mutter hat die Pille heimlich abgesetzt und ihren Freund vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Frau wird dir leise sagen, dass es kein schönes Gefühl ist, auf diese Weise auf die Welt gekommen zu sein – und am Ende macht sie es ähnlich. Bei anderen Frauen wirst du vermuten, dass sie ein Kind bekommen haben, damit endlich ein Wesen für sie da ist, das sie bedingungslos liebt und mit denen sie von anderen Menschen endlich Aufmerksamkeit bekommen. Kinder kriegen scheint eine ziemlich egoistische Sache sein zu können.
Dir werden Kinder nicht egal sein, eher im Gegenteil. Du wirst einen ziemlichen Drang entwickeln, anderen Kindern ersparen zu wollen, dass sie mitten in der Nacht allein auf der Straße stehen müssen. Oder dass sie von ihrem Bett aus mit ansehen müssen, wie sich die Familie an die Gurgel geht – von anderen Dingen ganz zu schweigen. In der Klinik, wo du länger sein wirst, wirst du sagen, dass Eltern ab dem Tag, an dem eine Schwangerschaft feststeht, unter psychologische Begleitung kommen sollten, bis die Kinder erwachsen sind. Du wirst in entrüstete Gesichter gucken – aber es wird keine Gegenvorschläge geben, wie man sonst Kindern ein kindgerechtes Aufwachsen ermöglichen kann. Du wirst dich fragen, ob den anderen ihre Kindheit, so schlimm sie auch war, am Ende gefallen hat oder ob sie nicht wie du den Wunsch hätten, im Nachhinein das Kind, was sie mal waren, beschützen zu wollen. Klar, an Vater wäre wohl jeder Psychologe gescheitert …“
„Was ist ein Psychologe?“
„Das ist jemand, der das reparieren soll, was in der Kindheit kaputtgemacht wurde.“
„Ändert er sich, wenn er älter wird?“
„Vater?! Dieses Mit dem Alter wird man weiser ist so eine Lebensweisheit, die du immer mal wieder hören wirst, genauso wie dieses Ich verliebe mich wegen guter innerer Werte. Das sind Weisheiten, für die es keine Beweise im wahren Leben gibt. Nein, er wird mit 75 genauso ein uneinsichtiger Sturkopf sein wie der, der da heute oben in der Wohnung in seinem Sessel sitzt und sich keiner Schuld bewusst ist, was er angerichtet hat. Schuld sind bei ihm immer andere. Immer. Dass dein Bruder so ist, wie er ist, ist in Vaters Augen auch allein die Schuld von Mums Eltern. Auch mit 75 wird er so sein. Nach dem Schlaganfall wird er ironischerweise weitgehend auf Frauen angewiesen sein, ob im Krankenhaus, bei der Reha oder im Pflegeheim – also den dämlichen Weibern.“
Er schmunzelt, allerdings nur leicht.
„Ich glaube, uns hätte selbst ein Psychologe nicht geholfen. Vielleicht hätte er Mum erklären können, dass dieser Mann seine Kinder vergiften wird, wenn sie mit ihm zusammenbleibt. Aber du wirst an deiner Verwandten sehen, dass man solche Beziehungen nicht mit guten Argumenten verhindern kann. Du wirst später immer wieder von toxischen, also giftigen Beziehungen hören. Davon gibt es sehr viele. Es sind eben die, wo einer den anderen kontrolliert, misshandelt, wie Dreck behandelt. Diese giftigen Beziehungen vergiften die Kinder aus diesen Beziehungen und diese Kinder reichen das Gift dann an ihre eigenen Kinder weiter, wenn niemand dazwischengeht. Du weißt nichts über die Kindheit von Vater, richtig?“
Kopfschütteln.
„Du erfährst das auch erst von deiner Mum, wenn du fast 50 bist und er den Schlaganfall hatte. Er hat seinen eigenen Vater nie kennengelernt. Seine Mutter, also unsere Oma, die wir nie kennengelernt haben, hatte im Sommer 1943 kurz mal was mit einem während eines Rummels, ein gelernter Steinmetz, der nördlich von Leipzig gewohnt hat. Ihr Mann war im Krieg gestorben. Vater wurde vor allem von seinem 11 Jahre älteren Bruder betreut, die Mutter ging viel arbeiten und hatte laut Mum wohl auch nicht wirklich was Mütterliches. Der Bruder wurde mit 20 zum zweiten Mal Vater, da war unser Vater 9. Spätestens ab da wird sich der Bruder auch nicht mehr viel um Vater gekümmert haben. Um seine Bedürfnisse als Kleinkind und Kind bezüglich Anerkennung, Zuneigung hat sich also auch kein Vater gekümmert und die Mutter sehr dezent. Er stand genauso allein da wie du letzte Nacht. Und so wie du hat er nie erlebt, wie es ist, einen wirklichen Vater zu haben.
In der Schule wurde er gehänselt, weil er ein Bastard war, also ein Kind, das von einem außerhalb der Familie gezeugt wurde. Nach dem Schlaganfall wirst du ihn danach fragen, wie er in der Schule behandelt wurde. Durch den Schlag kann er nicht verständlich sprechen, auch wenn er glaubt, man versteht ihn. Deshalb wird er fragen, ob du und seine Lieblingsnichte dämlich seid und er wird glauben, du willst ihn nicht verstehen, damit du ihn ins Heim abschieben kannst. Das wird dir ziemlich zusetzen. Du wirst keine Dankbarkeit von ihm erwarten für all das, was du für ihn machst, weil du ihn eben kennst. Aber diese Arschtritte bekommst du in einer Zeit, wo du eh schon die größte Schwere in deinem Leben erleben wirst. Diese Schwere wird sich über anderthalb Jahre ziehen und dazu beitragen, dass du eines Tages kaum noch laufen kannst.
Na jedenfalls wird Vater, wenn du ihn nach dessen Schulzeit fragst, die Hände hochnehmen und zu Fäusten ballen und dir mit Stolz erklären wollen, dass er sich so gegen die Mobber gewehrt hat. Ach, Mobber sind Menschen, die andere immer wieder ärgern, niedermachen. Kennst du ja. Vater hat also als Kind gele