Wie erklärst du Empathie? Kannst du es in einem Satz beschreiben? Oder bräuchtest du eher eine A4-Seite? Würde dir überhaupt etwas einfallen? Setzt du es mit Mitgefühl gleich? Hast du Empathie?
Männer!
Ich lernte Anja in einer psychosomatischen Klinik kennen. In dieser Zeit entschied sie sich, ihrem Mann den Laufpass zu geben. Entscheidend war, zu spüren, dass Mann sich auch anders um sie bemühen kann als es jener tat, mit dem sie 14 Jahre zusammenlebte. Im Nachhinein erkennt sie in ihm einen Menschen mit narzisstischen Zügen. Narzissten verstehen es sehr gut, deine Schwächen zu finden und sie zu nutzen, meist ist es der nie gesund gewachsene Selbstwert.
In Anjas Kopf sitzt der innere Kritiker, der ihr immer wieder klarmacht: „Das machst du falsch. Du bist falsch.“ Er lässt sie nach der Entscheidung auch daran zweifeln, ob die Trennung richtig ist. Ihre Schwester hatte Anja vor der Hochzeit gewarnt: „Nicht diesen Mann! Du hast was Besseres verdient.“
In der Klinik hat sie die freie Wahl. Die erste fällt auf einen Mann, der harmlos, freundlich, zurückhaltend wirkt – allerdings die Diagnose narzisstische Persönlichkeit hat. Ist es Zufall, dass Anja wieder bei solch einem Typ landet? Der Abschied von ihm fällt Anja schwer, doch der nächste Kandidat ist längst da. Ein anderer Mitpatient, recht konservativ eingestellt, sieht dieses Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit Kopfschütteln: Noch nicht mal richtig getrennt und schon von einem zum anderen …
Anja genießt die Aufmerksamkeit von Anton, für sie ein spürbarer Unterschied zu dem, was ihr Mann für sie übrig hat. Mit Anton kann sie über alles reden, nachdem sie sich entschieden hat, sich ihm gegenüber zu öffnen. Mit Vertrauen tut sie sich schwer. Sie fühlt sich verstanden, genießt die Zeit mit ihm. Er schenkt ihr so viel Aufmerksamkeit wie keiner anderen Mitpatientin. Das macht Mann nicht einfach so, oder?
Nach dem Ende der Klinikzeit treffen sie sich, es läuft – bis Anja etwas Falsches sagt: „Die Treffen mit dir sind der Höhepunkt meiner Woche.“ Wenn du dich um einen anderen Menschen bemühst, würdest du doch nichts lieber hören als einen solchen Satz, oder? Doch Anton reagiert nicht begeistert, überhaupt nicht – ernüchternd für Anja. Die Treffen laufen aus, der Kontakt per Chat und Telefon bleibt.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“ Anja weiß es nicht – und hängt mächtig in den Seilen. Die rosarote Brille ist auf ihre Nase geschweißt, auch als wir uns zu dritt treffen. Anja und Anton sitzen mir gegenüber. Ich weiß, wie sehr sie innerlich an ihm hängt – und er preist ihr locker-flockig mehrere Männer an. Anja lächelt äußerlich. Ich greife mir innerlich an den Kopf: Wie Scheiße muss es sich anfühlen, wenn dir der Mensch, der Farbe in dein oft graues Leben bringt, andere Typen schmackhaft macht … Empathie?
Die Verabschiedung zwischen Anton und mir ist deutlich emotionaler als jene zwischen ihm und Anja. Wenn sie immer noch einen Beweis brauchte, dass er nicht der Farbenbringer sein will, dann ist es dieses Treffen. Anton steigt in sein Auto, ich laufe mit Anja zum Bahnhof.
Rosarot gegen das Grau
„Kann er nicht einfach mal doof sein?!“, fragt sie mit reichlich Seufzen und Verzweiflung in der Stimme, die Schultern auf Halbmast.
Die Reaktion, die mir auf der Zunge liegt: „Kannst DU nicht einfach mal doof sein?!“ Anja weiß, dass ich mir Hoffnungen bei ihr mache, doch wenn ein Mensch so neben mir in den Seilen hängt, gewinnt in mir das Mitgefühl gegen Egoismus. Empathie?
Mit dem Treffen verschwindet die rosarote Brille nicht – nicht bei Anja, auch nicht bei mir. Irgendwann schreibt sie: Sie merke schon, dass sie sich in meinen Augen entzaubern würde. Ist das die sanfte Version, mir einen Korb zu geben? Oder ist es für Anja immer nur eine Frage der Zeit, wann Mann all die Fehler an ihr entdeckt, welche ihr innerer Kritiker ihr täglich seitenweise vorbetet? Kann Mann sie überhaupt lieben, ohne narzisstisch-manipulativ zu sein? Wenn sie so wenig von sich hält, kannst du doch nicht kommen mit „Passt schon“?! Dann bist DU doch der verlogene Typ, oder? Wenig später sorgt sie für klare Verhältnisse zu meinen Ungunsten. trotzdem bleiben wir in Kontakt.
Zwei Monate nach dem Treffen zu dritt rauscht Anja in ein enormes Tief, das ihr Angst vor sich selbst macht, sie geht freiwillig in die Klinik. Der Liebeskummer scheint die Hauptrolle dabei zu spielen. Anton lässt sie nicht los – er hat schon längst losgelassen. Noch immer hat sie ein Bild von ihm in positiven Farben, auch wenn sie dazwischenschiebt: „Ich weiß, dass er kein Heiliger ist.“
Die dunkle Seite
Ich selbst lernte Anton in der Klinik nur wenig kennen. Auffällig war, wie enorm schlecht er verlieren konnte. Daneben gab es allerdings einen Farbtupfer, den Anja – ebenfalls recht erfolgsorientiert bei Spielen – nicht kannte. Dieser Tupfer hatte das Potential, Anjas Bild von Anton stark zu verwaschen. Doch wollte ich das? Sie hatte erst in ihrem Mann den Falschen erkannt, dann die Enttäuschung mit dem ersten Klinik-Kandidaten – sollte ich ihr jetzt klarmachen, dass sie sich schon wieder mächtig in einem Menschen getäuscht hatte? Ihr ging es absolut nicht gut und ich konnte Null abschätzen, was ein Geraderücken von Antons Bild bei Anja anrichten würde. Irgendwie schien es ihr immer noch gutzutun, ihn kennengelernt und greifbar zu haben als scheinbar ganz anderen Typ Mann. Außerdem: Wie sieht das aus, wenn ich mir Hoffnungen bei ihr machte und dann den anderen madig mache? Empathie?
In der Klinik stabilisiert sie sich langsam, bei ihrer Therapeutin ist natürlich auch Anton Thema. So, wie sie mir schreibt, denke ich wieder: „Arghh, wenn du wüsstest, was ich weiß …“ Langsam wechselt dieser fehlende Farbtupfer von „Wenn ich ihr davon erzähle, wäre das ihr K.o.“ zu „Das ist die vielleicht einzige Chance, wie sie sich von ihm befreien kann.“
Ich will, dass Anja es noch in der Zeit erfährt, während der sie rund um die Uhr Personal um sich hat, das sie auffängt. Als sie wieder von einem Therapeutengespräch über Anton schreibt, lasse ich durchblicken, dass ich ihr Bild von ihm verändern könnte. Sie möchte Bedenkzeit, gibt am nächsten Tag ihr Okay.
Anton, Anja und ich spielten in der Klinik abends oft Brettspiele, wir hatten viel Spaß. Als Anja an einem Abend kurz aus dem Raum ging, erzählte mir Anton von einer Bettgeschichte, recht stolz. Als die Frau anfing, mehr in dieser Bett-Beziehung zu sehen, hatte er ihr die Augen öffnen müssen. So wie er diese Geschichte erzählt hatte, klang das nicht nach einem einfühlsamen Mann, der Frauen auf Händen trägt – und wenn, dann nur bis zur Bettkante. Anton schien kontrollieren zu wollen, welche Frau was in ihm sieht – und bloß nicht zu viel. Wenn sie diese Regel verletzt, gibt es Klartext. Als Anja die Treffen mit ihm zum Höhepunkt der Woche erklärt hatte, verstieß auch sie wohl gegen diese Regel. Was Anja am gleichen Abend aus Antons Mund direkt erfuhr: Er hatte in seinen 40 Lebensjahren rund 25 Frauen leidenschaftlich geküsst. Zusammen mit der Bettgeschichte entstand für mich dieses Bild von ihm: Lange, innige Bindungen sind ausgeschlossen, das Jagen ist ihm wichtig, nicht gemeinsam verbrachte Zeit.
Anjas Reaktion auf meine Nachricht: „Scheiße.“ Tränen. Wut. Ernüchterung. Es ist gut, dass Schwestern und Therapeuten greifbar sind, sie werden in der Folge gebraucht. Auch wenn es ihr weh tut, ist sie mir dankbar.
Der Entzug
Die rosarote Brille wird blasser, langsam, sehr langsam. Anja bleibt mit Anton in Kontakt, auch per Telefon. Mittlerweile ist ein Dreivierteljahr vergangen. Die Sucht namens Liebe hält im Schnitt ca. 6 Monate, danach wird der Blick meist klarer. Doch bei Anja dauert es. Sie glaubt, dass sie mit Anton befreundet bleiben kann, schließlich gibt es auch abseits von Liebe Verbindendes mit ihm. Ich will ihr diese Illusion ungern nehmen, doch wenn jemand so an einem Menschen hängt, der andere dagegen eher weniger, dann wird da immer ein Stein im Schuh sein, der schmerzt. Aus eigener Erfahrung und der Erfahrung anderer rate ich jedem unglücklich Verliebten: absolute Abstinenz. Kein Kontakt, kein „Nur mal Hallo sagen“, kein „Einfach nur mal so treffen“ und dabei den Geruch der Droge wieder wahrnehmen. Liebe ist eine Sucht wie jede andere – nur stärker.
Anja hatte ich dies über die 9 Monate bis dahin ein, zwei Mal so geschrieben, aber nicht direkt auf sie gemünzt, eher als allgemeine Erkenntnis – natürlich mit dem Hintergedanken, dass sie nur mit dem Kontaktabbruch zur Ruhe kommen würde. Aber sag einem Menschen, der in einem anderen Menschen das große Glück sieht: „Lauf!!!“ Nicht zu ihm, sondern von ihm weg, für immer.
Anjas rosarote Brille landet mit der Zeit unter dem Bett, ist mal weiter entfernt, mal näher, sobald sie mit Anton telefoniert. Zum Geburtstag muss sie ihm natürlich übers Telefon gratulieren, ist ja harmlos. In der Nacht zuvor träumt sie davon: Sie gratuliert Anton – zum 60. Geburtstag. Und er? Reagiert uninteressiert. Genau das ist Anjas Angst, bevor sie mit Anton tatsächlich am Telefon spricht.
Ich schreibe ihr zu ihrem Traum: „Also ein Mann, von dem du dir Aufmerksamkeit/Anerkennung/Zuneigung erhoffst, aber er lässt dich links liegen. Der rote Faden aus der Kindheit?“
Ich wusste so gut wie nichts über Anjas Start ins Leben, obwohl sie in den Gruppentherapien viel gesprochen hatte. Laut meiner vagen Erinnerung war ihr Vater gestorben, doch das war falsch, „er war nicht da“, so Anja. Ich wurde das Gefühl nie los, dass sie mir nicht vertrauen kann und fragte deshalb auch kaum nach, was das Verstehen des anderen schwer macht.
Entsprechend antwortet Anja auf meine Frage, ob die ausbleibende Aufmerksamkeit eines Mannes der rote Faden aus Kindertagen bis heute ist: „Naja, so einfach ist es nicht. Verbundenheit ist das neue Wort.“
Die Antwort überrascht mich nicht. Ein schnelles „Da liegst du richtig“ kenne ich von ihr nicht. Das mag auch an ihrem Trotz liegen, der sich gerne zeigt. Überrascht werde ich am Tag darauf: „Ich habe mit meiner Freundin gestern Abend geredet und überlege, ob es nicht doch so ist. Roter Faden und so. Du liegst recht oft richtig, denke ich.“
Zuhören!
Für mich fühlt sich das „Du liegst recht oft richtig“ wie ein Ritterschlag an. Aber warum sollte auch bei ihr mein sonst so sicheres Gespür versagen? In den rund 14 Jahren zuvor hatte sich dieses Gespür entwickelt, vor allem durch das Zuhören bei den Geschichten anderer und meiner eigenen. Aus erster Hand kenne ich, was unerwiderte Liebe und das ewige Hinterherlaufen mit einem macht. Genauso kenne ich das Loch, welches durch Trauer ausgelöst wird. Ich kenne auch den Leck-mich-am-Arsch-Zustand, bei dem Gefühle gedämpft zu sein scheinen. Du bist in dieser Phase nicht traurig, aber du findest auch Dinge nicht schreiend komisch. Als die Oma einer Kumpeline starb und sie sich einer gefühlsmäßigen Schwebe befand, versuchte ich nicht, sie krampfhaft zum Lachen zu bringen, sondern einfach nur da zu sein, unverkrampft, mit der Gewissheit, dass es sich irgendwann wieder verändert. Empathie?
In diesen 14 Jahren kam ich immer wieder mit Menschen ins Gespräch, die sich bei mir verstanden fühlten, die sich mir öffnen konnten, so wie sie es bei anderen nicht bzw. kaum konnten. Bei diesen Gesprächen trieb mich immer Neugier an, auch wenn die Geschichten, die mir erzählt wurden, meist deprimierend waren. Mich interessierte immer der rote Faden, das Warum. Detektivarbeit. Wenn sich der rote Faden fand, war es immer ein Aha-Moment, als würde im Krimi der Täter gefunden. Mit jeder Unterhaltung wurde mir bewusster: Keiner unserer Special Effects kommt aus heiterem Himmel, jeder ist der Donner nach dem Einschlag – und der findet im Kinderzimmer statt. Die Beziehung mit einem Narzissten hat nichts mit Dummheit oder ähnlichem zu tun. Ein Narzisst weiß, was dir fehlt und nutzt es für sich aus – meist ist es Aufmerksamkeit. Selbst Stalken kann als Beweis von Liebe gesehen werden, wenn du als Kind keine Liebe bekommen hast.
Anton hatte Anja in der Klinikzeit und danach viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber was war sein Ziel? Wofür der ganze Aufwand, wenn sie ihn nicht zum Highlight der Woche erklären durfte? Was hatte er mit ihr vor? Einfach die nächste Kurzzeit-Bettgeschichte? Anders war es nicht zu erklären.
Eines hatte er erreicht: Stammgast in Anjas Kopf zu bleiben. Doch der Gast wird mit zunehmender Zeit zur Belastung, Anja kann und will ihn nicht mehr beherbergen. Und so entschließt sie sich nach einem Jahr zum harten Entzug: absolute Abstinenz, Kontaktabbruch, Chat löschen. Weg von der Droge. Weg von „Vielleicht ja doch noch …“
Die Wege, die wir gehen (könnten)
Als Anja während unserer Klinikzeit schweren Herzens Abschied genommen hatte von Kandidat 1, hing sie durch. Ich war erst meinen dritten Tag dort, sah die beiden nebeneinander am Tisch im ansonsten leeren Raum sitzen, die Hände berührten sich. Mit ihm war sie immer wieder zu einer Allee mit Kirschbäumen gegangen. Als sie wütend auf ihn war, holte sie ihm Kirschen – später wurde ihr klar, dass sie immer wieder Männern gefällig ist, sich selbst aber dabei völlig vergisst.
Ich ging davon aus, dass ich 2 bis 3 Wochen in der Klinik bleiben würde. Bis heute ist mir ein Rätsel, warum ich damals auf die Idee kam, Anja würde nun mit mir statt Kandidat 1 rausgehen – war der Wunsch Vater des Gedanken?! Auf jeden Fall sagte ich ihr, dass ich nicht mit ihr zur Allee laufen werde. Meine Superkraft namens Zuhören war mir inzwischen bewusst und ich wollte nicht, dass Anja sich von mir auch wieder gut verstanden fühlt, ich aber nach 2, 3 Wochen weg bin und sie wieder in den Seilen hängt. Abhängigkeit von Männern war ein großes Thema bei ihr. Empathie?
Was wäre passiert, wenn ich doch die Rolle übernommen hätte, mit ihr den Weg zu den Kirschbäumen gegangen wäre? Wenn ich mich nicht in sie hineingefühlt hätte, sondern egoistisch gewesen wäre? Hätte sie sich in mich verliebt statt in Anton? Oder wäre ihr „einfach nur“ der monatelange Liebeskummer inklusive dem zweiten Klinikaufenthalt erspart geblieben? Ist Empathie in dieser Welt der falsche Weichensteller für unsere Wege? Wenn so viele Menschen ohne gesundem Selbstbewusstsein das Kinderzimmer verlassen, sich kaum selbst lieben können und damit auch kaum „echte“ Liebe annehmen können, wie weit kommst du dann mit dem, was du als Empathie empfindest?
Ich verstehe
Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. So kannst du es bei Wikipedia lesen. Empathie wird gleichgesetzt mit Einfühlungsvermögen. Laut neuerer Hirnforschung gibt es wohl einen deutlichen Unterschied zum Mitgefühl. Empathie ist kein Gefühl, aber mit vielen Gefühlen verbunden.
Empathie funktioniert nur, wenn du deine eigenen Emotionen wahrnimmst, verstehst, deuten kannst. Wenn du dich selbst nicht verstehst, kannst du schwer andere verstehen. Zum Abschluss der Klinikzeit hatte ich Anja einen Brief geschrieben mit Wünschen für ihre Zukunft. Rund ein Jahr später las sich dieser Brief für sie anders, jetzt machte er mehr Sinn, weil sie sich inzwischen durch weitere Therapien und Selbstreflexionen besser kennengelernt hatte.
Ist es überheblich, wenn man glaubt, den Kern von fremden Menschen teils besser erkennen zu können als dieser Mensch selbst? Ich versuche, demütig zu bleiben, immer wieder Fragen zu stellen anstatt mich festzulegen: „Hey, wach auf, du willst die Aufmerksamkeit, die dein Vater dir nie geschenkt hat! Wenn du so weitermachst, landest du wieder bei einem Narzissten!“ Solche verbalen Einläufe würden voraussetzen, dass Menschen von Vernunft geleitet sind, man ihnen nur sagen braucht, was das Richtige für sie ist, sie sagen „Danke!“ und schweben durchs weitere Leben.
Die Liebe Vernunft
Hätte der Mensch etwas mit Vernunft zu tun, dann hätte Anja nach dem Treffen mit Anton und mir gesagt: „Okay, hab geschnallt, dass der mich nicht will, also probieren wir zwei es.“ Sie hätte sich monatelangen, schmerzhaften Liebeskummer erspart, wäre – hoffentlich – nicht noch einmal in der Klinik gelandet. Ich hätte es ausgehalten, das Highlight ihrer Woche zu sein. Aber in Sachen Liebe ist Vernunft noch machtloser als abseits davon. Optisches Beuteschema, Geruch, Hüfte-Taille-Verhältnis – wenn etwas davon nicht stimmt, kann Amor einpacken.
Aber es spielen, wie mir inzwischen klar ist, eben auch die roten Fäden aus der Kindheit eine Rolle. Du kannst nur so viel Liebe empfangen, wie du dich selbst liebst. Wenn dein innerer Kritiker dir ständig Listen deines Scheiterns überreicht, wie sollst du dann an ein ehrlich gemeintes „Ich hab nichts an dir auszusetzen“ glauben? Die „Liebe“ eines Narzissten ist da zielgruppenorientiert perfekt zugeschnitten: Nicht ehrlich, aber gerade so viel, wie du dich selbst lieben kannst.
Empathie oder Liebe?
Narzissten scheinen nicht lange Single zu sein, sie haben die Anziehungskraft von Misthaufen auf Fliegen. Mein Vater, absolut lieblos gegenüber Frau und Kindern, war 20 Jahre verheiratet, ich war bisher zwei Monate in einer Beziehung. In meinem Umfeld gab und gibt es reichlich Beziehungen, die ich nicht geschenkt haben möchte. Toxische Beziehungen scheinen Standard zu sein. Die Liebe der meisten Menschen zu sich selbst ist äußerst übersichtlich und damit können sie auch andere nicht wirklich lieben und Liebe annehmen.
Gespieltes Mitgefühl ist in Mode: So tun, als würde man sich für andere einsetzen. Reden, aber nichts wirklich tun. Frag die Leute im Ahrtal, frag Hinterbliebene von Terroranschlägen. Populistische Parteien, die nicht einmal den Anschein machen wollen, empathisch zu wirken, sind obenauf. Immanuel Kant gehörte zu den Ersten, die sich mit dem Missbrauch von Empathie durch Politiker befassten. Um Macht zu bekommen, braucht es nicht unbedingt eine Armee, es reicht schon der meisterhafte Umgang mit Worten. Das gilt genauso für toxische Beziehungen. Du brauchst deinen Partner nicht unbedingt an die Kette legen, die richtig platzierten Sätze können reichen.
Forscher befassen sich heute auch mit dem Missbrauch der Empathie durch Medien. Vom „Geschäft mit Gefühlen“ ist die Rede. Wer sich über Werbung finanzieren muss, muss so viele Menschen wie möglich anziehen und das erreichst du, wenn du negative Emotionen kitzelst: Wut, Neid, Angst, Frust. Schau dir Überschriften an: Wie sind sie formuliert? Empatisch?
Empathie kann krank machen, zur Empathischen Erschöpfungsstörung führen. Bin ich deshalb so im Arsch? Zu viel mitgefühlt?
Hilfst du mir?
Empathie für Menschen, deren Land zerbombt wird? „Ist doch egal, ob die von dem oder dem Oligarchen geplündert werden! Keine Waffen!“ Ich stand mit 11 Jahren nachts auf der Straße, meine Mutter war mit mir aus der Wohnung geflohen, weil mein Vater mal wieder zeigen musste, wer der Herr im Hause ist. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn keiner zu Hilfe kommt, keiner dem Tyrannen in den Arm fällt. Ich weiß, wie es ist, wenn der Übermächtige machen darf, was er für richtig und sich für unfehlbar hält. Ich weiß, dass ein solcher Mensch nicht mit Diplomatie zu stoppen ist. Ein schief gewachsenes Ego ist nicht mit Worten geradezurücken. Und auch wenn du vorher Fehler gemacht hast, sollte das kein Grund sein, Hilfe zu versagen. Ja, mein Bruder hatte mal wieder Scheiße gebaut, aber das ist für einen Vater kein Grund, gewalttätig zu werden.
Einfach doof sein
Der Mangel an Empathie wird der Sargnagel dieser Welt sein. Die Aktien der Empathie scheinen weltweit in den Keller zu rauschen und vererben sich an kommende Generationen. Eine Trendwende kann es nur geben, wenn Kinder mit gesundem Selbstbewusstsein aufwachsen, sie sich als Erwachsene selbst lieben können, nicht auf das Abwerten anderer angewiesen sind. Dann können wir auch nicht abhängig werden von manipulativen Narzissten. Wir brauchen keine Casanovas, bei denen wir stolz sind, als Nummer 26 in sein Blickfeld gelangt zu sein. Wir brauchen niemandem Kirschen holen, wenn wir wütend auf ihn sind. Wir brauchen unser Selbst nicht vergessen. Wir können mit anderen mitfühlen, weil wir unsere eigenen Gefühle wahrnehmen, verstehen. Wir können daran glauben, einfach nur so geliebt zu werden, ohne brav Pfötchen geben zu müssen oder anders gefällig zu sein. Wir können einfach mal doof sein.
“Erklär mir Gefühle” – die Serie zum Fühlen
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
Erklär mir Gefühle: Selbstzweifel
“Wenn ich dir gegenübersitze oder -stehe und wir uns ansehen, dann tut mir das gut. In diesen Moment spielt das, was alles an Scheiße in meinem Leben war und worüber ich mir heute einen Kopf mache, keine Rolle. Diese Momente sind meine einsamen Inseln, die Hütte im Wald. Dass ich dich ansehen kann und dass mir das so gut tut, ist mein großer Vorteil gegenüber dir.“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Erklär mir Gefühle: Hass
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen. Und wenn du doch noch leben solltest, dann zieh über Nacht um und hinterlasse keine Spuren. Denn wenn sie dich findet, wirst du bereuen, nicht FÜR sie gekämpft, sondern Krieg GEGEN sie geführt zu haben!
Erklär mir Gefühle: Unsicherheit
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses. Und dieses Gefühl verbindet die Patienten mit vielen, die (noch?) nicht in einer solchen Klinik waren, vor allem bei der Unsicherheit: Was bin ich (mir) eigentlich wert?
Erklär mir Gefühle: Wehmut
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde.
Erklär mir Gefühle: Sanftmut
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.”
Erklär mir Gefühle: Freude, Glück, Leichtigkeit
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Erklär mir Gefühle: Wut
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
Erklär mir Gefühle: Liebe
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Die besten Freunde von Amor
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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