Dein Warenkorb ist gerade leer!
Erklär mir Gefühle: Empathie
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
Crowdfunding für das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“
Geschichte für den Schreibwettbewerb »Love Between the Pages« von bod.de
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Mats schmunzelt, schaut noch länger in die braunen Augen der Frau neben sich, wobei in ihm mehr und mehr das Gefühl aufsteigt, Maike meine diese Frage ernst. Nach längerem Zögern raunt er: „In einem Buch wäre das der Beginn eines unglaublich romantischen Dialogs, an dessen Ende sich die beiden küssen. Aber du scheinst wirklich nach einer Erklärung zu suchen?!“
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Mats, nachdenklich: „Ich beneide da eher die Filmemacher, Musiker, Maler. Der Maler kann aus unendlich vielen Farben schöpfen, der Musiker aus unzähligen Tönen und Akkorden, der Filmemacher greift in beide Kisten. Was sie machen, wandert direkt in Auge und Ohr, der Weg zu den Gefühlen ist kurz. Ein Buch ist absolut still, farblos, bis auf den Einband. Du musst aus dieser farblosen Stille dafür kämpfen, dass jemand die Worte lesen will, nicht nur die erste Seite. Im Film würden vier, fünf Sekunden reichen, um aus diesem Moment hier eine romantische Szene machen zu können und die Zuschauer zu fesseln: der See, Sonnenuntergang, leuchtend grüne Bäume, Frau und Mann sitzen auf einer Bank. Leise Klaviermusik, die Kamera fährt von hinten immer näher an die beiden ran … Im Buch bräuchte ich dafür so einige Sätze und wer es liest, wäre deutlich länger als nur ein paar Sekunden damit beschäftigt. Aber beim Schreiben ist mir das völlig egal. Schreiben ist wohl wie Liebe: unvernünftig, aber wunderbar unvernünftig, wenn es passt.“
Wieder ziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln in die Breite, wieder sieht er in Maikes Augen, in denen er einen Hauch von Neugier zu sehen glaubt – aber auch große Erwartungen. In Gedanken versinkend, schweift sein Blick nach vorn, auf das glatte Wasser des Sees, das kurz zuvor noch von Regentropfen in Aufruhr versetzt worden war und in welchem sich jetzt die von der Abendsonne gelbgrün angemalten Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Auch die Augen der Frau, die dicht neben ihm auf der Bank sitzt, wandern über das Wasser, die Spiegelungen, die Windräder in der Ferne. Ihr Wunsch bleibt: „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Stille.
Drei Wochen zuvor hatte Mats ein Bild zum Thema „Positiver Ausblick auf deine Zukunft in 10 Jahren“ malen sollen. Mit leuchtenden Aquarellfarben brachte er, der sich befreit von jeglichem Mal-Talent fühlte, einen Sonnenuntergang auf Papier. Aus einer unendlich weiten Wiese ragten zwei Köpfe, am Horizont eine Windmühle. Kein Haus, kein Auto, keine Yacht. Nur zwei Menschen, die sich fallenlassen.
Seinen Hunger nach Leichtigkeit empfand Mats beim Malen als absurd groß, nicht stillbar. Die Jahre zuvor hatten für ihn nicht den Hauch von Freude, Glück und eben Leichtigkeit – umso größer nun der Hunger.
Jetzt sitzt er neben Maike, den Sonnenuntergang im Rücken, Windräder vor sich am Horizont. Keine endlos weite Wiese, doch das von der Sonne angestrahlte Grün der Bäume spiegelt sich im See. In seinem Kopf hallt noch immer Maikes Satz: „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Wenige Stunden zuvor: Maike steht vor der Tür von Mats: „Ich habe eine Überraschung für dich, wenn das okay ist.“ Ihr Blick strahlt – wie könnte er „Nein“ sagen?
Sie führt ihn durch den Flur in einen Raum, in denen Musikinstrumente stehen: „Wir dürfen eine Stunde allein rein!“ – wieder strahlt sie. „Wir können alles machen! Ich möchte nochmal ans Klavier. Und dann machen wir den Klangstuhl!“ Ihre Aufregung ist nicht zu übersehen.
Seine Gesichtszüge werden weich. Tags zuvor war er zum letzten Mal in der Musiktherapie, durfte das scheinbar letzte Mal am Klangstuhl spielen. Dieser Sessel aus Holz hat auf seiner Rückseite vom Kopfteil bis zum Boden an die 30 Saiten gespannt, wobei jeweils 15 den selben Ton erzeugen. Als er das erste Mal mit großer Neugier hinter diesem Sessel saß und spielte, war es Liebe auf den ersten Ton. So hatte er auch gegenüber Maike geschwärmt.
Der Stuhl steht bereits ein Stück von der Wand weg, daneben wartet ein Xylophon auf seinen Einsatz. Hier hat jemand Vorarbeit geleistet. All die anderen Instrumente stehen in einer Ecke parat. Wie kleine Kinder, die vor einer großen Spielzeugkiste rumzappeln, stehen die beide im Raum: „Was machen wir zuerst?“
Sie probieren einige kleine Instrumente aus, deren Klänge sie teils an Märchenfilme erinnern. Ansonsten ist es völlig still in diesem Raum. Auf dem Flur vor der geschlossenen Tür ist niemand, Ärzte und Therapeuten sind im Feierabend.
Dann entdecken sie ein zweites Xylophon und so sitzen sie sich gegenüber, schauen und hören, was der andere macht. Wortlos spielen sie sich aufeinander ein, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Es wird breiter, wenn sie für ein paar Takte im Gleichklang sind.
Die Zeit vergeht, doch eilig hat es keiner der beiden.
„Jetzt den Klangstuhl?“, fragt Maike eher leise, so wie du dich unterhältst, wenn du andächtig in einer Kirche stehst.
„Gerne. Ich würde zuerst spielen …“ Auch Mats´ Stimme will diese besondere Atmosphäre nicht stören.
„Und ich setze mich rein?“
„Wenn es für dich okay ist, dann sehr gern.“ In den bisherigen gemeinsamen Tagen gewann Mats Sicherheit, dass Maike sich bei ihm geborgen fühlt. Doch über ihre Kindheit weiß er so gut wie nichts. Nur eines ist klar: Sie wird wie bei allen anderen Patienten in dieser Klinik mit Verletzungen verbunden gewesen sein. Also bleibt er behutsam.
Mats nimmt hinter dem Klangstuhl Platz, Maike setzt sich in den Sessel, Blickkontakt ist nicht möglich. Er möchte ihr Sicherheit geben, damit sie sich richtig fallenlassen kann: „Ich kann einen Arm auf die Lehne legen, dann kannst du auf meine Hand drücken, wenn es unangenehm wird.“
„Hmm, ach, ich vertrau dir.“
„Dann geht’s los …“
Seine Finger gleiten langsam und mit wenig Druck über die linken Saiten, sie lassen den tieferen Ton erklingen. Die Schwingungen übertragen sich auf das Holz des Stuhls, können vom Körper wahrgenommen werden. Am Kopfteil sind links und rechts Blenden, so dass die Töne zwischen den Ohren hin- und herschwingen, sie verstärken. Wie laut Maike die Töne hört, kann Mats nur grob schätzen. Er vermeidet es, laut und chaotisch zu spielen, sie soll sich einfach nur wohlfühlen, entspannen.
Mats bewegt seinen Kopf dicht neben die rechte Kopfblende, sieht nur Maikes rechten Arm und die Beine: „Ist es so okay?“, raunt er.
In ihrer Antwort liegt ein Lächeln: „Ja. Und wie ist es für dich?“
Wieder spricht er mit sehr gedämpfter Stimme: „Ich könnte das stundenlang machen. Es gibt zwar nur zwei Töne, aber es gibt so viele Möglichkeiten: über die Saiten streicheln, streichen, einzelne Saiten zupfen, härter, weicher, schnell, langsam, … Und es ist, als würde ich dir über den Rücken streicheln. Da überlegt man, was dir gut tun würde.“
Sein Kopf lehnt sich zurück, er taucht wieder ab in die Welt der hauchenden Klänge. Minute um Minute vergeht, in denen kein Wort mehr fällt. Zwei Töne ersetzen Worte, nur sie durchqueren die Stille im geschlossenen Raum.
Mats fällt es schwer, einen letzten Ton zu setzen. Nachdem er sich dazu entschließt, hallt die Schwingung sekundenlang nach. Langsam steht Mats auf, vermeidet Geräusche, schaut ebenso langsam und neugierig von oben über die Kopflehne. Maike bemerkt ihn, legt ihren Kopf in den Nacken, schaut ihn entspannt lächelnd an: „War schön. Hab sogar die Augen zumachen können. Danke.“
„Gerne. War nicht zu laut?“
„Nein, hätte ruhig bisschen lauter sein können.“ Sie wirkt, als wäre sie gerade aufgewacht nach einem langen, entspannenden Schlaf.
Ohne Eile tauschen sie die Rollen. Für seine Größe ist der Stuhl nicht gedacht. Dennoch versucht Mats, ihn so gut es geht zu nutzen, legt die Hände und Arme an die hölzernen Seiten, um die Vibrationen spüren zu können. Auch er schließt die Augen, auch jetzt bleiben die Münder weitgehend geschlossen. Auch jetzt vergeht Zeit – und sie scheint gleichzeitig stillzustehen.
Der letzte Ton erklingt. Leise sprechen sie über Erlebtes. Fotos zur Erinnerung entstehen. Er macht mehrere Fotos von Maikes Gesichtshälften aus Neugier, ob sie eine Schokoladenseite hat, doch er kann problemlos mit beiden leben. Sie selbst sieht sich auf den Bildern weniger unkritisch.
„Und jetzt Klavier?“ – wieder strahlt Maike und wieder könnte Mats ihr angesichts dieses Lächelns nicht den geringsten Wunsch abschlagen. Der Hocker ist breit genug für beide. Sie sitzt links von ihm, die Hüften berühren sich. Es ist nicht das erste Mal, dass Maike am Klavier sitzt, für Mats schon. So behutsam, wie sie zuvor an den Xylophonen und dem Klangstuhl spielten, so behutsam wandern die Hände über die Tasten. Hin und wieder schauen sie auf die Hand des anderen, nach einem gemeinsamen Takt suchend. Oder sie vertrauen ihren Ohren. Manchmal huscht ein entspanntes Lächeln über beide Gesichter, manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen. Minutenlang sitzen sie eng nebeneinander und würde nicht einer von beiden mit kräftigem Druck eine der weißen Tasten drücken, dann würden sie wohl noch morgen miteinander spielen.
Der Ton klingt aus, sie schauen sich in die Augen. So richtig mag keiner die Stille durchschneiden.
„Zufrieden?“, raunt Mats.
„Ja. Und du?“
„Hatte was von Tanzen von zweien, die noch nie miteinander getanzt haben. Sagt ein leidenschaftlicher Nicht-Tänzer. Man versucht, sich auf den anderen einzustimmen, um sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten. Man weiß nicht, ob der andere Rock´n´Roll will oder Träumerei von Robert Schumann. Keiner hat geführt, zumindest hatte ich nicht das Gefühl. Und dann gabs die Momente, wo es einfach passte.“
Sie lächelt: „Freut mich, schön. Oh, die Klangschalen! Die will ich unbedingt noch probieren. Legst du dich auf den Boden?“
Mats legt sich mitten in den Raum, Maike nimmt zwei Klangschalen vom Schrank, legt die kleinere auf seine Brust, schlägt vorsichtig an die goldglänzende Wand, dann stärker. Mats reagiert verhalten. Der Klang hallt ewig nach, er spürt aber nichts im Körper. Dann ist die größere Schale dran. Maike setzt sie vorsichtig ab, schlägt dagegen. Mats lacht dezent, die Vibrationen durchlaufen jetzt spürbar den Brustkorb, sein Lachen lässt die Schale beben. Maike schlägt stärker, Mats lacht intensiver.
„Jetzt auf deine Stirn.“
So wie jeder Ton durch den Raum schwingt, so schwingen zwischen Mats und Maike Neugier, Begeisterung, kindliche Freude.
Dies bleibt, als sie die Rollen tauschen. Nun liegt Maike am Boden, Mats setzt die Schale auf ihre Stirn, schlägt vorsichtig gegen sie, danach kräftiger. Maike, die sensibler als die meisten Menschen Dinge spürt, durchfährt es: „Unglaublich … Ich merk das überall. Boahh … Heftig …“
Die Uhr tickt.
„Noch ein Selfie?“, fragt Mats.
Nun liegen beide auf dem weichen Boden, diverse Male klickt die Kamera, welche völlig entspannte Gesichter einfängt.
Mats legt das Handy beiseite, beide bleiben noch einen Moment liegen: „Schön“, sagt er kurz und entschlossen.
Maike neigt den Kopf zu ihm: „Ja?“
Er nickt voller Überzeugung: „Ja!“
„Okay, wenn du das sagst, glaub ich dir.“
Sein Blick zeigt sich mit Fragezeichen.
Sie erklärt: „Wenn ich allein bin und Sachen erlebe, weiß ich nicht, ob das jetzt was Schönes ist oder nicht. Wenn jemand dabei ist und mir sagt, wie es für ihn ist, dann weiß ich, wie es war.“
„Hmm, schräg“, raunt Mats nachdenklich, „Hab ich so noch nie gehört.“
„Mir fehlt halt der Zugang zu Gefühlen.“
„Ich überlege, ob das jetzt Freude ist oder Glücksgefühl oder Leichtigkeit …“
„Kann es nicht alles zusammen sein?“
„Klar, und am Ende ist es ja auch egal. Hauptsache, es fühlt sich so richtig gut an.“
„Geht es dir so?“
„Oh ja. Wie oft im Leben erlebt man so was? Wie oft werden wir noch mit einem anderen Menschen an einem Klavier sitzen, den wir gerade mal paar Tage kennen, in so einer Atmosphäre? Mach eine Umfrage unter Paaren und da werden nicht nur 10% sagen: Oaaah, so was will ich auch erleben. Klar, wir sind in einer Klinik, eigentlich will man hier nicht landen müssen. Aber wäre ich nicht hier gelandet, hätte ich das hier nie erlebt. Also auch wieder Glück. Naja, und ´ne Menge Leichtigkeit. Wir liegen hier nebeneinander auf dem Fußboden, als würden wir uns seit Monaten kennen. Ich muss mir immer mal wieder sagen, dass wir uns vor nicht mal einer Woche über den Weg gelaufen sind, weil ich mit dir diese Momente erlebt habe, die sich bei anderen auf Wochen bis Monate verteilen. Das ist verrückt.“
Abends steht Mats allein am Fenster seines Zimmers, schaut dem Regen zu, schaut auf den sandigen Weg, versinkt in Gedanken: Wie viel Freude, Glück oder Leichtigkeit hätte er gefühlt, wenn er mit einer x-beliebigen Mitpatientin am Klavier gesessen und auf dem Boden gelegen hätte? Hätte es sich genauso intensiv angefühlt, wenn er am Klangstuhl einen anderen Rücken als den von Maike vor Augen gehabt hätte? Auch wenn er niemals eine völlig unbeeinflusste Antwort auf diese Fragen bekommen würde – für Mats ist sie recht klar.
Genauso klar: Die Gelegenheiten, noch einmal neben Maike sitzen oder liegen zu können, verrinnen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommeln, den er von seinem Zimmer aus sieht. Morgen wird er die Klinik verlassen.
Mats steht noch immer am Fenster, die Kopfhörer spielen Grönemeyers „Halt mich“: „Bin vor Freude außer mir, will langsam mit dir untergehn. Kopflos, sorglos, schwerelos in dir verliern.“
Er legt die Stirn in Falten, glaubt, es habe jemand an der Tür geklopft. Er geht hin, öffnet.
„Wollen wir noch bisschen rausgehen? Der Regen soll gleich aufhören“ – es ist Maike.
„Na gut“ – in seiner Stimme schwingt Melancholie, Abschiedsstimmung – und ein Hauch von Freude. „Willst du wo Bestimmtes hin? Sonst könnten wir an einen kleinen See fahren, ist nicht weit weg, schön ruhig.“
„Okay“ – der Vorschlag stößt auf entspannte Gegenliebe.
Nun sitzen sie hier im See. „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“ Stille, während die Sonne einen Regenbogen in die Wolken malt.
Am nächsten Tag: Für Mats war seine letzte Nacht in der Klinik eine unruhige. In der letzten Therapie wird ihm erst so richtig bewusst, dass sein Alltag der letzten acht Wochen morgen vorbei sein wird.
Vor dem Mittagessen holt er eilig noch etwas aus seinem Zimmer, geht in den Speiseraum, setzt sich wie immer schräg gegenüber von Maike. Sein Blick wandert schnell über die Mitpatienten, alle sind mit Essen beschäftigt. Sein Arm geht Richtung Maike, seine Hand ist geschlossen. Mit Blicken verständigen sie sich. So hält sie ihre Hand auf, er übergibt ihr einen Kaffeelöffel, sie schmunzelt, schließt schnell ihre Hand, nickt dankend und verhält sich genauso unauffällig-verschwörerisch wie Mats.
Die Geschichte hinter dem Löffel: Vier Tage kannten sie sich, als sich die beiden zu einem kleinen Spaziergang verabredeten. Von einer Mitpatientin hatte Mats ein Stück Kuchen bekommen. Er schnappte sich zwei Löffel aus der Stationsküche und die Leckerei. Als er mit Maike auf einer Bank saß, packte er die kleine Mahlzeit aus seinem Rucksack, gab ihr einen der beiden Löffel. Irgendwann sah sie auf die Rückseite, las still die Prägung und lachte: „Hast du mir den mit Absicht gegeben?“
Mats hatte verwirrt geschaut, Maike hielt ihm den Löffel vor die Augen – und er musste ebenfalls lachen: „Princess. Nein, das ist jetzt purer Zufall, Ehrenwort.“ Nach einer Weile: „Eigentlich müssen wir den klauen …“
Maike war von der Idee begeistert, der Löffel wanderte zurück in den Rucksack und nie wieder in die Schublade der Stationsküche.
Der Bücherschreiber in Mats hatte besonderen Gefallen an der Aufschrift. In der Kommunikationstherapie sollte paarweise Smalltalk geübt werden. Maike hatte die Frage gezogen: „Welche Figur würdest du in einem Film gerne spielen?“
Sie hatte kurz überlegt, sagte dann: „Eigentlich wollte ich immer King Kong sein, ganz stark. Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, die Frau zu sein, die er in seiner Hand trägt. Ihm vertrauen können, dass mir nichts passiert. Ich glaube, das fühlt sich gut an.“
Zwei Stunden zuvor war es um seine großen Hände gegangen. Nicht die von King Kong, sondern die des Mannes, in dessen Gegenwart sich Maike sicher fühlte. Für den Autor in Mats bestand wenig Zweifel: Er war King Kong und sie die Prinzessin, die er nicht fallen ließ und die sich dank ihm fallenlassen konnte. Ob dieses Gefühl der Wahrheit entsprach? Auf jeden Fall war es eine gute Geschichte.
Seiner Therapeutin erzählte Mats sie allerdings nicht. Von ihr hielt sich in seinen Ohren der Satz: „Sie sollten versuchen, nicht mehr Frauen retten zu wollen.“ In den Einzelgesprächen hatte sie einen roten Faden gefunden, der – wie bei jedem Menschen – in der Kindheit begann und sich weit ins Erwachsenenalter zieht. Als Kind erlebte Mats eine schwache Frau – seine Mutter, die sich gegen einen übermächtigen Mann – seinen Vater – nicht wehren konnte. Mats habe deshalb einen Drang entwickelt, Frauen beschützen zu wollen, weil er seiner Mum nicht helfen konnte. Dabei hätte eigentlich SIE ihre Kinder beschützen sollen. Also bot er Frauen immer wieder Halt. Wenn du aber immer für andere da bist, um ihnen zu helfen, vergisst du dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse. Das kann lange gut gehen – muss es aber nicht.
Wollte Mats Maike retten? Sie beschützen? Vergaß er seine eigenen Bedürfnisse? Auch wenn der Satz von Maike über King Kongs Hand immer wieder in seinem Kopf umherschwebte und ein warmes Bild ergab, war er sich sicher, sie nicht retten zu wollen. Er würde die Erinnerungen, die sich mit Maike, ihrem Gesicht, ihrem Lächeln und ihrem Wesen verbanden, mit genauso großer Dankbarkeit und Demut in den Koffer packen, wenn sie King Kongs Stärke hätte. Er hatte sehr wohl an seine Bedürfnisse gedacht, wann immer Maike aus Schuldgefühlen fragte, ob sie noch jemanden mitnehmen sollten und er klar „Nein“ gesagt hatte.
Und auch mit einer King-Kong-starken Maike vor Augen hätte Mats jetzt nicht weniger Wehmut, so kurz vor dem Abschied von ihr. Er bringt seinen Teller weg, Maike ebenso. Sie gehen schweigend auf den Flur. Gleich nebenan ist das Zimmer von Mats, in welchem Koffer, Tasche und Rucksack stehen, fertig gepackt.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde. Dann trennen sie sich – doch nur vorübergehend. Noch einmal liegen sie sich in den Armen, nicht kürzer als zuvor. Eine Woche kennen sie sich – wer sie so sieht, würde es nicht glauben.
Noch ein Blick in die Augen des anderen, ein kurzes Nicken ohne Worte, dann geht Maike den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Mats holt das Gepäck, verabschiedet sich bei den Schwestern, die gerade Dienst haben, ein Patient kommt noch hinzu, auch er sagt Lebewohl. Dann verlässt er das Gebäude, geht zur Straßenbahn. Die Sonne scheint, Haufenwolken schmücken den Himmel. Auf dem Weg zum Bahnhof hallen viele Worte nach, die er bei den Abschieden gehört hat.
Und er denkt an den Abschied von Maike, an die langen, warmen Umarmungen, an den Abend am See mit dem Regenbogen, an die Stunden im Musikraum, an die kleineren, gemeinsamen Momente. Würde er all das noch einmal erleben dürfen, an anderen Seen, in anderen Räumen? Mit wem?
In seinem Koffer liegen die Bilder, die er in den Gestaltungstherapien gemalt hat. Auf einem steht ein Satz aus einer seiner Geschichten, mit Tinte geschrieben: „Ich laufe auf Pfaden, welche ich mit ihr ging, sehe immer wieder ihre Spuren, höre ihre Stimme, weit weg. An Bänken, Brücken, auf Wiesen kleben Bilder von uns, die keiner entfernt hat.“
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Mats schmunzelt, schaut noch länger in das Gesicht der Frau neben ihm, wobei in ihm mehr und mehr das Gefühl aufsteigt, Maike meine diese Frage ernst. Nach längerem Zögern raunt er: „In einem Buch wäre diese Frage der Beginn eines unglaublich romantischen Dialogs, an dessen Ende sich die beiden küssen. Aber du scheinst wirklich nach einer Erklärung zu suchen?“
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wieder ziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln in die Breite, wieder sieht Mats in Maikes braune Augen, in denen er einen Hauch von Neugier zu sehen glaubt – aber auch große Erwartungen. In Gedanken versinkend, schweift sein Blick nach vorn, auf das glatte Wasser des Sees, in welchem sich die von der Abendsonne gelbgrün angemalten Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Auch die Augen der Frau, die dicht neben ihm auf der Bank sitzt, wandern jetzt über das Wasser, die Spiegelungen, die Windräder in der Ferne.
Stille.
Mats findet erste, neue, leise Worte: „Eigentlich sollte das Gefühl, dass mit Liebe verbunden ist, genauso selbstverständlich sein wie Hunger oder Durst. Aber so einfach ist es wohl doch nicht …“
Maike sieht zu ihm: „Du musst ja nicht.“
Er lächelt: „Na jetzt rattert es schon in meinem Kopf …“
„Und was sagt er?“
„Er lässt fragen, ob du platonische Liebe meinst, wie man sie gegenüber den eigenen Kindern haben sollte, oder Liebe, bei der Herzen in den Sand am Meer gemalt werden in der Hoffnung, sie werden niemals weggespült?“
„Das mit den Herzen.“
„Dann ist es ja einfach …“
Maike schaut Mats fragend an, zögert: „Wirklich? Nee, du verscheißerst mich wieder, oder?“ Unsicher lächelt sie.
Er versucht, ernst zu bleiben, doch es gelingt ihm nicht lange. Sein „Neeein“ kauft sie ihm nicht mehr ab, dafür kennt sie ihn inzwischen zu gut, auch wenn sich Mats und Maike erst fünf Tage zuvor das erste Mal begegnet sind und Maike ihren Gefühlen selten vertraut.
„Du kannst ja erstmal sagen, wie Liebe aussieht, wenn sie ein Wesen wäre“ – wieder scheint in Maikes Stimme viel Erwartung zu liegen.
„Das macht es ja noch viel einfacher!“
Sie lacht: „Hör auf, ich weiß schon, wie du es meinst. Du musst ja nicht …“
Er nickt entwaffnet: „Stimmt! Ich sitze hier bei Sonnenuntergang mit einer Frau mit rehbraunen Augen, mit der ich ganz allein bin vor einer Kulisse, die wie gemalt ist und der ich erklären soll, wie sich Liebe anfühlt und wie sie aussieht. Da werde ich bestimmt sagen: Guck doch einfach mal bei Google nach.“
Ihr Gesicht strahlt, doch aus ihm liest der Mann neben ihr auch etwas Unsicherheit. Wieder grübelt er lange, sagt dann: „Liebe ist glaube nur über andere Gefühle zu erklären. Wenn du auf diese Gefühle auch schwer Zugriff hast, dann sitzen wir morgen früh noch hier. Ich könnte damit leben …“
„Brrr, das würde mir zu kalt.“
Die Antwort lässt Mats nicht kalt, er versucht es zu überspielen: „Dann geben wir mal Gas. Hmmm … Ich gehe jetzt einfach von mir selbst aus. Wenn es für dich schwer zu fühlen ist, haben andere vielleicht auch Probleme mit dem Zugriff auf dieses Gefühl.“
Noch einmal wandern seine Augen über die sich im See spiegelnden Bäume, folgen einer Schwalbe, die dicht über das Wasser fliegt auf der Jagd nach Nahrung. Zögernd sucht er die Gedanken in seinem Kopf zusammen: „Vor paar Jahren hätte ich einer Frau die berühmten drei Worte sagen können. Drei Jahre war sie Stammgast in meinem Kopf, mit längeren Pausen, wenn wir keinen Kontakt hatten. Wir haben uns vielleicht 15 Mal getroffen, einmal Silvester zusammen mit einer Freundin von ihr gefeiert, wir waren bei einem Weihnachtskonzert, wir lagen lachend am Elbufer bei einem Konzert mit der erleuchteten Altstadt von Dresden als Kulisse, wir haben viel zusammen gelacht – und es gab Momente, wo sie einen Charakter zum Davonlaufen zeigte. Eigentlich hätte ich schon nach dem ersten Treffen wegrennen müssen, wenn Liebe was mit inneren Werten zu tun hätte. Aber Liebe ist ein biochemischer Suchtzustand mit allem, was zur Sucht dazugehört …“
„Bähhh! Nee, das klingt ja furchtbar?!“ Maike lacht und verzieht das Gesicht gleichzeitig so, als hätte sie Zitronenstücke zwischen den Zähnen.
Mats lächelt: „Hey, du wolltest es doch wissen! Da musst du jetzt durch.“
„Nee, so doch nicht. Mach mal richtig.“
„Also so wie in den Liebesfilmen, die du geguckt hast?“
„Ja!“
„Hmm, dann bin ich raus.“
Maikes Lächeln hält noch an, aber die Verunsicherung kehrt zurück: „Warum?“
Er schaut ernst: „Hatte je ein Actionheld in einem Film eine posttraumatische Belastungsstörung, wenn er 30 Mal von Kugeln knapp verfehlt wurde, in den Händen von Gangstern gefangen war oder er sonst wie um sein Leben zittern musste? Filme sind Märchen.“
Auch aus ihrem Gesicht ist das Lächeln verschwunden, während sie in seine Augen schaut. Ratlosigkeit verbindet die beiden auf der Bank. Was nun?
Mats durchbricht das Schweigen: „Keine Angst. Auch wenn man weiß, dass Liebe ein Suchtzustand ist: Wenn dich die Liebe erwischt, dann wirst du es nicht als Sucht empfinden. Du hast entweder Schmetterlinge oder Flugzeuge im Bauch.“
Die Neugier in ihr kehrt zurück: „Flugzeuge?“
„Naja, je nachdem, ob deine Liebe auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn der andere mit an Bord ist, gibts Schmetterlinge. Wenn du in dem anderen nichts auslöst, was auch ihn süchtig nach dir macht, dann hast du die Flugzeuge.“
„Nee, dann ist es ja keine Liebe. Nur wenn beide wollen, ist es Liebe. Wenn einer nicht will, dann suchst du dir einfach die Nächste und wenn die auch nicht will, dann die Nächste. Sonst wartest du ja ewig auf die Richtige! Da wirst du ja bekloppt.“
Mats weiß nicht, was er darauf antworten soll. Auch wenn er sich seiner Sache sicher ist, weil er es oft genug selbst erlebt und bei anderen gesehen hat, taucht die Frage in seinem Kopf auf, ob diese bisherige Sicht völlig verkehrt ist. Wie kann Maike sich bei der Erklärung, wie Liebe funktioniert, so sicher sein und gleichzeitig hungernd nach einer Erklärung suchend?
Mats ringt nach Worten, fühlt sich außerstande, auf Maikes Sicht einzugehen, versucht, die Klippe zu umschiffen: „Also wenn man Flugzeuge im Bauch hat, wird es zäh.“
„Deshalb mag ich das Verlieben nicht. Einer leidet am Ende immer. Das kann ich nicht ertragen.“
Er schaut verwirrt: „Warum willst du trotzdem wissen, wie sich Liebe anfühlt?“
„Naja, ich will das bei allen Gefühlen lernen.“
Wieder steigt in Mats das Gefühl von Ernüchterung auf: Dies ist keine Szene aus einem Liebesfilm, so passend die Kulisse und die Atmosphäre auch sein mögen. Aber damit braucht er auch keine Rücksicht darauf nehmen, auch nur einen Hauch von Romantik zerstören zu können. Also fährt er fort: „Dann erkläre ich einfach mal meine Version von Liebe weiter, dann bekommst du vielleicht zusammen mit den Liebesfilmen einen guten Durchschnitt. Also: Liebe ist eine Sucht. Die Droge ist immer in deinem Kopf. Du willst sie sehen, du willst sie lesen, du willst sie hören und wehe, sie meldet sich nicht zehn Minuten nachdem du eine Nachricht an sie geschrieben hast. Raucher brauchen regelmäßig ihre Zigarette, Verliebte brauchen genauso regelmäßig ihre Droge. Wenn du aber nicht wirklich rankommst, weil der andere eben nicht das für dich empfindet, was du für ihn empfindest, dann bekommst du Entzugserscheinungen. Und du kommst von deiner Droge nur los, wenn du absolut die Finger von ihr lässt, also pure Abstinenz.
So ging es mir mit dieser Frau, mit der ich mich oft traf: Sie schien mich nur als guten Zuhörer zu sehen, der für sie da ist, wenn kein anderer für sie da ist. Allerdings gab sie auch Signale von sich, die überhaupt nicht nach Ich sehe dich nur als guten Kumpel aussahen. Solche Signale heizen die Sucht dann wieder an: Vielleicht komme ich ja doch noch ran!!! Wenn der Kontakt mal einschlief, ließ die Wirkung nach und ich konnte sie völlig nüchtern betrachten – oder dachte fast überhaupt nicht an sie.
In den drei Jahren hatte ich trotz all dem, was wir so gemeinsam gemacht hatten, wo wir viel gelacht und schöne Momente hatten, das Gefühl, dass es zwischen ihr und mir eine Mauer gibt. Sie kann Menschen schwer vertrauen. Wenn sie einen Mann kennenlernt, muss sie immer erst über längere Zeit gucken, ob sich Gefühle gegenüber ihm entwickeln. Dieses Verlieben auf den ersten Blick kennt sie nicht. Hmm, sie war die Erste, bei der ich mich fragte, ob man Liebe lernen muss und jetzt soll ich dir erklären, wie sich Liebe anfühlt. Schräg.“
„Siehste, hättest du sie am Anfang in den Wind geschossen, als sie nicht angebissen hat, hättest du dir das alles danach ersparen können und wärst heute mit einer anderen glücklich.“ Wieder liegt kein Zweifel in den Worten von Maike.
Und wieder weiß Mats nicht, was er antworten soll. Beide schweigen. Die Blicke wandern Richtung Himmel. Über den Windrädern, die sich hinter der linken Seeseite erheben, malt sich langsam ein Regenbogen in die Wolken. Wenig später wächst die andere Hälfte an der rechten Seeseite. Mats dreht sich nach hinten, kann durch die Bäume die untergehende Sonne sehen, umrahmt von dunklen Wolken. Die Frau neben ihm tut es ihm gleich, die Köpfe sind nicht weit voneinander entfernt. Stille.
„Wahnsinn …“, raunt er, als er wieder nach vorn schaut.
„Schön, oder?“, fragt Maike.
Im ersten Moment glaubt er, sie kann sich an dieser nun noch imposanteren Kulisse erfreuen. Im zweiten Moment wandert die Frage durch seinen Kopf: Weiß sie nicht, ob das jetzt schön ist?
Nach wenigen Minuten verblasst der Regenbogen.
Maike fragt: „Warst du verliebt in die Frau?“
Er neigt seinen Kopf hin und her: „Ich war offenbar süchtig nach ihr, also verliebt im biochemischen Sinne. Aber erst in einem Moment nach drei Jahren hätte ich ihr sagen können: Ich liebe dich. Es war ein Moment, wo sie diesen Panzer fallen ließ, mit dem sie sich aus meiner Sicht immer umgeben hatte. Diese unsichtbare Mauer war weg, die ich so lange gefühlt hatte. In dem Moment glaubte ich, sie vertraue mir nun endlich, kann scheinbare Schwächen zugeben. Dafür hätte ich ihr die drei Worte sagen können, ohne dafür eine Belohnung zu bekommen, also ohne Erwiderung oder Dafür nehm ich dich mit in die Kiste! In dem Moment empfand ich Liebe für sie, wenn du so willst Echte Liebe, nicht Sucht. Diese echte Liebe verbinde ich mit absolutem Vertrauen, mit Fallenlassen können, mit tiefer Verbundenheit. Gut, man kann auch ´nen besten Kumpel haben, dem man blind vertraut, immer sein kann, wie man ist und bei dem man weiß, dass man auch in 40 Jahren noch bestens miteinander auskommt. Bei der echten Liebe ist das aber für mich eine andere Ebene, die sich wärmer, enger, inniger anfühlt. Es wäre ein riesiger Unterschied in meiner Gefühlswelt, ob ich jetzt hier mit einer Kumpeline sitze oder mit einer Frau zum Verlieben. Den Unterschied zu beschreiben … Schwierig … Kommt mir unmöglich vor.“
„Und wie sieht die Liebe aus? Also die echte Liebe? Wenn sie ein Wesen, ein Mensch wäre?“
Gedankenverloren schaut Mats auf den lehmigen Boden vor sich, lächelt kurz: „Ich hab gerade die unerwiderte Liebe vor Augen: Groß. Das Gesicht von dem Menschen, den man nicht haben kann, stark geschminkt. In den Händen eine Fliegenklatsche mit Nägeln dran.“
Maike schüttelt sich: „Bääh, nicht so was! Sag was über die echte Liebe!“
Er lacht kurz auf: „Okay“, fährt dann nachdenklich fort: „Sie ist normal groß, für mich eine Frau, kleiner als ich. Emphatisch. Verständnisvoll. Warmherzig. Steht sich nicht im Weg, kann Komplimente annehmen – bzw. wahre Aussagen über ihr Aussehen und Wesen. Sie ist nicht besonders auffällig gekleidet – im Gegensatz zur Lust mit ihren roten Lippen. Sie kann sich fallenlassen, macht sich keinen Kopf, ob ihr Hintern zu dick oder die Nase zu groß ist. Sie ist ein eher zartes Wesen, mit dem man behutsam umgehen sollte.“
Maike wartet ab, ob noch weitere Gedanken folgen, beobachtet ihn beim Nachdenken.
Mats schüttelt den Kopf: „Hmm, nein, das wars erstmal. Ach so: Liebe sollte sich nicht immer drei Jahre Zeit lassen“ – beide lachen. „Die Freundin von einer Freundin ist nach zwei Tagen Kennenlernen mit einem Mann zusammengezogen, die sind inzwischen glaube 20 Jahre verheiratet. Wenn die mir damals erzählt hätte, dass sie mit dem Typen zusammenziehen will nach nur zwei Tagen, hätte ich sie für verrückt erklärt – aber ab und zu scheint es so zu funktionieren. Hilft dir das alles weiter?“
Sie überlegt, der Blick wirkt positiv: „Ich guck mal. Können wir morgen nochmal hierher fahren und dann machen wir das mit Wut?“
Liebe, die stärkste Droge, die es gibt. Glaubst Du nicht? Verstehst Du Dich, wenn Du verliebt bist? Klicke hier, um zu einem PDF von „Quarks“ über die Biochemie der Liebe zu kommen. Und keine Angst: Du wirst die rosarote Brille nie verlieren.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)