Mats ist seit drei Wochen raus aus der Klinik. In den ersten beiden Wochen pendelten Nachrichten zwischen Maike und ihm fast täglich hin und her, mal kurz, mal telefonierten sie lange. Dabei wurde eine Idee geboren: eine Serie aus Minigeschichten über Gefühle. Mats gefiel die Idee. Er konnte einerseits das, was sie gemeinsam erlebt hatten, zu Papier bringen, so dass sich diese außergewöhnlichen Momente für Maike jederzeit wieder durchleben ließen. Andererseits bot sich für Mats die große Gelegenheit, sich selbst mit Gefühlen auseinanderzusetzen. „Wie fühlen Sie sich heute?“, so hatten die Therapiestunden immer begonnen, egal ob Musik, Gestaltung, Bewegung oder Gruppe. Und immer wieder erzeugte die Frage, auf die sich alle Patienten jedes Mal hätten vorbereiten können, Stille. Eine der Schwestern fasste es kurz und schmerzlos zusammen, als Maike ihr erklärte, sie wisse gerade nicht, was sie fühlt: „Hier hat keiner Gefühle!“ Als Maike ihren aktuellen Gefühlszustand mit Scham beschrieb, antwortete die Schwester: „Das ist keine Scham, das ist Unsicherheit.“
Mats schrieb zunächst fünf Geschichten: Mischungen aus Erfundenem und dem, was er tatsächlich mit Maike erlebt hatte. Sie durfte sich wünschen, um welche Gefühle es geht, er nahm die Herausforderungen an. Auf das erste Kapitel „Erklär mir Liebe“ folgte Wut, auf Wut Freude, auf Freude Sanftmut, auf Sanftmut Wehmut. Mats staunte beim Schreiben, wie viel Gefühl sich aus dem Erlebten herausholen ließ. Wie schon bei seinen Büchern wurde ihm klar, dass er sehr wohl Zugriff auf Gefühle hat – aber scheinbar erst beim Schreiben.
In Maike wechselten sich Freude und Staunen ab, wenn Mats ihr die neueste Minigeschichte schickte. Teils herrschte in ihr aber auch Verwirrung, Unsicherheit: Was war wirklich so? Was ist erfunden? Hatte sie das, was dort stand, wieder vergessen? Ihrem Kopf kann sie nie wirklich vertrauen schenken: was das Erinnern betrifft und was Gefühle angeht.
Mats machte in den Geschichten keinen Hehl daraus, welche Wirkung Maike auf ihn hatte, auch wenn er wusste, dass sie nicht auf eine Beziehung aus ist, die über Freundschaft hinausgeht. In der Mischung aus Dichtung und Wahrheit glaubte er, Maike würde annehmen, dass er an diesen Stellen dem Leser einfach nur ein warmes Gefühl geben wolle.
Als es in der dritten Woche nach seiner Entlassung aus der Klinik still um Maike wurde, entwickelte sich in Mats Unsicherheit: Fühlte sich Maike doch von dem, was er an Empfindungen ihr gegenüber in die Geschichten verpackt hatte, bedrängt? Wenn ja: Sollte er nachfragen, wie es ihr geht und dabei Gefahr laufen, das Gefühl der Bedrängung zu steigern? Oder hing Maike mächtig in den Seilen, brauchte ihre Ruhe?
Wie sich Unsicherheit anfühlt, hätte er Maike bestens beschreiben können – aus eigener Erfahrung, gesammelt über mehrere Jahrzehnte. Die Ängste, die ihn unsicher machten. Das Bild im Spiegel, dem er überhaupt nichts abgewinnen konnte. Die pure Unsicherheit, wenn er neben einer Frau saß, sie anbetete – und nicht wusste, ob sie etwas für ihn empfand. Sie absolute Unsicherheit, ob er denn auch irgendeine Stärke haben könnte bei all den Schwächen. Die Unsicherheit, wenn er für seine Arbeit gelobt wurde und er selbst darin eigentlich überhaupt nichts Besonderes sah.
Wenn Maike ihn gebeten hätte, Unsicherheit als Wesen zu beschreiben, hätte er ihr nur ein mindestens 8 Jahre altes Foto von sich selbst zeigen brauchen. Mats fasste es mit „der Scheues-Reh-Blick“ zusammen, als ihm das erste Mal dieser Blick auf einem solchen Foto aufgefallen war: die Gesichtsfarbe eher blass und gleichmäßig, die Augen sagen „Oh Gott, sprich mich bloß nicht an, sonst muss ich wegrennen“. So richtig klar wurde ihm aber nicht, warum er wie ein verschrecktes Reh aussah. Nur eines war ihm klar: Wer so guckt, strahlt Null Selbstbewusstsein aus. Später entdeckte er diesen Blick auf einem Foto seiner Oma väterlicherseits und ihm wurde klar, dass diese Frau ihrem Sohn keinerlei Selbstbewusstsein mit auf den Lebensweg geben konnte – dieser Sohn wurde zu Mats´ Vater.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses. Und dieses Gefühl verbindet die Patienten mit vielen, die (noch?) nicht in einer solchen Klinik waren, vor allem bei der Unsicherheit: Was bin ich (mir) eigentlich wert?
Wie wach das Gefühl der Unsicherheit in Maike ist, wird Mats aufs Neue deutlich, als er nach einer Woche Stille mit ihr telefoniert. Er hatte sich doch zu einem „Wie geht es dir?“ durchgerungen, am Abend klingelt sein Handy. Maike erzählt von einem Gespräch mit der Stationsärztin in der Visite, welches eskaliert war. Die Ärztin sagte irgendwann: „Na dann können wir Sie doch nächste Woche entlassen?!“ Maike stimmte emotionslos zu, so wie sie in ihrer Kindheit gelernt hatte, ihre Gefühle verstecken zu müssen und ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken.
Doch Gefühle und Bedürfnisse waren da, brachen sich ihre Bahnen, mündeten in Panik vor der drohenden Entlassung. Einer Schwester gegenüber öffnete Maike sich unter dem inneren Druck: „Ich will doch noch gar nicht heim!“ Die Schwester beruhigte sie. Am nächsten Tag sprach die Stationsärztin Maike an: Natürlich könne sie länger bleiben. Maike war einerseits erleichtert. Andererseits war sie außer sich: „Die sollen nicht mit mir solche Spielchen spielen! Mich hat das völlig verunsichert und das bin ich schon genug! Mir geht es echt nicht gut. Das hast du wohl geahnt?“
Mats bejaht. Dass er noch etwas anderes als Grund für die Stille für wahrscheinlich hielt, verschweigt er. Das Gespräch geht weiter – und wird Mats sprachlos machen.
“Erklär mir Gefühle” – die Serie zum Fühlen
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
Erklär mir Gefühle: Selbstzweifel
“Wenn ich dir gegenübersitze oder -stehe und wir uns ansehen, dann tut mir das gut. In diesen Moment spielt das, was alles an Scheiße in meinem Leben war und worüber ich mir heute einen Kopf mache, keine Rolle. Diese Momente sind meine einsamen Inseln, die Hütte im Wald. Dass ich dich ansehen kann und dass mir das so gut tut, ist mein großer Vorteil gegenüber dir.“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Erklär mir Gefühle: Hass
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen. Und wenn du doch noch leben solltest, dann zieh über Nacht um und hinterlasse keine Spuren. Denn wenn sie dich findet, wirst du bereuen, nicht FÜR sie gekämpft, sondern Krieg GEGEN sie geführt zu haben!
Erklär mir Gefühle: Wehmut
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde.
Erklär mir Gefühle: Sanftmut
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.”
Erklär mir Gefühle: Freude, Glück, Leichtigkeit
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Erklär mir Gefühle: Wut
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
Erklär mir Gefühle: Liebe
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Die besten Freunde von Amor
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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