Verrückt – Die Leseprobe

Aus „Verrückt – ein Aufschrei“

11. Warum wir heiraten

„Natürlich aus Liebe. Punkt. Nächstes Kapitel bitte. So eine doofe Frage … Ich schmeiß gleich das Buch aus dem Zug.“

Jeder kennt die wunderschönen Hochzeitsfotos, auf denen sie & er, er & er oder sie & sie in die Kamera strahlen. Der Hintergrund ist verwaschen, die Ringe glänzen in der Sonne, die Hochzeitsgesellschaft jubelt, der Brautstrauß fliegt im hohen Bogen und wird von der nächsten, genauso zauberhaften Braut gefangen. Du schaust dir die Fotos an, kein Mensch neben dir auf dem Sofa und du beneidest die beiden einfach nur. Du willst das, was sie haben. Zwei Menschen haben sich gesucht und gefunden, Amor sei dank. In diesen seltsamen Zeiten, in denen so viel Zwiespalt herrscht, tut es gut, wenn sich zwei Wesen vereinen. Es lebe die Liebe.

Sebastian & Kristin & Friederike

Mit knapp 30 lernt Sebastian Kristin kennen. Jeder für sich erlebt eine bis dahin nie gekannte Intensität in Sachen Verbindung. Einfach alles passt, so empfinden es beide. Sebastian ist beruflich ein echter Macher, war vor der Beziehung „kein Kind von Traurigkeit“. Doch Kristin sei die erste Frau, mit der alles schön ist, nahezu perfekt und unkompliziert.

4 Jahre später heiratet er, kurz darauf wird er Vater. Aber nicht zu Kristin sagt er: „Ja, ich will.“ Und sie ist auch nicht die Mutter seines Kindes. Seine Frau heißt Friederike.

Hochzeitsfotos gibt es natürlich viele. Beim Betrachten der Bilder – auch jener aus den drei gemeinsamen Jahren zuvor – vermisste ich die Chemie. Die beiden sahen aus wie zwei Fremde, die man auf der Straße kurz zusammengeholt hatte mit der Bitte, gemeinsam in die Kamera zu lächeln. Sie passten nicht zueinander, so mein Eindruck, etwas fehlte. Aber sie waren nun verheiratet und einen solchen Schritt wagt man doch nicht, wenn man sich nicht leiden kann, richtig?

Mit seiner eigentlich so großen Liebe Kristin hält Sebastian all die Jahre weiterhin Kontakt – sie legt wenig Wert darauf. Ihre Bitten an ihn, nicht mehr zu schreiben, ignoriert er. Immer wieder schreibt er sie an, vor der Hochzeit um die 6 Mal im Monat, nach der Hochzeit wann immer er auf Dienstreise geht, später 3 Mal im Jahr. Er schwelgt in Erinnerungen an die gute, alte, gemeinsame Zeit, fragt nach einem Treffen, immer wieder.

Über seine Frau, Ärztin, sagt er nichts Gutes, praktisch von Anfang an jammert er. Sie sei zickig, sein Leben sei so kompliziert, er sei froh, wenn er auf Dienstreise gehen kann. Sein Kind scheint er dabei wenig zu vermissen. Es gebe kaum Sex und wenn doch, passe es überhaupt nicht – welch Wunder. Wie sollst du Lust auf einen anderen Menschen haben, wenn er deinem Belohnungssystem völlig Wurscht ist? Zwischendurch kommt mal ein Satz wie: „Naja, Familie zu haben ist ja auch was Schönes und es ist nicht alles schlecht.“ Romantik pur.

7 Jahre nach dem Ende der zweijährigen Beziehung mit Kristin und drei Jahre nach der Hochzeit mit Friederike werden seine Versuche intensiver, Kristin erneut zu treffen. Er schreibt häufiger, entschuldigt sich dafür, wie die Trennung gelaufen war. Er wisse, dass er Kristin verletzt habe und dies kaum wiedergutzumachen sei. Seine Entscheidung bereut er, doch die Umstände ließen nichts anderes zu. Und er ist sich gewiss, dass er noch Jahre in seinem selbst gewählten Gefängnis verbringen werde.

Wieso heiratet ein intelligenter Mann, ein beruflicher Macher, nicht das Wesen, das ihn glücklich macht, sondern begibt sich in eine so unglückliche Beziehung?

Weil Menschen abseits des öffentlichen Berufslebens nicht von den privaten Gleisen kommen, die ihnen ihre Eltern legten. Kristin ist 8 Jahre älter als Sebastian. In die Beziehung brachte sie ein 11 Jahre altes Kind mit – das ging für seine Eltern überhaupt nicht. Sooo viel älter und dann noch ein Kind?! Diese Frau war nicht standesgemäß. Das Urteil fiel, ohne dass Sebastians Eltern Kristin und ihr Kind je kennengelernt hatten. Seine Frau ist 3 Jahre jünger als Sebastian und war noch kinderlos vor der Ehe – sie war den Eltern genehm.

Als Sebastian mit knapp 30 seine 24 glücklichen Monate mit Kristin hatte, ging es jeden Samstagmorgen allein zu den Eltern, 60 km, mit dem Korb voller Wäsche. Im Elternhaus schlief er Samstagnacht, wurde bekocht, traf sich mit Kumpeln. Im eigenen Kühlschrank fanden sich kaum Lebensmittel. Die Wochenenden gehörten seinen Eltern, nicht Kristin, was ihr – überraschenderweise – nicht gefiel. Mit ihr traf er sich unter der Woche. Die Bindung zu den Eltern war und ist enorm.

Eines Tages saß Kristin bei ihrem Noch-Freund Sebastian in der Wohnung, als es an der Tür klingelte. Doch er öffnete nicht, was ihr seltsam erschien. Kurz darauf meldete sich sein Handy. Eine Frauenstimme fragte, warum er nicht aufmacht. „Ich bin nicht zu Hause“, so die Antwort. Kristin konnte alles mithören. Und später erfuhr sie, dass dies die hoffähige Dame namens Friederike war, die Sebastian gegen die Stimme der Vernunft heiratete.

Für Kristin war dieses Telefongespräch der Anfang vom Ende der Beziehung. In seine Wohnung ging sie nie wieder. Einige Zeit zuvor hatte ihr Sebastian gebeichtet, dass seine Eltern ein Problem mit ihr haben – nach fast zwei Jahren hatte es aber noch immer keinen direkten Kontakt zu den Eltern gegeben.

Die Geschichte von Kristin und Sebastian wäre die perfekte Vorlage für einen Groschenroman. Er würde sich am Ende doch noch von seinen Eltern lösen und der Liebe folgen – Happy End garantiert.

Filmreif kreuzten sich über die Jahre nach der Trennung tatsächlich immer wieder ihre Wege, obwohl sie 80 km entfernt leben. Das Universum wollte einfach, dass sie sich kriegen, könnte man glauben. Drei Jahre nach der Trennung sahen sie sich auf einem Flughafen. Kristin blieb kurz stehen, wollte der Höflichkeit halber „Hallo“ sagen. „Nicht jetzt, nicht hier, ich komm zu deinem Gate“, zischte er kurz. Seine Kollegen waren in der Nähe. Dabei ging es nur um ein „Hallo“, nicht um einen Kuss oder Sex auf dem Gepäckband.

Und nun, 7 Jahre nach der Trennung, drei Jahre nach der Hochzeit, war er wieder voll präsent in Kristins Posteingang: „Können wir uns nicht doch mal wieder treffen?“ Ungewollt taten sie es in einem Einkaufzentrum, rund 40 km von den jeweiligen Wohnorten entfernt: Kristin allein, Sebastian mit Frau und Kind. Beide sahen sich, doch sie wahrten Distanz – eine weitere Zufallsbegegnung. Dann stand Sebastian nicht zufällig vor Kristins Tür, doch sie rührte sich nicht, er ging. Dann sah Kristin ihn per Zufall auf einem Bahnhof weit weg von ihrem Wohnort in der Ferne, er im Anzug, also geschäftlich unterwegs. Wenn sich die Wege so oft zufällig kreuzen, muss das doch etwas bedeuten?!

Sechs Wochen später meldete sich ein gemeinsamer Kumpel bei Kristin. Bei ihm hatte sich Sebastian ein knappes Jahr zuvor ausgeheult: Er habe die falsche Frau geheiratet. Der Kumpel antwortete: „Japp, du hättest sie nicht eintauschen dürfen, das war dein emotionaler Tod.“

Sebastian erwiderte: „Wir hätten keine Zukunft gehabt. Meine Eltern hätten das nicht zugelassen.“ Das sagte der berufliche Macher. Kein scheues Reh, das sich im Wald versteckt.

Nun erzählte der Kumpel Kristin, dass Sebastian seit zwei Wochen bei ihm wohnt. Und er wolle sie gern sehen. Na eeendlich, nun siegt die Liebe also doch. Er trennt sich von seiner nie geliebten Frau und kehrt zu seiner großen Liebe zurück, den Eltern zum Trotz. Die Autoren von Liebesromanen denken sich halt diese Plots nicht aus, es gibt tatsächlich die von Verlagen so sehr geforderte Entwicklung von Figuren.

18 Tage später: Sebastian wohnt wieder bei Frau und Kind.

3 Tage nach dem Wiedereinzug: Wieder steht er bei Kristin vor der Tür, wieder lässt sie ihn stehen.

Fortsetzung folgt ganz sicher.

Beate & Konrad

Die Braut ganz in Weiß, die blonden Haare liegen auf den Schultern, ein Lächeln im Gesicht. Die Hand greift die des Bräutigams mit perfektem Scheitel, frisch rasiert, füllige Figur, sanftes Lächeln – ein ganz normales Hochzeitsfoto.

Die Braut heißt Beate und ist eine gute Freundin von Kristin. Diese sagt über Beate: „Ich hab noch selten so einen korrekten Menschen kennengelernt wie sie. Ich würde ihr wirklich mein Hab und Gut anvertrauen, ich wüsste, dass es bei ihr in besten Händen ist. Sie ist, so würde ich das mal sagen, egal wie daneben sie auch sein kann, einer der ehrlichsten und zuverlässigsten Menschen.“

Beates Eltern erleben die Hochzeit nicht mit. Die Mutter starb, als Beate 24 war. Der Krebs hatte sich bis ins Gehirn ausgebreitet und so starb sie jämmerlich. Beate hatte ihre Mutter gepflegt, die anderen drei Geschwister hielten sich raus. Der Vater folgte 7 Jahre später.

Die Eltern, geprägt durch die harten Kriegszeiten, hatten lieber in einem Dreckloch gelebt und jeden Cent umgedreht, anstatt Geld auszugeben. Ihr wirklich hart zusammengespartes Geld erbten die Kinder, ein nicht geringes Erbe.

Drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters heiratet Beate ihren Konrad. Seine Mutter sagte vor dem Umzug in die Schweiz, dass sich ihr Sohn um die Geldgeschäfte kümmern würde, sie solle es bar bringen, das sei am besten, weil es ein spezielles Ausland sei. Beate nahm das Angebot an.

Die Hochzeitsgesellschaft sammelte im Vorfeld für eine riesige Schultüte, weil Beate zu ihrer Einschulung aus Kostengründen keine bekommen hatte. Alles sehr harmonisch.

Der große Tag ist vorüber. Als Hochzeitsgeschenk bekommt das Paar von Konrads Eltern 4 Wochen Kalifornien. Für ihn wird ein Traum wahr, auch Beate freut sich riesig. Seine Eltern kommen mit, die Zimmer liegen direkt nebeneinander. Jeden Abend kommt die Mutter ins Zimmer, schüttelt Hemd und Hose ihres Sohnes auf und legt sie über den Stuhl. Jeden Morgen legt sie ihm die Sachen zurecht, die er anziehen soll.

Kennengelernt hatten sich Beate und Konrad wenige Monate zuvor bei einem Kongress ihrer Religionsgemeinschaft. Es folgten viele Telefonate und zwei, drei persönliche Treffen. Sex vor der Ehe war Tabu, Konrad hatte es damit aber eilig. Beate gab ihren kompletten Hausstand in Deutschland auf, verkaufte ihr Auto vor dem Umzug in die Schweiz. Sie könne sein Auto nutzen, versprach er.

Als sie bei ihm wohnt, darf sie das Auto nur fahren, wenn er dabei ist. Als sie sich mit Kristin an der Grenze für ein paar Stunden treffen will, will er mitfahren. Kristin sagt daraufhin ab, für sie war Konrad längst entzaubert. (Ihre tatsächliche Bezeichnung für ihn hat etwas mit dem Körperteil unterhalb des Rückens zu tun.)

Nach der Hochzeit stellt Konrads Mutter das Paar zur Rede: „Wie wollt ihr verhüten oder wollt ihr ein Kind?“ In dieser Frage herrscht Einigkeit bei Beate und Konrad: Nein, sie wollen kein Kind. Für die Mutter ist der fehlende Kinderwunsch kein Problem, nur die Art der Verhütung muss geklärt werden.

Abseits dieser Einigkeit vergeht kein einziger Tag ohne fliegende Tassen bei den frisch Vermählten.

Nach der Arbeit fährt Konrad nicht heim zu seiner Frau, sondern zu seinen Eltern, wo er isst. Beate verbringt die Abende weitgehend allein. Als die Kaffeemaschine kaputtgeht, zieht Konrad mit seiner Mutter los und sie kaufen eine neue, die Mutter sucht aus. Beim Herd wiederholt sich das Spiel.

Kurz nach der Hochzeit wird Konrad fristlos entlassen, den Grund erfährt Beate nie. Von da an leben sie von Beates Erbe, denn Konrad habe nichts gespart, so sagt er. Später wird Beate erfahren, dass er sehr wohl über Guthaben verfügte.

Beate findet einen Job, Konrad nach einigen Monaten ebenfalls. Konrads Mutter nutzt ihren Schlüssel zur Wohnung in Beates Abwesenheit, hängt Beates gewaschene Sachen ab – die ihres Sohnes bleiben an der Leine. Sie legt Beates Sachen in eine Plastiktüte und diese in die Sonne. Wenn Beate abends nach Hause kommt, findet sie die zerknitterte Wäsche vor. Viele weitere Schikanen folgen.

Beim Vornamen wird Beate von der Mutter nach der Hochzeit nicht mehr genannt. Ab sofort ist sie: „Hitler“. „Hitler, komm her! Hitler, halts Maul!“ Der Hass der Eltern von Konrad auf die Deutschen ist immens, was unter Schweizern nicht unüblich ist. Wenn du mit einem dicken Konto kommst, kannst du dich vom Deutschsein reinwaschen.

Die völlig unterschiedlichen Gesichter von Konrad vor und nach der Hochzeit zeigen sich auch daran, wie er Beates Kontakte unterbindet. Zu ihrem Bruder nach Deutschland darf sie nicht. Telefongespräche beendet sie eilig ohne „Auf Wiedersehen“, wenn Konrad durch die Wohnungstür tritt. So bricht auch die Verbindung zu Kristin ab.

Eines Tages sitzen drei Glaubensbrüder im Wohnzimmer, als Beate nach Hause kommt. Sie erklären ihr, dass die Frau des Mannes Untertan sein muss. Beate ist davon wenig überzeugt und haut auf den Tisch, berichtet aus dem Alltag mit Konrad, woraufhin dieser den Kopf gewaschen bekommt. Später darf er die Versammlungen seiner Gemeinde nicht mehr besuchen, weil sein Verhalten unpassend war und muss mit seiner Mutter nun immer 50 km fahren in eine andere Gemeinde.

Konrads Vater hat wie sein Sohn nichts zu sagen. Brav unterwarf er sich stets seiner Frau bis zum Tod.

15 Monate nach der Hochzeit findet Beate einen Briefumschlag auf dem Küchentisch: ein Flugticket nach Deutschland zu ihrem Bruder und eines für den Rückflug drei Wochen später. Sie freut sich riesig über das Stück zurückgewonnene Freiheit.

Als sie vom Besuch nach Hause kommt, findet sie wieder einen Briefumschlag: Ein Anwalt schreibt, dass Konrad sich scheiden lassen möchte. Begründet wird der Wunsch damit, dass sich Beate nicht in das Mutter-Sohn-Verhältnis eingefügt hat. Damit komme ein weiteres Zusammenleben nicht mehr in Frage. Innerhalb von 4 Wochen soll Beate ausziehen, was praktisch unmöglich ist durch das Leben in der Schweiz. Neue Wohnungen sind extrem schwer zu bekommen, erst recht für eine Deutsche. Als sie Konrad fragt, wie sie das machen soll, antwortet er: „Das musst du mit dem Anwalt besprechen.“

Der Anwalt ist gnädig und verlängert die Frist um einen Monat. Auf Knien bettelt Beate bei Wohnungsgesellschaften, man setzt sie auf Listen – hinter 150 Wartende. Wieder konfrontiert sie ihren Noch-Mann mit der Realität. Seine Reaktion: „Dann geh doch nach Deutschland.“

Beate nimmt sich selbst einen Anwalt – später wird sie dies als beste Entscheidung während dieser Jahre bezeichnen. Er rät ihr dringend davon ab, vor der Scheidung in die alte Heimat zurückzukehren. Dies würde alles komplizierter machen. Also bleibt sie, zumal sie sich wohlfühlt, Freunde in der Glaubensgemeinschaft gefunden hat. Die Mutter schläft nun täglich in der Wohnung, im Ehebett neben ihrem Sohn, Beate darf auf der Couch schlafen.

Sieben Monate nach dem Ultimatum erweist sich eine Frau von einer Wohnungsgesellschaft gnädig, zieht Beate auf der Liste ganz nach vorn und so bekommt sie ein neues Zuhause, allerdings erst nach weiteren drei Monaten. Konrad freut sich riesig über diese Botschaft, nimmt die weitere Verzögerung in Kauf.

Kristin, die bis dahin von all dem nichts weiß, geht nach langer Zeit der Stille über die Auslandsauskunft und telefoniert so mit Konrads Mutter. Ihre Frage nach Beate beantwortet die Mutter hysterisch brüllend mit: „Ich kenne keine Beate! So eine kenn ich nicht!“ und Ende.

Beate meldet sich bei Kristin von sich aus nach der Trennung, 3 Jahre nach dem letzten Kontakt. Sie berichtet u.a., dass Konrad, der sich so rührend um die Finanzen kümmern wollte, den Großteil ihres Erbes veruntreut hat. Er beteuerte immer wieder, dass er die in der Schweiz üblichen Rücklagen für die jährliche Steuerzahlung angelegt habe – Beate geht mit riesigen Steuerschulden aus der Beziehung. Wenn sie hatte lesen wollen, was er zu Ehe-Zeiten unterschrieb, wurde er wütend: In der Ehe habe man sich zu vertrauen und sie brauche das nicht zu lesen. Punkt.

Nach der Trennung reist er ins verhasste Deutschland, um in Beates ehemaliger Gemeinde Rufmord an ihr zu begehen. Das Gleiche macht er in der Schweiz.

Wenn du ein Mensch bist, der anderen nicht weh tun kann und will, dann fällt es so schwer zu glauben, dass es andere Menschen gibt, die so etwas abziehen können. Genau das sagt auch Beate heute. So etwas war für sie einfach nicht vorstellbar. Und sie sagt, diese Ehe war von Konrad und seiner Mutter reine Berechnung wegen ihres mitgebrachten Bargeld-Erbes.

Beate verlor in dieser Beziehung nicht allein viel Geld. Auch ihrer Gesundheit setzte die Ehe zu. Den Rat von alten Freunden, sie könne doch nach Deutschland zurückkehren, hätte sie auch dann nicht befolgen können, wenn sie dies gewollt hätte. Rückblickend weiß die eigentlich unverwüstliche Frohnatur, dass ihr Mann und seine Mutter sie in eine Depression geschickt hatten – unter den Umständen kein Wunder. Diese Beziehung schüttete ständig Stresshormone aus und das Glückshormon Serotonin ist unter Stress recht chancenlos. Dabei wusste sich Beate zeitlebens zu wehren, sie kann durchaus anstrengend sein. Wenn sie etwas nicht machen will, macht sie es nicht. Eine andere Frau wäre unter Konrad und seiner Mutter vielleicht auch körperlich krank geworden, möglicherweise hatte Beate auch einfach nur Glück. Doch einen Umzug auf die Beine zu stellen, wie es die Freunde empfahlen, erneut das komplette Leben zu verändern, dazu fehlte aber auch der taffen Beate damals völlig die Kraft. Es ging nur noch ums Funktionieren im Alltag, der Anwalt stützte sie dabei.

Wie schlimm ihr Zustand zwischenzeitlich war, erfährt ihre Freundin Kristin erst mit vielen Jahren Abstand. Über ihre Naivität schüttelt Beate selbst den Kopf. Den täglichen Streit mit ihrem Mann nahm sie hin im Glauben daran, dass es mit der Zeit besser werden würde. Erfahrung mit dem Zusammenleben mit einem Mann hatte sie keine. Und ein solch böser Mensch soll aus den eigenen Glaubensreihen kommen? Im Leben nicht. Und der Bad Boy wandelt sich halt immer zum Guten, wenn die richtige Frau an seiner Seite ist. So steht es geschrieben.

Der Verlust des Erbes tut noch heute weh, doch sie scheint nicht nur von den Worten her mit diesem Kapitel ihren Frieden gemacht zu haben. Einen neuen Mann sucht Beate nicht – sie darf nicht wegen ihres Glaubens. Und dürfte sie, dann hätte der Neue zunächst unter den schlechten Erfahrungen länger zu leiden, da ist sie sich sicher. Vor allem in Sachen Vertrauen bräuchte es einen langen Weg. Sie würde auf alles ein Auge haben wollen.

Corinna & Ferdinand

Corinna wird von ihrem Umfeld als verzogene Göre beschrieben, ihre Mum ist aber sehr stolz auf ihre Tochter. Mit der Mutter braucht man auch nicht zu diskutieren, ihre Ansichten stehen fest und keiner kann daran rütteln. Deren Schwester Gerlinde würde sich gern diesem Teil der Familie entziehen, aber sie landet letztlich dennoch bei den Feiern, hat vorher Blähungen und Bauchschmerzen und ist danach vier Tage handlungsunfähig. Als Kind ging Gerlinde gegenüber ihrer Schwester immer unter, rangierte immer auf Platz 2 bei den Eltern, weit abgeschlagen.

Als Gerlindes Tochter einen Freund namens Sören hatte, bandelte wenig später auch die verzogene Corinna mit einem Sören an. Als Gerlindes Tochter einen Freund namens Ferdinand hatte, ging auch Corinna mit einem Ferdinand, den sie nach sechs Monaten heiratete, wenig später wurde sie schwanger. Sie wollte ihrer Cousine unbedingt zuvorkommen. Gerlinde spricht von absoluter Torschlusspanik bei Corinna – mit 25. Und Ferdinand habe bei der Hochzeit seine Eier abgegeben. Also zwei Menschen ohne Ego.

Schon in der Kindheit musste Corinna immer die Spielzeuge haben, die auch ihre Cousine hatte. Bekam sie diese nicht, machte sie eben die Spielzeuge der Cousine kaputt oder nahm sie heimlich mit.

Und so weiter

Du siehst zwei Menschen lächelnd auf ihrem Hochzeitsfoto – beneidest du sie immer noch? Willst du das, was sie haben?

Ja, auch ein Hochzeitsfoto sagt nichts darüber, wie es hinter den Gardinen aussieht. Ich habe nicht nach solchen Eheschließungen gesucht. Die Geschichten fanden genau wie die der suchenden Single-Männer und -Frauen aus den vorherigen Kapiteln von selbst ihren Weg zu mir. Es gab auch noch zwei Paare, bei welchen einmal die Braut und einmal der Bräutigam zum Zeitpunkt der Hochzeit eine Affäre hatten. Eine weitere Frau heiratete ihren Freund in der Hoffnung, er würde danach nicht mehr mit anderen flirten – die Ehe hielt ein Jahr und zerbrach an seiner Affäre. Eine andere Frau heiratete einen Mann, den sie einen Monat vor Beginn der Beziehung als dumm und frei von Ehrgeiz bezeichnet hatte. Als Kumpel wäre er in Ordnung, als Partner käme er aber nie in Frage. Auch diese Frau hat eine heftige Kindheit hinter sich und Eltern, die mit sich selbst nicht zurechtkamen. Ein Kind will sie nicht, weil sie das Geschrei von Babys nicht ertragen kann. Sie würde aber wegen des Drucks von Familie und Gesellschaft eines bekommen. Und sie bekommt eines.

Ich hörte im gleichen Zeitraum von keiner Hochzeit, wie ich sie mir vorstelle: Zwei Menschen heiraten aus Zuneigung. Damit will ich nicht sagen, dass es solche Ehen nicht gibt. Ich fände es furchtbar ernüchternd, wenn es nur solche Beziehungen aus Zwängen, fehlendem Ego und Verlogenheit gäbe. Diese Verbindungen machen früher oder später oft krank. Und wachsen Kinder in solch lieblosen Familien auf wie das Kind von Sebastian und seiner verhassten Frau, ist der Weg zum Psychologen mit 20 vorprogrammiert. Wie soll das Kind ein liebevolles Miteinander kennenlernen, wenn die Eltern sich aus Krampf zusammengetan haben? Wie soll es ein stabiles Ego bekommen, wenn die Eltern keines haben? Und wie beziehungsfähig wird dieses Kind als Erwachsener sein? Ist die nächste Zwangs-Ehe die logische Folge?

Nach all diesen Erzählungen, von denen ich Ohrenzeuge wurde, hat sich mein Bild von den Menschen und dem, was sich in den Familien abspielt, deutlich verändert. Die Suche nach der Milchschnitte, deren Kindheit so angenehm verlief wie man sich das vorstellt und wünscht, dauert an. Seit 3 Jahren habe ich in Hanna eine Mitstreiterin gefunden für diese Mission, denn ihr geht es genauso. Wir glauben nicht mehr daran, dass wir unabhängig voneinander durch eine Fügung des Schicksal zufällig immer wieder über solche Geschichten stolpern, zumal Freunde und Familienmitglieder von uns die gleichen Erfahrungen machen: Hinter den Gardinen spielt sich viel mehr ab, als man es für möglich hält.

Nun könntest du sagen: Nicht mein Problem, ist deren Privatsache. Aber was sich dort abspielt, erklärt für mich die scheinbare Spaltung der Gesellschaft. Wer diese verstehen will, sollte sich mit psychischen Störungen und Erkrankungen befassen und wie diese entstehen. Dabei bringt die blanke Theorie wenig. Nur die Praxis kann ein realistisches Bild zeigen und alte Bilder mit Klischees geraderücken. Eines dieser Klischees lautet:

12. Psychisch krank sind nur die ganz unten

Als Katharina, Elisabeth und andere Frauen mir regelmäßige Updates ihrer Suche nach dem perfekten oder einem wenigstens passablen Mann zukommen ließen und ich meine eigenen Erfahrungen mit all den mehr oder weniger schlimmen Geschichten von Frauen machte, glaubte ich, es sei ein Problem der ländlichen Gebiete des Ostens. Der ganze Rest der Republik, von dem ich mir nur ein Bild über Medien machen konnte, wirkte ganz anders. Dort gab es nur diese reifen, seriösen Erwachsenen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, dazu die vereinzelt Durchgeknallten aus Polizeimeldungen.

Dank Hanna konnte ich auch einen Blick in den Westen werfen, vor allem nach Bayern und Hessen. In ihrem Umfeld gibt es größere Mittelstandsfirmen, im völligen Gegensatz zu den Regionen, die ich aus meinem Umfeld kenne. Entsprechend groß ist der Unterschied bei Bildungsgrad, sozialem Hintergrund und Vermögen. Was gleich ist: Hanna kann aus ihrem Umfeld genauso viele Geschichten erzählen, die sprachlos machen. Sie ging mit Kristin in die Schule, jener Frau, die von ihrem Freund Sebastian trotz glücklicher Beziehung sitzengelassen worden war, weil sie für seine Eltern nicht standesgemäß war.

Hanna und ich sind uns einig: Ob man im Plattenbau wohnt oder in der noblen Villa, ob man die Relativitätstheorie versteht oder zehn Mal durch die theoretische Führerscheinprüfung fällt: Soziale Herkunft und Intelligenzquotient sagen nichts über die psychische Gesundheit aus. Studenten galten lange als „gesunde“ Gruppe, doch 2017 waren 17% von einer psychischen Diagnose betroffeni. Zeitdruck. Leistungsdruck. Finanzielle Sorgen. Zukunftsängste. Was ist das Studium, das du jetzt beginnst, in ein paar Jahren noch wert, wenn sich die Arbeitswelt dank Digitalisierung und Robotik so schnell wandelt? Aber auch bei ihnen findet man den Startpunkt für psychische Störungen und Erkrankungen im Kinderzimmer.

Olivia & Lara

Mit 28 verlässt Olivia ihr Elternhaus und zieht in eine eigene Wohnung. Diese gehört den Eltern. Olivia will das Alleinleben probieren, geht mit wenig Selbstvertrauen an die Sache, kann es nicht ertragen, hat Angst, ist viel öfters bei den Eltern.

Diese sind auch der Grund für das Ende von Olivias letzter Beziehung, die drei Jahre gehalten hatte. Ihnen gehört eine Firma und auch die Eltern des Ex-Freundes sind Unternehmer. „Die andere Firma spielt in einer anderen Liga und damit ist der Freund nicht der Richtige“, sagten Olivias Eltern. Was klang wie: „Die andere Firma ist uns zu winzig, mit solchen Leuten geben wir uns nicht ab“, hieß in Wirklichkeit: „Mit denen können wir uns nicht messen, die stehen weit über uns.“ Wenig Selbstvertrauen. Angst.

Wenn Olivias Vater auf Dienstreise ist und ein Sturm zieht auf, bricht bei den anderen vier Familienmitgliedern pure Angst aus. Ist der Vater da, haben sie zu fünft Angst. Ihnen geht es finanziell bestens, materiell fehlt es an nichts – nur gegen die Angst haben sie kein Mittel. Selbst auf ihren Familienfotos wirken sie angespannt, auch wenn alle lächeln.

Drei Jahre hatte vor allem die Mutter in ihrer Angst vor dem gefühlt übermächtigen Elternhaus des Freundes gegen Olivias Beziehung gearbeitet. Nun muss sie eingestehen, dass ihre Tochter danach nie wieder so glücklich war wie mit diesem Mann. Sie überlegt, dass Olivia inzwischen mit dem Ex verheiratet sein und ein Kind haben könnte. Doch nun hockt die Tochter zu Hause und hat Angst.

So wie Olivia u.a. Angst vor dem Alleinsein hat, hat ihre jüngere Schwester Lara (19) noch viel mehr Ängste dank ihrer Eltern erlernt: kein Alkohol, keine illegalen Drogen, keine Schminke, alles unanständig.

Doch phasenweise trägt Lara Schminke: in ihren Manien, genau wie die zuvor genannten manischen Frauen. Wenn sie durch ihre bipolare Störung in die Depression abtaucht, verschwindet die „unanständige“ Schminke wieder. Manie-typisch fallen auch bei ihr andere Hemmungen: Im Freibad zieht sie an den Badehosen wildfremder Männer, für Freunde legt sie Instagram-Accounts an und macht damit bösen Unsinn, in der Fußgängerzone singt sie lauthals, fordert ihre Freundin auf, mitzumachen. Doch diese würde am liebsten im Boden versinken. Für die Eltern ist diese manische Lara die normale Lara: „Endlich ist sie wieder gesund, unser lebhaftes Kind.“

Nur ist das, was Lara in den Manien anstellt, weitab von gesund. Würde sie sich in diesen Phasen verschulden, wie es zum Störungsbild gehört, und müssten die Eltern dafür geradestehen, wäre deren Blick auf diese Phase wohl weniger entspannt. Erst recht, wenn Lara – ebenfalls nicht selten für Maniker – zu Drogen greifen und etwas anstellen würde.

Für Lara ist das Ende jeder manischen Phase heftig. Nach der bisher letzten sagte sie, ihr sei nicht bewusst gewesen, was sie angerichtet hat – genauso ging es Katis Ex nach seinen Manien. Lara entschuldigte sich bei Familie und Freunden für all das, was sie auf deren Kosten angestellt hatte, kam in die depressive Phase und musste in dieser ihre Ausbildung abbrechen, weil es ihr dreckig ging. Mit der nächsten Manie wird alles von vorn beginnen.

Auch bei dieser Familie wird es einen Grund geben, weshalb die Eltern so ängstlich sind und auch dieser Grund wird in der Kindheit von Vater und Mutter zu finden sein. Und die Chancen sind sehr groß, dass Lara und Olivia ihre Ängste an eigene Kinder vererben würden. Angststörungen betreffen 15% der Deutschen und stehen auf Platz 1 der psychischen Erkrankungen. Bei Frauen sind es 21%.ii

Karsten

Karsten ist um den Start ins Erwachsenenleben eigentlich zu beneiden. Von seinem studierten Vater, der zehn Weiden bewirtschaftete und Hirsche züchtet, bekam er wie seine älteren Geschwister ein dickes Startkapital. Mit 18 kaufte Karsten sich dafür ein Hotel im Odenwald, ruhige Lage. Nebenbei züchtet er Tiere, verkauft die Wolle. Für sich arbeitete er 50 Stunden in der Woche, bei seinen Eltern war er für 32 angestellt. Sein Vater machte ihm keinen Druck.

Mit 12 brach Karsten das erste Mal zusammen, die erste Depression. Das Abi strebte er an, die psychische Verfassung ließ trotz passender Leistungen nur den Realschulabschluss zu.

Mit 20 liegt er in der Psychiatrie, seine Mutter hatte den Notarzt gerufen, weil Karsten sich umbringen wollte. Er erzählt, dass sich seine Geschwister schon früh weit vom Vater abgesetzt hatten. Auch wenn dieser keinen Druck machte: Er war unausgesprochen da. Das dicke Startkapital wog schwer: „Damit MUSS ich jetzt erfolgreich sein! Das kann ich nicht verschleudern, schließlich hat mein Workaholic-Vater dafür hart gearbeitet.“ Der sagt jedem im Ort, wie stolz er auf seinen Karsten ist. Nur Karsten weiß davon nichts aus erster Hand, also aus dem Mund seines Vaters. Frei entfalten konnte er sich nie, stellt er in der Klinik fest: Er folgte dem Weg, den er von seinem Vater vorbestimmt glaubte.

Ein Umdenken bei den Eltern hörte ich in den Geschichten der psychisch am Boden Liegenden praktisch nie. Schuldbewusstsein ist Mangelware. Eher wird das erwachsene Kind als faule Sau bezeichnet, das einfach nur Rettichsaft trinken solle, dann gehe es ihm wieder gut und er kann arbeiten gehen. Karstens Vater setzte sich eine Woche nach der Klinikeinweisung seines Sohnes zum Psychologen – was nur dank privater Krankenversicherung möglich war. Ansonsten kannst du auf einen Termin Monate bis Jahre warten, wenn du überhaupt noch als Neu-Patient aufgenommen wirst.

Der Vater erzählte dem Psychologen, dass er selbst eigentlich schon seit Jahren deutlich über seine Verhältnisse arbeite, eigentlich könne er nicht mehr und eigentlich müsste er kürzer treten. Karsten hatte von dieser Überlastung nie etwas bemerkt. Dass seine Mutter längst nicht mehr konnte und gedanklich ausgestiegen war aus dem Familienbetrieb, dies wusste er.

Der Vater reduzierte die Zahl seiner Weiden deutlich, was Karsten ein schlechtes Gewissen machte. Und wirklich auf die Beine kommt er auch nach den 12 Wochen Psychiatrie nicht. Nachrichten beantwortet er mit zwei Wochen Verzögerung und mit einem Wort. Ein Jahr nach der Einweisung will er wieder in die Klinik. Bzw. er müsste. Seine Arbeitszeiten hat er stark reduziert, dennoch sind die Suizidgedanken zurück, weil kein Land für seine psychische Gesundheit in Sicht ist. Dieses Problem teilt er mit den meisten psychisch Erkrankten.

Weitere Monate später wird er von seiner Freundin verlassen. Karsten hatte seine Arbeitszeiten wieder gesteigert, für die Beziehung blieb keine Zeit. Die Trennung zieht ihn in ein tiefes Loch, er will nun wieder kürzer treten. Hat ihm sein Vater vorgelebt, was im Leben zählt, nämlich pausenlose Arbeit? Was würde er seinem eigenen Kind vorleben?

Jule

Jule ist 20, genauso alt wie Karsten. Auf ihren Facebook-Fotos hat sie die Ausstrahlung eines Models und auch die Figur. Sie schaffte das Abi, studiert Medienwissenschaften, ist eine echte Party-Maus. Der Vater arbeitet im Maschinenbau in gutverdienender Position. Finanziell ist Jule durch die Eltern vorerst abgesichert.

Aus dem Jahr als Au-Pair in den USA kam sie irgendwie verändert zurück, sagt ihre Mutter zu Jules Zimmerkollegin in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Jule liegt im Bett mit ihrem Plüschtier, das sie schon bei der Einlieferung in den Händen hielt. Sie spricht kaum. Ihre Mutter versucht, Jule zu animieren: „Siehst du, da ist ein Waschbecken. Hier kann ich dich waschen oder willst du dann duschen?“ Sie spricht in jenem Ton, in dem man mit kleinen Kindern redet. Jule murmelt etwas, was wie „Ich will nur schlafen“ klingt.

Die Eltern kommen täglich zu Besuch, stundenlang. Der Ton der Mutter bleibt auf Kleinkind-Niveau: „Du, Jule, ich hab mit der Sabine und der Issi eine Whatsapp-Gruppe gemacht, weil du jetzt hier bist und hab es ihnen mitgeteilt, dass du hier bist. Das ist doch in Ordnung?“

Jule reagiert minutenlang nicht.

Dann fragt die Mutter: „Ist dir das nicht recht?“

Jule: „Ich möchte mit niemandem darüber sprechen, dass ich jetzt hier bin, auch nicht mit Sabine oder Issi.“

Die Mutter: „Das musst du ja auch nicht, das entscheidest allein du. Siehst du Jule, das ist dein Schrank, der mit dem gelben Knauf, das ist deiner. Der mit dem blauen gehört der Frau, der andere ist deiner.“

Wirklich lachen kann man über die scheinbar komplette Hilflosigkeit der Mutter nicht. Wie wurde Jule wohl zu Hause behandelt? Ist es ein Wunder, dass sie sich so unselbstständig wie ein Kleinkind zeigt?

Während sie weitgehend wortlos und abwesend im Bett liegt und sie bei der Körperpflege auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen ist, belehrt ihr Vater Jule: „Du musst nach der Klinik an deine berufliche Zukunft denken. Mit 20 muss man wissen, was man machen will. Schau dir an, wie die Tochter deiner Zimmerkollegin ihr Leben meistert, sie ist so alt wie du.“

Und du denkst nur: Arme Jule. Du willst sie rausholen aus diesem Elternhaus. Welche Zukunft soll es für sie geben zwischen einer Mutter, die ihre erwachsene Tochter wie ein Kleinkind behandelt und einem Vater, der das Einfühlungsvermögen von Holz hat?!

Wie Jule wird auch die Mutter vom Vater/Mann belehrt. Immer wieder. Warum lässt die Frau das zu? Wie kann man mit so einem lieblosen Partner jahrzehntelang durchs Leben gehen?

Wieder ist die Mutter zu Besuch, dieses Mal allein. Wieder sitzt sie an Jules Bett: „Jule, ich verstehe gar nicht, wieso es dir so schlagartig schlecht geht. Ich wollte doch immer nur dein Bestes und wollte immer, dass es dir besser geht als mir als Kind. Du weißt ja, dass es ganz schlimm war, was sie mit mir gemacht haben.“

Spätestens an dieser Stelle gefriert jegliches Schmunzeln. Und wieder gilt: Die Kindheit legt die Weichen für das Leben als Erwachsener. Immer. Und ich kenne niemanden, der von diesen Weichen je runtergekommen ist, weder mit 20, 40, 65 oder jenseits der 80. Inzwischen gilt es als abgesichert, dass Menschen in Teilbereichen ihres Verhaltens in jenem Alter steckenbleiben, in welchem sie ein Trauma erlitten haben. Man kann mit 50 beruflich wirken wie ein gestandener Erwachsener, aber in seinem sozialen Verhalten hat sich dieser Mensch nie weiterentwickeln können nach jener Zeit, die ihn durch das Trauma prägte. Erwachsene sind Kinder in großen Körpern. Hätte Jules Mutter eine normale Kindheit erleben können ohne Trauma, würde sie nicht so mit ihrer Tochter sprechen. Sie hätte sehr wahrscheinlich auch nicht diesen Mann geheiratet oder hätte sich längst getrennt und womöglich wäre die Tochter nie auf der Geschlossenen gelandet. Nur einen Einzelnen zu betrachten, bringt einen nie weiter bei der Suche nach Gründen. Das Auge muss der Kette folgen, von Generation zu Generation. Dadurch wird vieles schnell logisch, was zuvor ratlos machte.

Barbara

Auf ihrem Urlaubsfoto aus New York lacht Barbara mit offenem Mund, wirkt äußerst positiv, selbstbewusst, eingerahmt von ihrem Sohn, der problemlos als Model arbeiten könnte, und von ihrem Mann, der sich über seinen Verdienst bei einem großen Autobauer überhaupt nicht beschweren kann. Der Familie geht es bestens, finanziell gesehen.

Mit Ü60 treibt Barbara den Altersdurchschnitt auf der Psychiatrie-Station mächtig nach oben. Die meisten sind um die 20, wie überall. Aber sie treibt auch viele in den Wahnsinn. In den Gruppentherapien sitzt sie teils gelangweilt da. Oder sie hört zu und winkt ab: „Und DESHALB bist du hier?! Bei MIR zu Hause sind sooo schlimme Dinge passiert, mein Weg ist von sooo vielen Leichen gepflastert und das ist alles in meiner Kindheit passiert und trotzdem habe ich es geschafft zu heiraten und ein Kind zu kriegen. Und du bist nur DESWEGEN hier?!“

Eine Mitpatientin von Barbara bekam nach dem Tod ihres Mannes heftige Depressionen. Am ersten Abend in der Klinik bricht die Notarin im Ruhestand zusammen, der Notarzt kommt, sie reagiert schwerfällig, Gesagtes kommt schwer an. In den Tagen darauf wird sie in den Küchendienst eingeteilt, sie zeigt sich überfordert, jeder nimmt Rücksicht – bis auf Barbara: „Du machst das alles mit Absicht, richtig? So dieses Aufsetzen, dass es dir schlecht geht. Du willst nur, dass sich alle um dich sorgen. Jetzt ist meine Frage an dich: Wäre es nicht besser für dich, wenn du dich zusammenreißt?“

Keinen hat es so schlimm erwischt wie Barbara, davon ist sie 100% überzeugt. Sie lässt das alle wissen und triggert damit die ganze Station.

Ihr Verhalten wirft Fragen auf, wie es wohl zu Hause aussah und aussieht: Wie wird sie sich ihrem Sohn gegenüber verhalten haben in dessen Kindheit, wenn dieser krank war? Konnte sie in diesen Moment urplötzlich einfühlsam sein? Und auf welches Gleis wurde er durch die Art der Mutter gesetzt? Konnte er ein gesundes Maß an Zuneigung und Anerkennung bekommen von dieser Frau? Oder ist sein eigener Platz in der Psychiatrie längst gebucht, wo ihm jemand abspricht, wirklich zu leiden?

„Die hustet sogar arrogant“, meint eine Mitpatientin. Aber Barbara sind diese Meinungen egal, sie will mit dem „Pöbel“ hier eh nichts zu tun haben. Einem isst sie seine Spezialkost weg, weil sie glaubte, er könne ja teilen mit ihr.

Sie ist eine taffe Frau und habe einen taffen Sohn, sehr taff, Medizinstudent und taff, ihr Lieblingswort. Den sehr frühen Tod ihrer Tochter hakte sie als starke, taffe Frau ab, ebenso den Suizid ihrer Schwester und sie ging weiter ihres Weges. Die Eltern waren Alkoholiker und gingen mit Werkzeugen aufeinander los.

Monate vor der Klinikeinweisung bekam Barbara heftige Depressionen. Ihr Mann habe sie nicht mehr wiedererkannt, erzählt sie fast stolz. Sie lag nur im Bett, kam nicht auf die Beine, war zu nichts mehr in der Lage, heulte nur noch. Und ihr Mann betone laut Barbara immer wieder, wie stolz er sein kann, diese Frau zu haben. In der Klinik flirtet sie mit einem Mitpatienten, trägt den Bademantel recht gewagt – ohne Erfolg. Ihren Mann bringt sie bei einem Besuch an den Rand des Wahnsinns, als es ihm nicht gelingt, Barbaras Handy wieder zum Laufen zu bringen. Mit technischen Dingen ist sie heillos überfordert. Das darf aber niemand wissen. Als eine Mitpatientin später das Handy zum Laufen bringt, fällt Barbara ihr um den Hals und flüstert: „Das bleibt aber unter uns, das musst du mir versprechen.“ Die Mitpatientin braucht eine halbe Stunde, um sich von dieser für sie verstörenden Reaktion zu berappeln.

Barbara ist sich bewusst, dass die Therapeuten sie knacken wollen, aber das würden sie nicht schaffen, lächelt sie triumphierend, so wie auf dem Urlaubsfoto aus New York.

Lars

Lars ist 37, hochintelligent, hochbegabt, hat studiert, ist Vater eines Sohnes – und er ist Messie. Als eine Bekannte seines besten Freundes die Erzählungen über die Zustände in der Wohnung von Lars nicht mehr ertragen konnte, schaltete sie anonym das Jugendamt ein. Der Freund hatte immer wieder von Müllbergen berichtet, durch welche die Ratten sausten. Mitten darin lag das Baby, immer wieder brüllend, oft wohl aus Hunger. Die Mutter verbrachte die Zeit auf dem Sofa liegend, halbnackt und Talkshows schauend. Genau wie Lars war sie mit Kind und Haushalt völlig überfordert. Das Amt kam am nächsten Tag, nahm den Sohn mit, der weniger wog als bei seiner Geburt, und erteilte die Auflage, dass die Wohnung innerhalb von fünf Tagen hygienisch sauber sein muss, ansonsten werde das Kind dauerhaft woanders untergebracht.

Ben

Die Karriere soll Ben, 25, eigentlich noch vor sich haben. Bachelor und Master sind erledigt, in der Klinik schreibt er weiter an seiner Doktorarbeit. Während seines Studiums hatte er gearbeitet, allerdings kamen die Kunden nicht mit ihm klar. Seine Selbst-Diagnose: depressionsartige Verstimmung. Er sei bereits in einem guten Zustand in die Klinik gekommen, nach einer Woche erklärt er sich für geheilt, ist energiegeladen, putzt in der Küche, wozu sich keiner seiner Mitpatienten in der Lage fühlt. Er drängt sich in alle Gespräche, weiß alles besser, belehrt sehr gern. Mitpatienten empfinden allein seine Anwesenheit als einzige Provokation. Einer von ihnen sagt: „Wie kann der hier sein und seine Doktorarbeit schreiben und einem anderen den Platz wegnehmen?!“

Psychische Probleme haben nichts mit Intelligenz zu tun. Diese schützt nicht vor Störungen oder Erkrankungen, genauso wenig wie die soziale Herkunft. Die Gefahr kann meiner Erfahrung nach nur verringert werden mit einer ehrlich-liebevollen Kindheit. Das bedeutet nicht, dass jeder Furz des Nachwuchses mit Rosenduft verglichen werden soll. Solche übertriebene Hingabe endet oft mit dem gleichen Ergebnis wie unterlassene Anerkennung. Am Ende treffen sich die Kinder aus solch unterschiedlichen Elternhäusern als Erwachsene in der Psychiatrie.

13. Wege in die Psychiatrie

Was sind das nur für Menschen, die auf der Psychiatrie-Station herumlaufen? Wenn man den panischen Ängsten der Fahrstuhlbenutzer folgt, die ich anfangs erwähnte, dann müssen das Männer und Frauen sein, deren Leben und Taten Stoff für Horrorfilme bietet. Auf jeden Fall durchgeknallt und unzurechnungsfähig. Und vermutlich bewaffnet.

Bis vor drei Jahren hatte ich selbst keine Vorstellung, wie genau Menschen in der Psychiatrie landen. Es gab einfach keinen Anlass, mich damit zu befassen. Aus Kindertagen kannte ich die Sprüche: „Wenn du so weitermachst, kommst du ins Irrenhaus!“ Ob Irrenhaus oder Klapsmühle – damit wurde Angst gemacht, dort wollte man um keinen Preis landen. Horror eben.

Ich kannte auch den Unterschied zwischen Psychiater und Psychologen nicht. Für mich war beides dasselbe und beim Psychiater würde man sich auf die berühmte Couch legen. Heute weiß ich, dass man bei ihm nicht lange im Sprechzimmer sitzt, denn Psychiater kümmern sich vor allem um die Medikamente, machen Einweisungen und delegieren ihre Patienten wenn nötig zu anderen Ärzten. Sie sind eher wie Hausärzte, spezialisiert auf psychische Erkrankungen. Beim Psychologen ist man deutlich länger, hier wäre diese Couch zu finden, auf der man sich das Herz ausschütten darf. Der Satz „Geh mal zum Psychiater!“ ist also falsch, wenn man sagen will: „Du musst dringend herausfinden, was mit dir nicht stimmt.“ Psychologen findet man allerdings meist nur in Kliniken, denn sie dürfen sich nicht selbstständig machen. Dies dürfen nur Psychotherapeuten. So ließ ich es mir erklären.

Der Fahrstuhl des Grauens

Die Fahrstuhlgeschichten haben es verdient, genauer erzählt zu werden.

Story Nr. 1: Hanna fährt mit Crocs an den Füßen und einem Schlüsselband um den Hals aus dem Psychiatrie-Stockwerk ganz oben hinunter in den ersten Stock, allein. Im 3. Stock, Chirurgie, hält der Aufzug, zwei ältere Damen steigen zu. Eine hat einen Blutbeutel bei sich, also eine Patientin, die andere war zu Besuch. Sie sehen, dass Hanna die 1 gedrückt hatte, die Damen selbst wollen ins Erdgeschoss. Sie mustern Hanna und strahlen über das ganze Gesicht. Dann sagt die eine freudig zu Hanna: „Ich wünsche Ihnen ein richtig schönes Wochenende, wenn Sie schon Wochenende haben. Vielleicht haben Sie ja morgen frei und müssen nicht arbeiten.“

Hanna denkt: „Häh?!“ Waren es Crocs und Schlüsselband, die den Eindruck vermittelt hatten, sie würde hier arbeiten? Sie fängt sich schnell und antwortet in ihrer staubtrockenen Art: „Nein, ich komme hier vom 7. Stock, ich wohn´ dort.“

Die Damen schauen plötzlich ganz anders und treten unauffällig ein paar Schritte von Hanna weg. Als sie auf der 1 aussteigt, verabschiedet sie sich: „Ich wünsche Ihnen trotzdem ein angenehmes Wochenende.“

Story Nr. 2: Hanna steht vor dem Fahrstuhl im 1. Stock, die Tür geht auf, zwei Männer sind drin. Sie fragt: „Rauf oder runter?“

Sie schauen, antworten: „Rauf.“

Hanna geht hinein, sieht, dass die 5 gedrückt ist, drückt die 7. Und die Männer beginnen Hanna zu mustern.

Ein Geräusch irritiert Hanna. Sie fragt, was das sei.

Einer erklärt: „Die Lüftung. Hat irgend so ein Dackel angemacht.“ Mit einem Knopfdruck geht sie wieder aus.

Die Männer steigen auf der 5 aus. Der eine sagt beim Weggehen: „Du, die hat aber einen ganz vernünftigen Eindruck gemacht?! Aber hast gesehen? Die hat die 7 gedrückt!“

Der andere: „Die geht da bestimmt nur zu Besuch.“

Der Erste: „Aber die hat Hausschlappen angehabt! Die muss von da oben sein. Aber die hat einen ganz normalen Eindruck gemacht. Ist jetzt aber komisch …“

Story Nr. 3: Nach der Mal- und Gestaltungstherapie im ersten Stock warten Hanna und sieben weitere Patienten aus der Psychiatrie auf den Fahrstuhl. Dieser kommt aus dem Erdgeschoss mit drei Personen, die sich in der Kabine großräumig verteilt haben. Hanna und ein weiterer Patient gehen hinein, sie dreht sich zur Tür um, schaut einen der noch Wartenden an: „Na, willst du nicht mitkommen?“

Er nickt.

Der andere hatte unterdessen auf die 7 gedrückt, was einer der Damen im Fahrstuhl ins Auge gefallen war. Nun fängt die ca. 55-Jährige an: „Mehr kommen hier nicht rein! Das verkraftet der Aufzug nicht!“

Hanna zeigt ruhig auf das Schild: „750 kg, 10 Personen. Wir sind im Moment fünf und von 750 kg sind wir weit entfernt, da passen noch welche rein.“

Die Frau ist nicht überzeugt: „Wenn von solchen wie euch mehr einsteigen, dann steige ich aus!“ Währenddessen drückt sie mehrfach auf den Knopf, der die Tür schließen lässt.

Hanna: „Der Peter ist schlank, der passt noch rein.“

Die Frau: „Darum geht’s gar nicht, der Peter kommt hier nicht rein, zwei von euch reichen!“

Die Tür schließt sich, Peters Flehen „Nehmt mich doch mit!“ wird nicht erhört.

Hannas Begleiter schüttelt leicht und unaufhörlich den Kopf, während die Frau sich nicht beruhigen kann und von den beiden anderen „Gesunden“ Rückendeckung bekommt: „Das geht ja nicht, der Aufzug bleibt stecken und das sind viel zu viele Leute.“

Die erste Frau wieder: „Wenn SOLCHE in dem Aufzug sind, das geht gar nicht!“

Als sie im 5. Stock aussteigt, dreht sie sich noch einmal um, noch immer nicht ruhiger: „Ihr seid ja nicht ganz dicht!“

Hannas Begleiter, ganz ruhig und fürsorglich: „Haben Sie eigentlich ein Angstproblem? Angstbewältigung findet im 7. Stock statt, Sie können gern mal vorbeischauen.“

Die Frau wiederholt sich: „Ihr seid nicht dicht, ihr wollt den Aufzug total überladen und dann bleibt er stecken! Ihr seid nicht dicht! Ihr seid nicht dicht!“

Hanna und ihr Begleiter fahren kopfschüttelnd nach oben und können den anderen von einer weiteren derartigen Begegnung erzählen.

Wer sind nun diese Menschen, vor denen die „Gesunden“ sich so fürchteten? Wem wären sie an diesem Tag im 7. Stock über den Weg gelaufen?

Jasmin

Sie ist Ende 30, als sie in der Psychiatrie Station macht. In der Schule wurde sie immer wieder gemobbt: „Du bist doch nur adoptiert!“ Jasmins Eltern versuchten immer wieder, sie zu beruhigen: „Die anderen Kinder wollen dich nur verletzen.“ Immer wieder versicherten sie ihr, dass dies Lügen sind. Ihre Kindheit war schön, sie fühlte sich geliebt, materiell war alles da.

Als Jasmin mit 39 heiraten will, braucht sie die Geburtsurkunde. So erfährt sie, dass ihre Eltern über all die Jahr gelogen hatten. Nicht die Adoption warf Jasmin aus der Bahn, sondern die Lüge der Eltern.

Carmen

Carmen ist Anfang 20, als sie in die Psychiatrie kommt. Ihr Kleidungsstil ist auffällig, meist in Schwarz gehalten, eher männlich, die Hosen sind zerschlitzt.

Die Eltern wirken besorgt bei ihren Besuchen. Doch beim genaueren Hinhören beschränkt sich die Sorge auf die 10 Euro Zuzahlung pro Tag: „Das war es mit dem Kindergeld! Die Klinik frisst das auf und alles wegen dir!“

Carmens Kindheit und Jugend bestand aus Verboten: keine weltliche Musik, keine weltlichen Freunde, keine weltliche Kleidung. Sie wurde moralisch mit der Bibel geschlagen. Äußerlich rebellierte sie: die Haarfarbe wechselte in alle möglichen Richtungen, von Pink bis Grau. Äußerlich sichtbar ist auch ihr Übergewicht. Das Abi musste sie machen, das Studienfach bestimmten die Eltern, ein Argentinier und eine Ukrainerin. Bezahlen musste Carmen alles selbst, nun auch die Zuzahlung für die Klinik.

Gerda

Auf Druck ihrer Eltern musste Gerda zu DDR-Zeiten abtreiben, zwei Mal. Die Schande wäre zu groß gewesen für die Familie, so die Eltern. Später heiratete sie den Mann, von dem sie schwanger war, sie bekamen zwei Kinder. Gut geht es Gerda nicht. Ihre Mutter sagt noch heute, sie solle sich nicht so anstellen, so schlimm sei das damals nicht gewesen. Dass zumindest die Mutter in Gerdas Kindheit nicht viel liebevoller und damit ungünstig für das Entwickeln von Selbstbewusstsein gewesen war, darf man annehmen.

Peter

Er verdiente Netto 5000 Euro im Monat, hatte Haus und zwei Kinder. Dann überlebte er den Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin Weihnachten 2016 und sein kompletter Lebensstandard geriet ins Wanken. An Arbeit war für ihn nicht mehr zu denken und somit droht alles zu zerfallen, was den psychischen Druck zusätzlich zum Trauma erhöht. Ob er je wieder Boden finden wird, ist offen. Anderen Überlebenden und anderweitig Traumatisierten wie Hanna geht es nicht besser.

Thomas

Ein Jahr bevor es ihn in die Klinik verschlägt, überstand Thomas einen schweren Autounfall. Trotz normaler Geschwindigkeit war er aus einer Kurve geflogen, weil Wasser am Waldrand stand. Der Wagen stoppte an einem Baum. Seitdem fuhr er nicht mehr und ihm ging es schlecht.

Endgültig aus der Bahn warf den 25-jährigen Koch der berufliche Stress über die Weihnachtsfeiertage. Er konnte nicht mehr. Über die Notfallambulanz kam er zunächst in die geschlossene, nach zwei Tagen in die normale Psychiatrie. Zu Silvester wollte er nicht nach Hause, ihm fehlte die Kraft.

Christian

Beruflich und finanziell hat es der 36-Jährige geschafft: Reisen um die Welt, super Verdienst, alles wird ihm von seiner IT-Firma bezahlt. Doch sein Job hat ihn gesundheitlich ruiniert, stellt er in der Psychiatrie fest. Über seinen Pieper gingen ständig Notrufe ein, von Amerika bis Australien. Egal, wann der Notruf kam: Bis 17 Uhr musste er das Problem lösen. Nun hängt der Mund schief, das Gesicht wirkt wie eine verkrampfte Maske, der Körper zuckt immer wieder heftig.

Victor

Victor, 27, glaubt, der Stress um den Bau seines Hauses über die letzten 4 Jahre hat ihn überfordert und in die Psychiatrie gebracht. An manchen Tagen liegt er wie tot im Bett, an anderen Tagen zieht er mit einem sehr aktiven Mitpatienten umher. Mit seiner Situation geht er offen um, erwähnt allerdings nie seine Mutter. Diese hatte sich vor seinen Augen das Leben nehmen wollen. Als man ihm sagt, dass dies ihn aus der Bahn geworfen haben könnte, macht er große Augen: „DAS soll solche Folgen haben können?!“ Überzeugen kann man ihn davon nur schwer, für ihn ist das Drama um seine Mum nicht das Problem.

Matthias (und Lothar)

Mit knapp 50 wandert Matthias über den Flur. Ein Arbeitskollege hatte ihm das Leben zur Hölle gemacht, bis Matthias wegen dieser Behandlung ging. Immer wieder hatte der Kollege gesagt, die „Psychoscheiße“ gehe ihm auf den Geist.

Rund ein Jahr später besucht Matthias in einer anderen Klinik eine einstige Mitpatientin. Plötzlich deutet er auf einen Mann, der über den Flur wandert: „Ist der auch zu Besuch hier oder Patient?“

Die Mitpatientin kennt den Mann aus ihrer Gruppentherapie – und Matthias erkennt ihn als seinen ehemaligen Arbeitskollegen Lothar, knapp 60, wieder. Der Mann, der von der „Psychoscheiße“ nichts wissen wollte, sitzt nun in selbiger. Er spricht von Burnout, wahrt wo es nur geht den äußeren Schein, tritt mit Hemd, Anzughose und dazu passenden Schuhen auf. Matthias kennt ihn genauso: immer vornehm wirken wollen, sich seine Unkenntnisse und Überforderung nicht eingestehen können. Die Mitpatientin erzählt, wie Lothar ständig über seine Frau und Familie spreche. Matthias kann jedoch berichten, dass der einstige Kollege bei jeder Betriebsfeier Frauen angegraben hatte.

Zwei Tage später erzählt Lothar in der Gruppentherapie voller Begeisterung von einer Wanderung am Vortag, auf der er total ausgelassen im Matsch hüpfen konnte, dass es nur so spritzte und er vollkommen mit Schlamm überzogen war.

Warum kann sich ein fast 60-Jähriger, der so sehr auf das äußerliche Erscheinungsbild Wert legt und seinen Arbeitskollegen fertiggemacht hatte, wie ein Kind über eine solche Sauerei freuen? Weil Erwachsene Kinder in großen Körpern sind, deren Special Effects im Kinderzimmer entstanden sind. Lothar erzählt, dass er früher von seinem Stiefvater grün und blau geschlagen wurde, wenn er so etwas gemacht hatte. Jetzt mit fast 60 habe er gemerkt, dass er frei ist und so etwas tun darf.

14. Was du siehst – und was nicht

Welche Geschichte sich hinter einem Menschen versteckt, kannst du nur erfahren, wenn du ihm zuhörst. All die eben Genannten könnten dir auf der Straße über den Weg laufen, dir im Café gegenübersitzen – du würdest nicht vermuten, dass sie Patienten in der Psychiatrie waren oder sind. Und aus seltsamen Verhalten, einer komischen Frisur oder einem gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstil wirst du immer nur Vermutungen anstellen können. Die wahre Geschichte wird dich aber umhauen, mit ihr hättest du nie und nimmer gerechnet. Bei Menschen, die äußerlich überhaupt nicht auffallen, stellt man erst gar keine Fragen: Die sind sicher normal. Hänge dir einen Schlüsselbund um den Hals und trage Crocs wie Hanna, wirst du für Personal der Klinik gehalten. Drückst du den Knopf der Psychiatrie, bist du die Irre, vor der man wegrennen muss. Die äußere Erscheinung kann mächtig täuschen.

Katrin

Was du von Katrin siehst: Bei Instagram postet die 24-Jährige Selfies, die sie mit Kulleraugen im Stil japanischer Comics zeigen. Sie wirkt auf den Fotos auch insgesamt eher wie ein Kind, trotz Piercings. Neben den Selfies siehst du Fotos von Steven, ihrem 3 Jahre alten Sohn, darunter Hashtags wie #ichliebedich und Sätzen wie „Ich kann überhaupt nicht beschreiben, wie sehr ich dich liebe.“ Auch ihre Mutter Jana sagt, Steven sei Katrins Ein und Alles.

Was du nicht siehst: Katrin lebt nur, weil es ihren Sohn gibt. Er ist ihre Lebensversicherung, nur wegen ihm bringt sie sich nicht um. Ihr eigener Start ins Leben war brutal: Katrins Vater verprügelte regelmäßig ihre Mutter, auch als diese mit 23 schwanger war. Als einige Zeit nach der Geburt auch das Baby, also Katrin, Ziel der Ausraster ihres Vaters wurde, zog Mutter Jana die Reißleine und trennte sich.

Drogen nimmt Katrin phasenweise, Entzug hat bisher nichts dauerhaft gebracht. Ungefilterte Fotos gibt es seit Jahren keine mehr von ihr, von ihrem Körper erst recht nicht – das Übergewicht soll das Manga-Image nicht trüben. Als Kind sollte Katrin abnehmen, dennoch kaufte ihre Mutter hier und da Sahneschnitten. In der Pubertät verliefen die Phasen noch extremer als bei anderen. Der Realschulabschluss ging schief, den Hauptschulabschluss schaffte sie mit zwei Jahren Verzögerung. Die Lehre schloss sie ab, doch einen richtigen Fuß in ein normales Berufsleben bekam sie nicht. Katrin, das Opfer.

Was du ebenfalls nicht wissen kannst: Katrin parkt ihren Sohn, den sie laut ihren Beiträgen bei Instagram über alles liebt, oft bei ihrer Mutter, zeitweise ist er mehr bei Jana als bei seiner Mum. So entwickelten sich bei Jana weniger Oma-, sondern mehr Mutter-Gefühle für Steven. Dieser hinkt der Entwicklung weit hinterher: Er ist zu klein, zeigt motorische Schwächen, spricht sehr schlecht, kann Gefühle nicht ausdrücken, ist unsicher, wird aggressiv. Die Zeit, in der Jana ihrer Tochter das Kind abnimmt, nutzt Katrin zu allem Möglichen, aber nicht zum Aufräumen ihrer Wohnung.

An den Wochenenden lässt Katrin ihren geliebten Sohn beim Vater des Kindes und taucht ab ins Nachtleben. Er prügelte Katrin, auch in der Schwangerschaft. Nein, das ist kein Fehler im Text. Mutter und Tochter wurden vom jeweiligen Vater ihres Kindes geschlagen. Der Vater von Steven machte sich gut nach der Geburt, so schwärmte Jana. Er sei fürsorglich und und und. Alles würde sehr gut klappen, sie lebten direkt nebeneinander – bis das Prügeln wieder losging. Auch für Steven. An diesem Punkt trennte sich Katrin vom Vater ihres Kindes, so wie es ihre eigene Mutter bei Katrins Vater gemacht hatte.

Und dennoch wird das Kind zum Vater gelassen. Dort darf der Dreijährige auf der Playstation Ballerspiele zocken, Filme wie „Fluch der Karibik“ schauen, er darf seinen Vater treten und hauen und alle lachen. Sieht Steven eine Pistole, dreht er am Rad, will alle abschießen, so wie er es auf der Playstation lernt. Sein Gesichtsausdruck dabei ist zum Fürchten. Ab und zu sagt er in Sprachnachrichten: „Oma, ich will zu dir“ und weint.

Und Oma Jana bricht das Herz, deshalb nimmt sie den Kleinen so oft zu sich. Sie will nur sein Bestes. Andere verstehen das nicht: „Du unterstützt damit doch nur das Verhalten deiner Tochter?!“ Das weiß Jana. Und genauso weiß sie, dass ihre Tochter sich das Leben nehmen würde, wenn sie das Jugendamt einschalten und Steven seiner Mutter weggenommen würde. Denn genau das sagte Katrin zu ihrer Mutter. Also wen soll Jana opfern? Ihre Tochter, damit ihr Enkel noch eine kleine Chance auf ein normales Leben haben kann? Oder lässt sie ihre Tochter leben und muss zusehen, wie ihr Enkel eines Tages genauso in Drogen versumpft wie ihre Tochter?

Jana kann nicht mehr. Sie funktioniert nur noch, ist fix und fertig. Ihr Leben besteht nur noch aus Sorge um Tochter und Enkel. Jede Woche gibt es etwas Neues – schlechtes. Jana traute ihrer Tochter immer alles zu, auch dass sie sie eines Tages am Bahnhof stehen sehen würde, wo sie sich Männern anbieten würde. Doch dass Katrin einen alten, blinden Mann beklaut, ging selbst über Janas Vorstellungskraft. Die Angstzustände sind nach langer Zeit zurück, genau wie das Herzrasen. Für die Ärzte im Krankenhaus ist klar, woher das kommt. Und Jana ist klar, dass sie ihrer Tochter nicht mehr helfen kann. Aber ihren Enkel will sie retten.

Eine Heilpädagogin schaut nach dem Kind. Sie beobachtet, wie Steven anderen Kindern das Spielzeug wegnimmt und es ihnen über den Schädel haut. Das gehe so nicht, darüber müsse mit der Mutter gesprochen werden. Er müsse auch verstehen, dass nicht alle Gegenstände Waffen sind – diese „Spielzeuge“ kennt Steven aus den Ballerspielen.

Doch diese Worte helfen nicht. Steven wird immer aggressiver. Wenige Wochen später geht er mit einem großen Brotmesser auf seine Mum los. Einen Tag zuvor erzählte er stolz, dass er sich wieder ein neues Spiel mit Axtkämpfen heruntergeladen hat. Seine Mum darauf: „Ah, das musst du mir dann mal zeigen.“ Katrins Mum fragte entsetzt, ob ihre Tochter noch was merke: „Dein Sohn wird der nächste Amokläufer!“ Bei einer Untersuchung wurde Steven in der Zwischenzeit als sehr intelligent eingestuft.

Katrins Liebesleben ist ein einziges Chaos: Mit dem Vater ihres Kindes führte sie eine On/Off-Beziehung. Mit einem anderen Mann kam sie sehr gut klar und er tat alles für Katrin und ihr Kind, nahm drei Jobs an, um alle über Wasser halten zu können. Nur hatte er an den Wochenenden keine Lust auf Partys und Drogen. Also zog Katrin allein los, log, was das Zeug hielt, lernte einen weiteren Mann kennen, führte Beziehungen mit beiden, ohne das der jeweils andere davon etwas wusste. Als sie sich für einen entschied und der Verlassene vom doppelten Spiel Wind bekam, schrieb er seinem Rivalen, dass beide von Katrin verarscht worden waren. So trennte sich auch der andere von Katrin. Für eine Weile. Dann versöhnten sie sich.

Für Katrin war klar, wer an der vorübergehenden Trennung Schuld war: Der, der alles für sie und ihr Kind getan und gepetzt hatte. Selbst ist sie an nichts schuld. Immer hat sie die Opferrolle. Sie zieht ihr Ding durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Katrin, die Täterin.

An einem Montag ist wieder Schluss mit diesem Mann, Katrin ist am Boden, braucht Beruhigungsmittel, erklärt, sie sei überhaupt nicht glücklich mit ihm. Drei Tage später fährt sie zu ihm, nun sei alles wieder okay.

Das Liebesleben von Mutter Jana war bisher ein einziges Chaos: Zwei geschiedene Ehen mit dem gleichen Mann mit 6 Jahren Abstand, dazwischen und danach On/Off-Beziehungen. Nein, wieder kein Fehler im Text. Die Geschichten von Mutter und Tochter ähneln sich tatsächlich so. Und der Mutter fiel das nie auf, bis man ihr den Spiegel dicht vor die Nase hielt.

Wem gibst du nun die Schuld? Wer ist Opfer, wer Täter? Wen bedauerst du und wem reißt du den Kopf ab? Und wie geht es weiter? Ist Steven in 20 Jahren der nächste Täter, der seine schwangere Freundin verprügelt, weil Gewalt für ihn etwas Normales ist? Wird sich seine Freundin bis zur ungeplanten Schwangerschaft wie Jana und Katrin verprügeln lassen, weil eine solche Misshandlung für sie nichts Ungewohntes ist, sondern in der eigenen Kindheit erlebt worden war? Setzt sie darauf, dass ihr Bad Boy sich durch die Geburt seines Kindes zum Besseren ändern wird, weil sich die Bad Boys in den Büchern und Filmen auch immer zum Positiven ändern? Wie oft wird sie das gemeinsame Baby vom Vater namens Steven verprügeln lassen, bis sie endgültig die Reißleine ziehen wird wie Stevens Mutter und Oma? Oder wird das alles überhaupt nicht so schlimm?

In den folgenden Geschichten von Janina und Rita geht es um sexuellen Missbrauch und Machtausübung gegenüber Kleinkindern. Es gibt keine detaillierte Beschreibung des Missbrauchs. Bei der Machtausübung gibt es ein Beispiel. Wenn du kein Risiko eingehen möchtest, möglicherweise getriggert zu werden, springe besser zum nächsten Kapitel weiter.

Janina

Was du siehst: Janina, 22, braune Haare, gebräunte Haut. Unter ihrer langen Hose und dem langärmligen Shirt lässt sich problemlos eine sportliche Figur vermuten. Dazu passen ihre Sportschuhe und ihr Kleidungsstil. Janinas Eltern sind Lehrer, ihre Intelligenz haben sie ihrer Tochter vererbt. Die Familie – ein Bruder gehört noch dazu – wohnt in einem sehr schicken Haus. Auf Janinas Freundesliste bei Facebook finden sich 400 Namen.

Was du nicht siehst: Unter der langen Hose und dem langärmligen Shirt sind nur Knochen und Narben. Janina wog keine 30 kg, als sie in die Psychiatrie kam. Bei ihrer Entlassung waren es etwas über 40. Sie bekam die Chefarztbehandlung. Nicht, weil die Eltern Lehrer waren und es sich leisten konnten. Der Doc wusste, dass man nichts machen konnte. Für ihn war es ein Akt der Nächstenliebe. Janinas Geschichte wäre für weniger erfahrene Behandler auch zu viel gewesen. Oft arbeiten in Kliniken junge Therapeuten, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und sich später für bessere Bezahlung selbstständig machen. Für sie wäre es schwierig geworden, sich von so viel Leiden abgrenzen zu können und eine solche Überforderung kann einen Therapieversuch lähmen. Pfleger heulten, wenn die Sprache auf Janina kam. Für sie waren Selbstverletzungen nicht unüblich, genauso wenig heftige Lebensgeschichten. Doch Janinas Weg sprengte den Rahmen des Vorstellbaren. Der Chefarzt spielte für sie auf der Gitarre wohl, um ihr etwas Geborgenheit zu vermitteln und sie hörte sehr gern zu.

Zu keinem der 400 Facebook-Freunde hat sie wirklich Kontakt. Zu ihrem letzten Geburtstag gratulierten ihr einige in der Chronik. Nur wissen diese Bekannten genauso wenig wie eine ihrer wenigen wirklichen Freundinnen, ob Janina noch lebt. Seit Monaten reagiert sie nicht mehr auf Nachrichten, sie bleiben ungelesen. Ob nun alles in der Vergangenheitsform geschrieben werden müsste, weiß ich nicht.

Was du nicht wissen kannst: Ihre Berichte in der Klinik über den Missbrauch durch ihren Vater, den Lehrer, und ihren Bruder waren so detailreich, dass es an ihrer Glaubwürdigkeit keinen Zweifel gibt. Auch Schulfreunde ihres Bruders wurden vom Vater angehalten, mitzumachen. Wenn Janina über ihre Mutter, die Lehrerin, sprach, sagte sie: „… das Miststück …“ Die Mutter schaute zu. Beziehungsweise weg. Als Janina nicht mehr das Vorzeigepüppchen der perfekten Familie sein konnte, weil sie bereits mit 6 Jahren zu kaputt war, traf sie der blanke Hass ihrer Mutter. Diese hatte keine Lust auf die Mutterrolle, ging in die Schule, um Kindern etwas beizubringen und ließ ihren Mann mit Janina zu Hause allein. Zwei Jahre nach ihrer Geburt begann das Ende von Janinas Leben. Ihr Bruder hasst sie, weil sie das Vorzeigepüppchen war. Dass sie völlig zerstört wurde, sieht er nicht.

Wenn ihre Freundin aus der Psychiatrie die inzwischen erwachsene Janina besuchte und die Mutter in völlig harmloser, spießiger Optik öffnete, sprach ihr Gesicht Bände: „Was willst du hier?! Das ist mein Revier! Und meine Tochter geht dich einen Scheiß an!“ Der Tonfall, in welchem sie nach dem Öffnen nach Janina rief, war – sagen wir: wenig herzlich. Und Janina wirkte fix und fertig, als sie aus ihrem Zimmer kam. „Das gibt später Haue vom Miststück“, so ihr Kommentar gegenüber ihrer Freundin, zu der sie so großes Vertrauen hatte wie zu kaum einem anderen Menschen.

Wollte sie zum Supermarkt in ihrem Wohnort, scannte Janina jedes Auto auf dem Parkplatz nach dem Wagen ihres Vaters. Sie lief das ganze Gelände ab, bevor sie reinging und raste in Lichtgeschwindigkeit durch den Laden.

Und sie blieb abhängig von ihren Eltern. Diese hätten im Leben nicht die Chefarztbehandlung gewollt. Aus ihrer Sicht brauchte Janina überhaupt keinen Arzt, sie war doch nicht krank, hat nie etwas Schlechtes erleben müssen, sie bildete sich das doch alles nur ein! Die Abiturprüfung schaffte sie in mehreren Anläufen nicht, immer wieder kamen seelische Einbrüche dazwischen. Auch aus der Klinik heraus versuchte sie es. Mit 22 hatte sie kein Anrecht auf Hartz IV, bis 25 sind die Eltern zuständig. Noch einmal: Janina ist finanziell abhängig von einem Vater, der sie ab dem zweiten Lebensjahr missbraucht hat und von einer Mutter, die ihr genauso das Leben zur Hölle macht(e).

Auch abseits des Finanziellen blieb eine unglaubliche Bindung. Ab dem Moment, als Janina ihrer Mutter sagte, sie wolle Silvester mit ihrer Freundin feiern, ging es der Mutter furchtbar schlecht. Sie war nur noch am Jammern, Janina könne sie doch nicht allein lassen. Dennoch fuhr Janina am 31.12. zu ihrer Freundin, was angesichts der Umstände schon eine enorme Leistung war. Doch je später der Abend wurde, desto mehr Gewissensbisse nagten an ihr. Nach zwei Stunden – der Teller war noch nicht leer – musste sie zum Miststück. Ihr war bewusst, dass dies gestört war, doch sie konnte dem Drang, wie als Kind gelernt immerzu Folge leisten zu müssen, nicht entgegenwirken. Sie hasste ihre Mutter, doch den Hass konnte sie nur über Selbstverletzungen kanalisieren und nicht über eine Loslösung, so ihre Freundin.

Immerhin durften die Eltern nicht in die Klinik. Dort schenkte ihr die Mitpatientin, die zur Freundin werden sollte, ein Plüschtier. Janina freute sich riesig: Es war das gleiche, das ihr Vater einst zerschnitt, als Janina nicht wollte.

Zu Besuch in die Klinik kam täglich ein Mann jenseits der 50, ein Ex-Patient. Laut Janina wollte er ihr helfen und sie auch adoptieren. Er saß ihr gegenüber und verrenkte sich fast, um ihr unter den Rock glotzen zu können. Ihrer Freundin und anderen Patienten war der Mann nicht geheuer. Später lebte sie eine Weile bei ihm und seinem Sohn. Das Angebot der Freundin, bis zum Finden einer Lösung bei ihr zu wohnen, lehnte Janina ab. Hilfe konnte sie äußerst selten annehmen, auch dabei bekam sie Schuldgefühle.

Hin und wieder trat sie in der Klinik halb weg. Dann brach all das aus hier heraus, was sie von Vater, Mutter und Bruder unter Gewalt eingetrichtert bekommen hatte. Sie sei nur ein Stück Scheiße, ein kleines Flittchen, das mitgemacht habe, selbst den Tod habe sie nicht verdient, weil er zu milde sei. Danach schnitt sie sich ins eigene Fleisch und bettelte die Pfleger an, dass sie vor Ort getackert wird. Nähen kam für sie nicht in Frage, denn dazu hätte sie ins Krankenhaus gemusst und dies wäre das Ende des Psychiatrieaufenthalts gewesen. Also war ihr Körper von Klammern übersät.

Nun fragst du dich sicher, welche Folgen das alles für die Eltern und den Bruder hatte, welche Strafen sie bekamen. Von „gerechter Strafe“ kann bei dem, was Janina davongetragen hat, sowieso nicht die Rede sein. Die Ärzte hatten keinerlei Zweifel an der Glaubwürdigkeit, die junge Frau war völlig kaputt, was man nicht grundlos wird – das muss doch ein Gericht überzeugen. Und mindestens bei Befragungen würde das Herz der Mutter aufweichen müssen, so verblendet kann doch keine Frau sein, die Mutterliebe schlummert doch in jedem weiblichen Wesen.

Nichts passierte. Kein Prozess. Mangels Beweisen. Das Gericht sah für eine Prozesseröffnung keine Möglichkeit, weil der Verlauf schon vorher klar absehbar war. Aussage stünde gegen Aussage und Janina könnte nichts beweisen.

Und das, wofür es Beweise gegeben hätte, war verjährt. Diese Dinge gab der Vater auch ganz frech zu, darunter die Machtspielchen. Im tiefsten Winter hatte er Janina barfuß und lediglich im Schlafanzug bekleidet in den Schnee gejagt. Bei Minusgraden. Die Haustür wurde verriegelt. Janina wimmerte vor der Tür und bettelte, wieder rein zu dürfen. Doch die Tür öffnete sich erst, als sie bettelte: „Lieber Papi, bitte lass mich rein. Ich werde auch alles tun, was du möchtest und die liebe Janina sein, die du und Mama verdient haben. Ich werde nie wieder böse sein und mich nie wieder zur Wehr setzen.“ Und nachdem er sie reingelassen hatte, schlug er sie, weil sie durch die Kälte so ungelenk war und sich kaum mehr wegen ihrer hochroten Füße, Beine und Finger rühren konnte.

Der Vater, ein Lehrer. Wegen seiner enormen Bereitschaft, Blut zu spenden, wurde er zusammen mit anderen vom Bürgermeister seiner Heimatstadt für „selbstlose Mitmenschlichkeit“ geehrt. Sie alle seien Lebensretter im Hintergrund. Genau. Nur um Janinas Leben kümmerte sich keiner mehr. Dieser Mann ein Kinderschänder?! Niemals!!! Dort ist doch alles perfekt, das Haus, der Garten! Er ist immer anständig angezogen – Kinderschänder tragen doch blaue, verdreckte Jogginghosen, haben einen dicken Bauch und leben in Gartenlauben! Sieht man doch im Fernsehen! Das Kind denkt sich das doch alles nur aus, die ist doch krank im Kopf! Rufmord macht die!

Ja, weil Kinder grundlos krank im Kopf werden. Einfach so. Ganz bestimmt. Die Mörder im „Tatort“ sind auch einfach böse, weil sie böse sind. Die Menschen glauben, was sie sehen. Und ein anständig gekleideter, Blut spendender Lehrer aus einem anständigen Einfamilienhaus mit einem anständigen Garten mit einer völlig harmlos aussehenden Lehrerin als Frau kann nicht so böse sein.

Silvester 2019 versuchte die Freundin erneut, Janina ein Lebenszeichen zu entlocken. Zwei Wochen zuvor hatte sie bei Whatsapp immerhin ein „Was geht“ als Antwort bekommen. Silvester schickte die Freundin eine Erinnerung an die kurze gemeinsame Feier drei Jahre zuvor, verbunden mit dem Satz: „Ach Janina, melde dich doch bitte mal. Ich denke so oft an dich.“

Zwei Tage später eine Reaktion: „Hier ist nicht Janina“

„Sondern?“

„Herbert. Ich habe diese Nummer von Vodafone bekommen.“

Die Freundin hatte mir Wochen zuvor ein Youtube-Video gezeigt, in welcher eine junge Frau mit mehreren Persönlichkeiten ihre Geschichte erzählte. Auch sie hatte Unfassbares durchmachen müssen in ihrer Kindheit. Bei Janina hatte es neun psychische Diagnosen gegeben. Ob Persönlichkeitsspaltung dazugehörte, weiß die Freundin nicht. Und so gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Herbert war eine von Janinas Persönlichkeiten oder Janina war tot. „Dann hätte sie immerhin das Elend hinter sich“, schrieb die Freundin. Wenn schon der Chefarzt keine Hoffnung auf irgendeine Form der Heilung hatte machen können, was sollte der jungen Frau dann Hoffnung machen, eines Tages doch noch einen Hauch von Normalität erleben zu können?

Die Galle kocht über beim Gedanken, wie nach dem möglichen Tod von Janina die Eltern von Verwandten, Freunden und der ganzen Stadt bedauert worden sein und wie Mutter und Vater die trauernde Familie gegeben haben könnten. In diesem Moment des Hasses kann man sich immer nur wieder sagen: Täter waren immer selbst Opfer. Und wer keine Täter möchte, muss dafür sorgen, dass es keine Opfer gibt.

Rita

Rita erging es ebenso mit der Strafverfolgung wie Janina. Mit 27 ging sie zur Polizei, zeigte ihren Stiefvater und ihren Stiefbruder an nach ewigen Jahren des Missbrauchs. Auch diese beiden gestanden die verjährten Sachen. Aber nicht den Missbrauch. Der zuständige Staatsanwalt reiste persönlich zu Rita, um ihr zu sagen, dass es sinnlos sei. Sie würde zerpflückt und als Schlampe zerfleddert werden. Es tue ihm leid, doch er könne nichts machen.

Und in den Vernehmungen der Männer geschah genau das Vorausgesagte: Rita habe mitgemacht, das Flittchen. Sie sei sogar die treibende Kraft gewesen und nicht das Opfer. Auch Ritas Mutter schaute weg.

Was ich mich frage: Muss man als Richter davon ausgehen, dass ein Kind tatsächlich Sex haben möchte mit (Stief-)Vater und (Stief-)Bruder? Muss man also eine Aussage wie: „Die wollte das!“ als mögliche Tatsache einstufen? Kommt so etwas tatsächlich vor? Reichen eine zerstörte Psyche und detaillierte Schilderungen nicht aus als klare Indizien?!

Rita zog um, mehrfach. Denn ihr Stiefvater machte sie jedes Mal nach kurzer Zeit ausfindig. Irgendwann packte Rita die Umzugskartons nicht mehr aus, es lohnte sich bis zum sehr wahrscheinlichen, nächsten Umzug nicht. Der Nachbar der Familie, ein Hilfspolizist, versorgte den missbrauchenden Stiefvater regelmäßig mit Infos, sobald Rita ihn anzeigte, wo sie gerade lebte.

Ein dreiviertel Jahr verbrachte Rita in der Psychiatrie. Zeitweise wog sie 33 kg, etwas mehr als Janina beim Gang in die Klinik. Mit 31 erlitt sie einen Herzinfarkt, 15 Jahre später heiratete sie. Auf aktuellen Fotos wirst du nichts davon erkennen, was sie durchgemacht hat. Sie lächelt wie man halt so lächelt.

Warum die Eltern so geworden sind, ist mir nicht bekannt. Die Chance ist groß, dass mindestens ein Elternteil selbst als Kind Opfer auf irgendeine Weise geworden war, das sagen mir die Erfahrung und Studien. Genaue Zahlen kann es dazu nicht geben. Eine Umfrage „Wurden Sie als Kind sexuell missbraucht? Wenn ja: Missbrauchen Sie jetzt selbst Kinder?“ würde kaum verlässliche Ergebnisse liefern. Momentan geht man davon aus, dass 12-35% der Sexualstraftäter als Kinder selbst missbraucht wurdeni.

Aus Opfern werden oft Täter, nicht nur bei Missbrauch. Einen Täter oder eine Täterin mit einer normalen Kindheit kenne ich bisher nicht. Du willst nie wieder das erniedrigte Opfer sein, sondern am besten unangreifbar herrschen, Macht ausüben. Du jagst dein Kind in den Schnee und lässt es betteln. Und auch bei Missbrauch geht es um Macht. „Über 50% der sexuellen Übergriffe werden von nicht-pädophilen Menschen begangen. Wir reden da von sogenannten Ersatzhandlungen, weil diese Menschen als Ersatz diese Opfer suchen“, sagt Therapeut Hannes Ulrich in der ZDF-Sendung „Dunkelfeld – Kindesmissbrauch in Deutschland“. Darin wird als Hauptmotiv dieser 50% das Ausüben von Macht genannt und das Spüren von Überlegenheit.i

Und nein, auch wenn sich bestätigen würde, dass Janinas Eltern einst Opfer waren, soll damit das Tun und Unterlassen ihres Vaters und ihrer Mutter nicht verteidigt werden. Wenn man jedoch den ewigen Kreislauf zwischen Opfer sein und Täter werden nicht sehen will, dann sieht man auch keinen Anlass zum Eingreifen, zum Umdenken, wie Menschen wirklich ticken. Dann schreit man eben: „Schwanz ab! Aufhängen!“ Nur nützt das keinem Opfer im Nachhinein etwas, auch nicht härtere Strafen. Was nützen diese, wenn es eh nur zu Prozessen kommt, wenn die Taten aufgezeichnet wurden? Wichtiger wäre, zu verhindern oder wenigstens einzudämmen, dass es weitere Opfer gibt – und neue Täter. Bei offiziell 14.606 Fällen von Kindesmissbrauch 2018i ist das Denken in Schwarz-Weiß keine Option. Erst recht nicht, wenn man davon ausgehen muss, dass es tatsächlich Hunderttausende Opfer jährlich gibti.

Beim Aufschreiben der Geschichten von Janina und Rita konnte ich mich nicht anfreunden mit der scheinbaren Moral: Wenn du missbraucht wurdest, musst du halt damit allein klar kommen. Den Tätern wird nichts passieren. Mein „Trost“ war, dass dies keine wirklich neue Erkenntnis ist – sie bleibt aber absolut unbefriedigend.

Was mir nicht in den Kopf will: Wir marschieren mit Siebenmeilenstiefeln in die digitale Zukunft, wir wollen Mond und Mars besiedeln, lassen Kühlschränke den Einkauf bestellen, bekommen von Robotern Pakete geliefert, können Autos allein fahren lassen – aber wir bekommen es nicht gebacken, Janina, Rita und Hunderttausend anderen ein Leben nach dem seelischen Tod zu ermöglichen. Ein Leben, in dem Opfer nichts mehr mit ihren Peinigern zu tun haben müssen. Ein Leben, in dem Janina nicht mehr auf ihre Eltern finanziell angewiesen (gewesen?) wäre. Ein Leben, in dem ihre Glaubwürdigkeit und die von Rita nicht mehr angezweifelt wird, weil das Wort von Experten etwas gilt. Wie rückständig sind wir?

15. Oh mein Gott

Die Frage nach der Rückständigkeit ist ernst gemeint und lässt sich immer wieder stellen. Als Papst Franziskus seine ersten Reisen absolvierte, empfand ich ihn als sehr angenehmen, frischen Wind in der Kirche, trotz seines Alters. Er nahm kein Blatt vor den Mund, brach mit alten Mustern, nahm sich nicht wichtig, wirkte angenehm väterlich. Reale Menschen schienen bei ihm Vorrang zu haben vor theoretischen Glaubenssätzen.

Als mehr und mehr Missbrauchsfälle unter den Dächern der Kirchen weltweit aufgedeckt wurden, schien er auf einen Schleuderkurs zu geraten zwischen unnachgiebiger Aufklärung und der Angst, die katholische Kirche könnte in sich zusammenstürzen. Allerdings nahm ich das alles aus reichlich Entfernung auf, fetzenweise. Kurz nachdem ich aufgeschrieben hatte, was Janina und Rita über sich ergehen lassen mussten, sah ich in den Nachrichten, wie Franziskus die Missbrauchsfälle durch Kirchenvertreter mit dem Teufel in Verbindung brachte. Auch dies hob mich im ersten Moment nicht an. Kirche ist nun mal Gott und Teufel, Gut gegen Böse.

Im zweiten Moment, beim längeren Nachdenken, empfand ich diese Verbindung zum Teufel jedoch als unglaublichen Schlag in die Gesichter von Opfern jeder Art und als eines der schlimmsten besten Beispiele dafür, wie wir mit anderen Menschen umgehen. Höhere Mächte lenken den Menschen, nicht das Unterbewusstsein, nicht die Kindheit. Menschen sind doch die, die alles mit ihrem Geist, ihrem vollen Bewusstsein machen! Dopamin, Adrenalin, Oxytocin, Testosteron, Östrogen, Gestagen, Melatonin – hat man je Hormon-Namen aus den Mündern von Kirchenleuten gehört? Kirche und Hormone passen überhaupt nicht zusammen, Kirche und Teufel dagegen schon.

Und an diesem Punkt meiner Überlegungen mit den Geschichten von Janina, Rita und anderen im Hinterkopf konnte ich das, was die Kirche an Weisheiten verbreitet, einfach nur noch als Märchen wie das des Teufels mit den drei goldenen Haaren sehen. Ich nehme jedem Gläubigen ab, dass dieser Satz kränkt. Aber können Sie sich vorstellen, wie sich erst Opfer fühlen müssen, wenn ihre Peiniger als von etwas völlig Imaginären geleitet dargestellt werden? Ich kann es nicht.

Für mich war und ist Kirche und Glauben etwas Gutes, wenn Menschen darin Halt und moralische Leitplanken finden. Mir wäre es lieber, sie würden von sich aus Nächstenliebe und Respekt gegenüber dem anderen zeigen können, ohne dass ihnen Teufel und Hölle im Genick sitzen. Mir wäre es lieber, jeder würde den anderen so akzeptieren, wie er ist, ohne dass dies aus Angst vor der Rache Gottes geschieht.

Diese Akzeptanz möchten auch die Religionen. 2018 wurden Gebäude in aller Welt blutrot angestrahlt als Aufschrei gegen die Verfolgung von Gläubigen in aller Welt. Die internationale Hilfsorganisation „Kirche in Not“ stellte einen Bericht vor, wonach Christen die am stärksten verfolgte Religionsgemeinschaft sind. Rund 300 Mio. Christen litten unter Einschüchterung, Misshandlung und Gewalt.v

Aber die katholische Kirche selbst versagt in Sachen Moral und Akzeptanz, ob Missbrauch oder gleichgeschlechtliche Beziehungen. Franziskus sagt, es wäre ein Fehler zu glauben, Homosexualität sei nur eine Form der Zuneigungvi. Sprich: Es muss etwas Krankhaftes und/oder Dämonisches dabei sein. Wozu er sich gleichzeitig gegen die Diskriminierung Schwuler und Lesben ausspricht, verstehe ich nicht. Ist es nicht längst Mobbing, wenn ich behaupte, dass ein anderer vom Teufel geritten wird und seine Neigung damit krank ist?! Wenn du einen Menschen des gleichen Geschlechts liebst, dann bist du von etwas Überirdischem besessen. Wenn du ein überirdisches Wesen namens Gott anbetest, dann bist du gesund. Dieses Anbeten ist zu akzeptieren, dafür gibt es weltweite Aktionen. Die Liebe zum gleichen Geschlecht aber ist keine reine Form der Zuneigung. Verrückt.

Wieder tut die Kirche so, als sei eine äußere, imaginäre Macht im Spiel, die einen schwul oder lesbisch macht, die am besten noch mit einem Exorzismus ausgetrieben wird – oder mit Oregano und Majoran. Dies empfiehlt kein Schamane aus Afrika, sondern der Leiter des Bundes Katholischer Ärzte in Deutschland, Gero Winkelmann. Zu sehen und hören ist dies in der Dokumentation „Wie krank ist Homo-Heilung?“ von Bernard Nicolas. Sie entstand nicht 1743, sondern 2019. Winkelmann bezeichnet darin Homosexualität als „behandlungswürdige und behandlungsfähige Belastung oder Störung, um das Wort Krankheit nicht zu nennen.“vii

Wenn eine Organisation wie die Kirche, die man eigentlich als hoch seriös sehen möchte, und Menschen wie dieser Arzt, dem man Intelligenz und Weisheit unterstellt, so etwas unter Millionen und Milliarden Menschen bringen, ist es kein Wunder, wenn sich diese Gedanken hartnäckig in Köpfen halten.

Allerdings beschloss die weltliche Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch erst 1990, Homosexualität von der Liste psychischer Erkrankungen zu streichen. Wer über scheinbar rückständige Völker oder Glaubensrichtungen die Nase rümpft, sollte dies nicht allzu öffentlich machen und sich nicht von all der schönen Technik blenden lassen, die uns so unglaublich fortschrittlich erscheinen lässt.

Ich kann verstehen, dass es unangenehm ist, zuzuschauen, wenn sich zwei Menschen des gleichen Geschlechts küssen oder noch ganz andere Sachen machen. Mir geht das bei Männern so, bei Frauen habe ich nicht das geringste Problem, wie so viele Männer. Nur käme ich auch bei schwulen Männern nie auf die Idee zu sagen: „Ihr dürft das nicht!!!“ Und deshalb verstehe ich auch diese Anfeindungen nicht gegenüber Homosexuellen, die es ja auch abseits der Kirche reichlich gibt. Was würde es mir ganz konkret an Vorteilen für mein eigenes Leben bringen, wenn sich Menschen des gleichen Geschlechts voneinander fernhalten müssten? Mir fällt nichts ein. Aber das wird auch nicht das Problem sein. Homosexuelle sind „einfach nur“ eine weitere Zielgruppe, an der man sein Ego durch Abwerten aufwerten kann. Ob dies die Motivation der Kirche ist, glaube ich nicht. Hier herrscht in den Köpfen offenbar tatsächlich Satan.

Zum Expose

Verwendete Quellen in der Leseprobe

  • https://www.barmer.de/presse/infothek/studien-und-reports/arztreporte/barmer-arztreport-2018-144304
  • https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/f80fb3f112b4eda48f6c5f3c68d23632a03ba599/DGPPN_Dossier%20web.pdf Seite 10
  • https://www.aerztezeitung.de/panorama/article/632313/sexueller-missbrauch-opfern-oft-taeter.html
  • https://www.instagram.com/p/B8dnPC-I5ss
  • https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-06/kriminalstatistik-sexuelle-gewalt-kinder-bka-kindesmissbrauch
  • https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article152551577/Kindesmissbrauch-weiter-verbreitet-als-angenommen.html
  • https://religion.orf.at/stories/2949060/
  • https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/katholische-kirche-papst-franziskus-nennt-homosexualitaet-eine-mode/23706418.html
  • https://www.gmx.net/magazine/panorama/arte-doku-krank-homo-heilung-scham-angst-verursacht-34218682

Noch viel mehr Lesestoff zum Buch „Verrückt – ein Aufschrei“ findest Du hier:

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