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Erklär mir Gefühle: Empathie
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
Crowdfunding für das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“
Maike schaut Mats an: „Du hast gesagt, dass du dich in mich verliebt hattest. Warum?“
„Warum ich dir das gesagt habe oder …?“
Sie lächelt: „Das zweite.“
Mats antwortet, ohne zu zögern: „Weil du in mein optisches Beuteschema passt.“
Maikes Gesicht erstarrt: „Mehr nicht?! Das klingt … oberflächlich … kalt …“
„Kann ich mir vorstellen.“
Maike wartet auf die Fortsetzung des Satzes, doch Mats schweigt, was sie nicht lange aushält: „Man verliebt sich doch nicht bloß wegen dieses Beuteschemas?! Dann kannst du dich doch nicht wirklich in mich verliebt haben?!“
„Ich kenne dich jetzt knapp drei Monate. Du kennst dich viel länger und hast gesagt, dass du anfangen musst, dich lieben zu lernen. Wenn du bisher nicht wusstest, für was du dich lieben kannst, wie soll ich es dann wissen?“
Maike schweigt, ihr Kopf nicht. Die Lippen sind zusammengepresst, die Augen wandern hektisch hin und her. Der Trotz kehrt zurück: „Es hat ja seine Gründe, warum ich mich lange nicht lieben konnte und die Gründe kennst du. Das heißt aber nicht, dass du mich nur wegen deines Schemas mögen musst!“
„Wenn ich gesagt hätte, dass ich mich verliebt habe, weil dein Aussehen für mich eine Anziehung hat, die 99% der Frauen nicht für mich haben: Was hätte das mit dir gemacht?“
Mats´ weiterhin nüchterne Art bringt Maike immer mehr auf die Palme: „Na immerhin hätte es netter geklungen!“
„Hättest du es mir geglaubt? Also kann dein Kopf dir sagen: Ja, es ist möglich, dass mich jemand wegen meines Aussehens anziehend findet?“
Maikes Blick wandert weg von Mats, die Lippen pressen sich erneut eng aufeinander und wollen sich nicht zu einer Antwort öffnen.
„Siehst du. Menschen können nur so viel Liebe annehmen, wie sie sich selbst lieben können. Würden wir uns seit drei Jahren kennen und würde ich dir jetzt eine Liste machen mit Dingen, die ich an dir mag, optisch und innere Werte, es würde davon wenig bis nichts bei dir ankommen. Wenn ich dir gegenübersitze oder -stehe und wir uns ansehen, dann tut mir das gut. In diesen Moment spielt das, was alles an Scheiße in meinem Leben war und worüber ich mir heute einen Kopf mache, keine Rolle. Diese Momente sind meine einsamen Inseln, die Hütte im Wald. Dass ich dich ansehen kann und dass mir das so gut tut, ist mein großer Vorteil gegenüber dir.“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
„Das ist alles, was du gehört hast von dem, was ich gerade sagte?“
„Weißt du, wie arrogant du klingst?!“
„Ich weiß.“
Plötzlich steht eine junge Frau neben Maike, legt eine Hand auf ihre Schulter: „So ging es mir mit dem weißen Kaninchen. Erinnerst du dich?“
Maike dreht ihren Kopf zur Seite, der Blick wandert nach oben: „Alice im Wunderland?!“
Die junge Frau nickt mit einem Lächeln: „Sei doch froh, dass er dich wenigstens ein bisschen liebt. Als ich das Kaninchen fragte, ob es mich liebt, antwortete es mit einem durch nichts zu erschütternden Nein. Ich fühlte mich davon verletzt und das Kaninchen hielt mir genau das vor, meine Selbstzweifel. Warum hatte ich auch gefragt, ob es mich liebt, wenn ich nur mit einem Ja hätte meinen Frieden finden können? Ich wollte nur das eine hören. Von wie vielen Wesen wollen wir es hören? Von wie vielen MÜSSEN wir es hören, bis wir es glauben? Wann hätten wir genug? So böse ich auf das Kaninchen war – letzten Endes hatte es recht. Solange wir uns nicht selbst lieben, werden wir blind und taub sein für die aufrichtige Liebe eines anderen. Wir werden nur abhängig sein von jedem „Ich liebe dich“, so verlogen es auch sein mag. Wir werden nicht frei sein können ohne den Brustpanzer der Selbstliebe und des Glücks.“
Für Maike scheint es wenig erstaunlich, dass Alice neben ihr steht: „Meine Psychologin hat mir das auch gesagt, also dass ich mich selbst lieben sollte, um mich nicht so oft verletzt zu fühlen und verletzen zu lassen – auch von mir selbst.“
„Du weißt, dass das weiße Kaninchen und ich 1862 zum Leben erweckt wurden? Schon damals legte uns unser Schöpfer die Worte in den Mund, wie wichtig die Liebe zu uns selbst ist, weil Selbstzweifel die Wesen zerstört. Die Moral der Geschichte ist also alt – und dennoch müssen die Menschen in jeder Generation aufs Neue den Weg zu dieser Moral finden. Mich macht das traurig.“
Maike zeigt sich kämpferisch: „Ich versuche es doch, es braucht halt seine Zeit. Ist es dir gelungen?“
Alice schmunzelt: „Wenn du im Sturm stehst, nimm jede Gelegenheit wahr, dich umzudrehen, so dass du Rückenwind bekommst. Wenn du die Arme nicht ausbreitest, kannst du den Rückenwind nicht nutzen. Dein Gefühl, allein zu sein, kann sich nur verändern, wenn du die Arme öffnest. Das, was war, bestimmt deine Gefühle. Dass es dir schwerfällt, dich im Sturm umzudrehen, kommt von dem, was war.“
Maike versinkt in Gedanken, schweigend, die Worte sortierend.
Alice setzt sich neben Maike: „Was geht dir durch den Kopf?“
„Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe. Meine Kindheit sorgt dafür, dass ich meine Arme nicht öffnen kann für Veränderungen?“
„Ich sagte, dass es dir schwerfällt, aber nicht, dass es dir unmöglich ist.“
„Aber ich habe doch meine Arme geöffnet, habe dem Rückenwind Chancen gegeben?!“
„Für wen?“
„Für die Falschen?“
Alice schmunzelt erneut: „Das fragst du mich?!“
Maike ist nicht zu lachen zumute, der Trotz ist zurück: „Auf jeden Fall will ich nicht, dass sich jemand in mich nur wegen irgendeines Beuteschemas verliebt.“
Alice spricht leise: „In was verliebst du dich?“
„Ein Mann muss mich zum Lachen bringen, er soll für mich da sein, mich verstehen können, wenn es mir nicht so gut geht.“
„Einen solchen Mann gab es in deinem Leben, richtig? Du hast ihm dein Herz ausgeschüttet, er war für dich da, brachte dich zum Lachen. Es war nicht Mats.“
„Ja, aber es hat einfach nicht Klick gemacht.“
„Doch er hatte alles, was du dir wünschst?“
Maike schnauft hörbar genervt durch, der Blick sinkt auf den Boden vor ihr, richtet sich dann wieder nach oben, die Augen suchen: „Wann ist Mats gegangen?“
Alice steht auf: „Als du die Arme verschlossen hast.“ Dann verschwindet auch das Bild von ihr. Maike bleibt allein zurück.
Sie schreckt hoch, nimmt das Handy, schaut nach der Zeit: 2:36 Uhr. Der Traum lässt sie erst eine Stunde später wieder einschlafen. Eine Frage kreist im Minutentakt in ihrem Kopf: Mit welcher Antwort auf die Frage, warum sie jemand liebt, wäre sie glücklich?
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Geschichte für den Schreibwettbewerb »Love Between the Pages« von bod.de
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Mats schmunzelt, schaut noch länger in die braunen Augen der Frau neben sich, wobei in ihm mehr und mehr das Gefühl aufsteigt, Maike meine diese Frage ernst. Nach längerem Zögern raunt er: „In einem Buch wäre das der Beginn eines unglaublich romantischen Dialogs, an dessen Ende sich die beiden küssen. Aber du scheinst wirklich nach einer Erklärung zu suchen?!“
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Mats, nachdenklich: „Ich beneide da eher die Filmemacher, Musiker, Maler. Der Maler kann aus unendlich vielen Farben schöpfen, der Musiker aus unzähligen Tönen und Akkorden, der Filmemacher greift in beide Kisten. Was sie machen, wandert direkt in Auge und Ohr, der Weg zu den Gefühlen ist kurz. Ein Buch ist absolut still, farblos, bis auf den Einband. Du musst aus dieser farblosen Stille dafür kämpfen, dass jemand die Worte lesen will, nicht nur die erste Seite. Im Film würden vier, fünf Sekunden reichen, um aus diesem Moment hier eine romantische Szene machen zu können und die Zuschauer zu fesseln: der See, Sonnenuntergang, leuchtend grüne Bäume, Frau und Mann sitzen auf einer Bank. Leise Klaviermusik, die Kamera fährt von hinten immer näher an die beiden ran … Im Buch bräuchte ich dafür so einige Sätze und wer es liest, wäre deutlich länger als nur ein paar Sekunden damit beschäftigt. Aber beim Schreiben ist mir das völlig egal. Schreiben ist wohl wie Liebe: unvernünftig, aber wunderbar unvernünftig, wenn es passt.“
Wieder ziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln in die Breite, wieder sieht er in Maikes Augen, in denen er einen Hauch von Neugier zu sehen glaubt – aber auch große Erwartungen. In Gedanken versinkend, schweift sein Blick nach vorn, auf das glatte Wasser des Sees, das kurz zuvor noch von Regentropfen in Aufruhr versetzt worden war und in welchem sich jetzt die von der Abendsonne gelbgrün angemalten Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Auch die Augen der Frau, die dicht neben ihm auf der Bank sitzt, wandern über das Wasser, die Spiegelungen, die Windräder in der Ferne. Ihr Wunsch bleibt: „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Stille.
Drei Wochen zuvor hatte Mats ein Bild zum Thema „Positiver Ausblick auf deine Zukunft in 10 Jahren“ malen sollen. Mit leuchtenden Aquarellfarben brachte er, der sich befreit von jeglichem Mal-Talent fühlte, einen Sonnenuntergang auf Papier. Aus einer unendlich weiten Wiese ragten zwei Köpfe, am Horizont eine Windmühle. Kein Haus, kein Auto, keine Yacht. Nur zwei Menschen, die sich fallenlassen.
Seinen Hunger nach Leichtigkeit empfand Mats beim Malen als absurd groß, nicht stillbar. Die Jahre zuvor hatten für ihn nicht den Hauch von Freude, Glück und eben Leichtigkeit – umso größer nun der Hunger.
Jetzt sitzt er neben Maike, den Sonnenuntergang im Rücken, Windräder vor sich am Horizont. Keine endlos weite Wiese, doch das von der Sonne angestrahlte Grün der Bäume spiegelt sich im See. In seinem Kopf hallt noch immer Maikes Satz: „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Wenige Stunden zuvor: Maike steht vor der Tür von Mats: „Ich habe eine Überraschung für dich, wenn das okay ist.“ Ihr Blick strahlt – wie könnte er „Nein“ sagen?
Sie führt ihn durch den Flur in einen Raum, in denen Musikinstrumente stehen: „Wir dürfen eine Stunde allein rein!“ – wieder strahlt sie. „Wir können alles machen! Ich möchte nochmal ans Klavier. Und dann machen wir den Klangstuhl!“ Ihre Aufregung ist nicht zu übersehen.
Seine Gesichtszüge werden weich. Tags zuvor war er zum letzten Mal in der Musiktherapie, durfte das scheinbar letzte Mal am Klangstuhl spielen. Dieser Sessel aus Holz hat auf seiner Rückseite vom Kopfteil bis zum Boden an die 30 Saiten gespannt, wobei jeweils 15 den selben Ton erzeugen. Als er das erste Mal mit großer Neugier hinter diesem Sessel saß und spielte, war es Liebe auf den ersten Ton. So hatte er auch gegenüber Maike geschwärmt.
Der Stuhl steht bereits ein Stück von der Wand weg, daneben wartet ein Xylophon auf seinen Einsatz. Hier hat jemand Vorarbeit geleistet. All die anderen Instrumente stehen in einer Ecke parat. Wie kleine Kinder, die vor einer großen Spielzeugkiste rumzappeln, stehen die beide im Raum: „Was machen wir zuerst?“
Sie probieren einige kleine Instrumente aus, deren Klänge sie teils an Märchenfilme erinnern. Ansonsten ist es völlig still in diesem Raum. Auf dem Flur vor der geschlossenen Tür ist niemand, Ärzte und Therapeuten sind im Feierabend.
Dann entdecken sie ein zweites Xylophon und so sitzen sie sich gegenüber, schauen und hören, was der andere macht. Wortlos spielen sie sich aufeinander ein, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Es wird breiter, wenn sie für ein paar Takte im Gleichklang sind.
Die Zeit vergeht, doch eilig hat es keiner der beiden.
„Jetzt den Klangstuhl?“, fragt Maike eher leise, so wie du dich unterhältst, wenn du andächtig in einer Kirche stehst.
„Gerne. Ich würde zuerst spielen …“ Auch Mats´ Stimme will diese besondere Atmosphäre nicht stören.
„Und ich setze mich rein?“
„Wenn es für dich okay ist, dann sehr gern.“ In den bisherigen gemeinsamen Tagen gewann Mats Sicherheit, dass Maike sich bei ihm geborgen fühlt. Doch über ihre Kindheit weiß er so gut wie nichts. Nur eines ist klar: Sie wird wie bei allen anderen Patienten in dieser Klinik mit Verletzungen verbunden gewesen sein. Also bleibt er behutsam.
Mats nimmt hinter dem Klangstuhl Platz, Maike setzt sich in den Sessel, Blickkontakt ist nicht möglich. Er möchte ihr Sicherheit geben, damit sie sich richtig fallenlassen kann: „Ich kann einen Arm auf die Lehne legen, dann kannst du auf meine Hand drücken, wenn es unangenehm wird.“
„Hmm, ach, ich vertrau dir.“
„Dann geht’s los …“
Seine Finger gleiten langsam und mit wenig Druck über die linken Saiten, sie lassen den tieferen Ton erklingen. Die Schwingungen übertragen sich auf das Holz des Stuhls, können vom Körper wahrgenommen werden. Am Kopfteil sind links und rechts Blenden, so dass die Töne zwischen den Ohren hin- und herschwingen, sie verstärken. Wie laut Maike die Töne hört, kann Mats nur grob schätzen. Er vermeidet es, laut und chaotisch zu spielen, sie soll sich einfach nur wohlfühlen, entspannen.
Mats bewegt seinen Kopf dicht neben die rechte Kopfblende, sieht nur Maikes rechten Arm und die Beine: „Ist es so okay?“, raunt er.
In ihrer Antwort liegt ein Lächeln: „Ja. Und wie ist es für dich?“
Wieder spricht er mit sehr gedämpfter Stimme: „Ich könnte das stundenlang machen. Es gibt zwar nur zwei Töne, aber es gibt so viele Möglichkeiten: über die Saiten streicheln, streichen, einzelne Saiten zupfen, härter, weicher, schnell, langsam, … Und es ist, als würde ich dir über den Rücken streicheln. Da überlegt man, was dir gut tun würde.“
Sein Kopf lehnt sich zurück, er taucht wieder ab in die Welt der hauchenden Klänge. Minute um Minute vergeht, in denen kein Wort mehr fällt. Zwei Töne ersetzen Worte, nur sie durchqueren die Stille im geschlossenen Raum.
Mats fällt es schwer, einen letzten Ton zu setzen. Nachdem er sich dazu entschließt, hallt die Schwingung sekundenlang nach. Langsam steht Mats auf, vermeidet Geräusche, schaut ebenso langsam und neugierig von oben über die Kopflehne. Maike bemerkt ihn, legt ihren Kopf in den Nacken, schaut ihn entspannt lächelnd an: „War schön. Hab sogar die Augen zumachen können. Danke.“
„Gerne. War nicht zu laut?“
„Nein, hätte ruhig bisschen lauter sein können.“ Sie wirkt, als wäre sie gerade aufgewacht nach einem langen, entspannenden Schlaf.
Ohne Eile tauschen sie die Rollen. Für seine Größe ist der Stuhl nicht gedacht. Dennoch versucht Mats, ihn so gut es geht zu nutzen, legt die Hände und Arme an die hölzernen Seiten, um die Vibrationen spüren zu können. Auch er schließt die Augen, auch jetzt bleiben die Münder weitgehend geschlossen. Auch jetzt vergeht Zeit – und sie scheint gleichzeitig stillzustehen.
Der letzte Ton erklingt. Leise sprechen sie über Erlebtes. Fotos zur Erinnerung entstehen. Er macht mehrere Fotos von Maikes Gesichtshälften aus Neugier, ob sie eine Schokoladenseite hat, doch er kann problemlos mit beiden leben. Sie selbst sieht sich auf den Bildern weniger unkritisch.
„Und jetzt Klavier?“ – wieder strahlt Maike und wieder könnte Mats ihr angesichts dieses Lächelns nicht den geringsten Wunsch abschlagen. Der Hocker ist breit genug für beide. Sie sitzt links von ihm, die Hüften berühren sich. Es ist nicht das erste Mal, dass Maike am Klavier sitzt, für Mats schon. So behutsam, wie sie zuvor an den Xylophonen und dem Klangstuhl spielten, so behutsam wandern die Hände über die Tasten. Hin und wieder schauen sie auf die Hand des anderen, nach einem gemeinsamen Takt suchend. Oder sie vertrauen ihren Ohren. Manchmal huscht ein entspanntes Lächeln über beide Gesichter, manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen. Minutenlang sitzen sie eng nebeneinander und würde nicht einer von beiden mit kräftigem Druck eine der weißen Tasten drücken, dann würden sie wohl noch morgen miteinander spielen.
Der Ton klingt aus, sie schauen sich in die Augen. So richtig mag keiner die Stille durchschneiden.
„Zufrieden?“, raunt Mats.
„Ja. Und du?“
„Hatte was von Tanzen von zweien, die noch nie miteinander getanzt haben. Sagt ein leidenschaftlicher Nicht-Tänzer. Man versucht, sich auf den anderen einzustimmen, um sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten. Man weiß nicht, ob der andere Rock´n´Roll will oder Träumerei von Robert Schumann. Keiner hat geführt, zumindest hatte ich nicht das Gefühl. Und dann gabs die Momente, wo es einfach passte.“
Sie lächelt: „Freut mich, schön. Oh, die Klangschalen! Die will ich unbedingt noch probieren. Legst du dich auf den Boden?“
Mats legt sich mitten in den Raum, Maike nimmt zwei Klangschalen vom Schrank, legt die kleinere auf seine Brust, schlägt vorsichtig an die goldglänzende Wand, dann stärker. Mats reagiert verhalten. Der Klang hallt ewig nach, er spürt aber nichts im Körper. Dann ist die größere Schale dran. Maike setzt sie vorsichtig ab, schlägt dagegen. Mats lacht dezent, die Vibrationen durchlaufen jetzt spürbar den Brustkorb, sein Lachen lässt die Schale beben. Maike schlägt stärker, Mats lacht intensiver.
„Jetzt auf deine Stirn.“
So wie jeder Ton durch den Raum schwingt, so schwingen zwischen Mats und Maike Neugier, Begeisterung, kindliche Freude.
Dies bleibt, als sie die Rollen tauschen. Nun liegt Maike am Boden, Mats setzt die Schale auf ihre Stirn, schlägt vorsichtig gegen sie, danach kräftiger. Maike, die sensibler als die meisten Menschen Dinge spürt, durchfährt es: „Unglaublich … Ich merk das überall. Boahh … Heftig …“
Die Uhr tickt.
„Noch ein Selfie?“, fragt Mats.
Nun liegen beide auf dem weichen Boden, diverse Male klickt die Kamera, welche völlig entspannte Gesichter einfängt.
Mats legt das Handy beiseite, beide bleiben noch einen Moment liegen: „Schön“, sagt er kurz und entschlossen.
Maike neigt den Kopf zu ihm: „Ja?“
Er nickt voller Überzeugung: „Ja!“
„Okay, wenn du das sagst, glaub ich dir.“
Sein Blick zeigt sich mit Fragezeichen.
Sie erklärt: „Wenn ich allein bin und Sachen erlebe, weiß ich nicht, ob das jetzt was Schönes ist oder nicht. Wenn jemand dabei ist und mir sagt, wie es für ihn ist, dann weiß ich, wie es war.“
„Hmm, schräg“, raunt Mats nachdenklich, „Hab ich so noch nie gehört.“
„Mir fehlt halt der Zugang zu Gefühlen.“
„Ich überlege, ob das jetzt Freude ist oder Glücksgefühl oder Leichtigkeit …“
„Kann es nicht alles zusammen sein?“
„Klar, und am Ende ist es ja auch egal. Hauptsache, es fühlt sich so richtig gut an.“
„Geht es dir so?“
„Oh ja. Wie oft im Leben erlebt man so was? Wie oft werden wir noch mit einem anderen Menschen an einem Klavier sitzen, den wir gerade mal paar Tage kennen, in so einer Atmosphäre? Mach eine Umfrage unter Paaren und da werden nicht nur 10% sagen: Oaaah, so was will ich auch erleben. Klar, wir sind in einer Klinik, eigentlich will man hier nicht landen müssen. Aber wäre ich nicht hier gelandet, hätte ich das hier nie erlebt. Also auch wieder Glück. Naja, und ´ne Menge Leichtigkeit. Wir liegen hier nebeneinander auf dem Fußboden, als würden wir uns seit Monaten kennen. Ich muss mir immer mal wieder sagen, dass wir uns vor nicht mal einer Woche über den Weg gelaufen sind, weil ich mit dir diese Momente erlebt habe, die sich bei anderen auf Wochen bis Monate verteilen. Das ist verrückt.“
Abends steht Mats allein am Fenster seines Zimmers, schaut dem Regen zu, schaut auf den sandigen Weg, versinkt in Gedanken: Wie viel Freude, Glück oder Leichtigkeit hätte er gefühlt, wenn er mit einer x-beliebigen Mitpatientin am Klavier gesessen und auf dem Boden gelegen hätte? Hätte es sich genauso intensiv angefühlt, wenn er am Klangstuhl einen anderen Rücken als den von Maike vor Augen gehabt hätte? Auch wenn er niemals eine völlig unbeeinflusste Antwort auf diese Fragen bekommen würde – für Mats ist sie recht klar.
Genauso klar: Die Gelegenheiten, noch einmal neben Maike sitzen oder liegen zu können, verrinnen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommeln, den er von seinem Zimmer aus sieht. Morgen wird er die Klinik verlassen.
Mats steht noch immer am Fenster, die Kopfhörer spielen Grönemeyers „Halt mich“: „Bin vor Freude außer mir, will langsam mit dir untergehn. Kopflos, sorglos, schwerelos in dir verliern.“
Er legt die Stirn in Falten, glaubt, es habe jemand an der Tür geklopft. Er geht hin, öffnet.
„Wollen wir noch bisschen rausgehen? Der Regen soll gleich aufhören“ – es ist Maike.
„Na gut“ – in seiner Stimme schwingt Melancholie, Abschiedsstimmung – und ein Hauch von Freude. „Willst du wo Bestimmtes hin? Sonst könnten wir an einen kleinen See fahren, ist nicht weit weg, schön ruhig.“
„Okay“ – der Vorschlag stößt auf entspannte Gegenliebe.
Nun sitzen sie hier im See. „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“ Stille, während die Sonne einen Regenbogen in die Wolken malt.
Am nächsten Tag: Für Mats war seine letzte Nacht in der Klinik eine unruhige. In der letzten Therapie wird ihm erst so richtig bewusst, dass sein Alltag der letzten acht Wochen morgen vorbei sein wird.
Vor dem Mittagessen holt er eilig noch etwas aus seinem Zimmer, geht in den Speiseraum, setzt sich wie immer schräg gegenüber von Maike. Sein Blick wandert schnell über die Mitpatienten, alle sind mit Essen beschäftigt. Sein Arm geht Richtung Maike, seine Hand ist geschlossen. Mit Blicken verständigen sie sich. So hält sie ihre Hand auf, er übergibt ihr einen Kaffeelöffel, sie schmunzelt, schließt schnell ihre Hand, nickt dankend und verhält sich genauso unauffällig-verschwörerisch wie Mats.
Die Geschichte hinter dem Löffel: Vier Tage kannten sie sich, als sich die beiden zu einem kleinen Spaziergang verabredeten. Von einer Mitpatientin hatte Mats ein Stück Kuchen bekommen. Er schnappte sich zwei Löffel aus der Stationsküche und die Leckerei. Als er mit Maike auf einer Bank saß, packte er die kleine Mahlzeit aus seinem Rucksack, gab ihr einen der beiden Löffel. Irgendwann sah sie auf die Rückseite, las still die Prägung und lachte: „Hast du mir den mit Absicht gegeben?“
Mats hatte verwirrt geschaut, Maike hielt ihm den Löffel vor die Augen – und er musste ebenfalls lachen: „Princess. Nein, das ist jetzt purer Zufall, Ehrenwort.“ Nach einer Weile: „Eigentlich müssen wir den klauen …“
Maike war von der Idee begeistert, der Löffel wanderte zurück in den Rucksack und nie wieder in die Schublade der Stationsküche.
Der Bücherschreiber in Mats hatte besonderen Gefallen an der Aufschrift. In der Kommunikationstherapie sollte paarweise Smalltalk geübt werden. Maike hatte die Frage gezogen: „Welche Figur würdest du in einem Film gerne spielen?“
Sie hatte kurz überlegt, sagte dann: „Eigentlich wollte ich immer King Kong sein, ganz stark. Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, die Frau zu sein, die er in seiner Hand trägt. Ihm vertrauen können, dass mir nichts passiert. Ich glaube, das fühlt sich gut an.“
Zwei Stunden zuvor war es um seine großen Hände gegangen. Nicht die von King Kong, sondern die des Mannes, in dessen Gegenwart sich Maike sicher fühlte. Für den Autor in Mats bestand wenig Zweifel: Er war King Kong und sie die Prinzessin, die er nicht fallen ließ und die sich dank ihm fallenlassen konnte. Ob dieses Gefühl der Wahrheit entsprach? Auf jeden Fall war es eine gute Geschichte.
Seiner Therapeutin erzählte Mats sie allerdings nicht. Von ihr hielt sich in seinen Ohren der Satz: „Sie sollten versuchen, nicht mehr Frauen retten zu wollen.“ In den Einzelgesprächen hatte sie einen roten Faden gefunden, der – wie bei jedem Menschen – in der Kindheit begann und sich weit ins Erwachsenenalter zieht. Als Kind erlebte Mats eine schwache Frau – seine Mutter, die sich gegen einen übermächtigen Mann – seinen Vater – nicht wehren konnte. Mats habe deshalb einen Drang entwickelt, Frauen beschützen zu wollen, weil er seiner Mum nicht helfen konnte. Dabei hätte eigentlich SIE ihre Kinder beschützen sollen. Also bot er Frauen immer wieder Halt. Wenn du aber immer für andere da bist, um ihnen zu helfen, vergisst du dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse. Das kann lange gut gehen – muss es aber nicht.
Wollte Mats Maike retten? Sie beschützen? Vergaß er seine eigenen Bedürfnisse? Auch wenn der Satz von Maike über King Kongs Hand immer wieder in seinem Kopf umherschwebte und ein warmes Bild ergab, war er sich sicher, sie nicht retten zu wollen. Er würde die Erinnerungen, die sich mit Maike, ihrem Gesicht, ihrem Lächeln und ihrem Wesen verbanden, mit genauso großer Dankbarkeit und Demut in den Koffer packen, wenn sie King Kongs Stärke hätte. Er hatte sehr wohl an seine Bedürfnisse gedacht, wann immer Maike aus Schuldgefühlen fragte, ob sie noch jemanden mitnehmen sollten und er klar „Nein“ gesagt hatte.
Und auch mit einer King-Kong-starken Maike vor Augen hätte Mats jetzt nicht weniger Wehmut, so kurz vor dem Abschied von ihr. Er bringt seinen Teller weg, Maike ebenso. Sie gehen schweigend auf den Flur. Gleich nebenan ist das Zimmer von Mats, in welchem Koffer, Tasche und Rucksack stehen, fertig gepackt.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde. Dann trennen sie sich – doch nur vorübergehend. Noch einmal liegen sie sich in den Armen, nicht kürzer als zuvor. Eine Woche kennen sie sich – wer sie so sieht, würde es nicht glauben.
Noch ein Blick in die Augen des anderen, ein kurzes Nicken ohne Worte, dann geht Maike den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Mats holt das Gepäck, verabschiedet sich bei den Schwestern, die gerade Dienst haben, ein Patient kommt noch hinzu, auch er sagt Lebewohl. Dann verlässt er das Gebäude, geht zur Straßenbahn. Die Sonne scheint, Haufenwolken schmücken den Himmel. Auf dem Weg zum Bahnhof hallen viele Worte nach, die er bei den Abschieden gehört hat.
Und er denkt an den Abschied von Maike, an die langen, warmen Umarmungen, an den Abend am See mit dem Regenbogen, an die Stunden im Musikraum, an die kleineren, gemeinsamen Momente. Würde er all das noch einmal erleben dürfen, an anderen Seen, in anderen Räumen? Mit wem?
In seinem Koffer liegen die Bilder, die er in den Gestaltungstherapien gemalt hat. Auf einem steht ein Satz aus einer seiner Geschichten, mit Tinte geschrieben: „Ich laufe auf Pfaden, welche ich mit ihr ging, sehe immer wieder ihre Spuren, höre ihre Stimme, weit weg. An Bänken, Brücken, auf Wiesen kleben Bilder von uns, die keiner entfernt hat.“
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Das erste Gespräch zwischen Maike und Mats nach einer Woche Stille geht weiter. Maike erzählt in schnellen Sätzen, wie sie es schon gemacht hatte, als sie zu gemeinsamen Klinik-Zeiten direkt neben Mats lief oder saß. In ihrer Stimme liegen selten Emotionen, aber die Geschwindigkeit, mit der ihr die Worte über die Lippen gehen, spricht von einem unglaublich großen, inneren Druck: „Ich bin echt durch. Hab jetzt dauernd Albträume, dann diese Spielchen mit der Entlassung, das raubt mir die Kräfte. Ich bin ja nicht zum ersten Mal da, aber dieses Mal bin ich jetzt schon fertig … Unglaublich … In der Gruppe hab ich heute erzählt von früher und von danach, wie ich am Boden lag und so. Von meinen Eltern. Ich war ja oft krank und sie haben mich zum Arzt geschafft. Therapeutin meinte, ich solle meine Eltern hassen. Aber hmm … Ich weiß nicht …“
Mats kennt den Satz ähnlich von seiner eigenen Therapeutin, wobei sie seinen Vater gemeint hatte. In der ersten Therapiestunde war es um Mats´ Kindheit gegangen, von der ihm aber sehr wenig in Erinnerung geblieben ist. Nur eine Szene ist wirklich greifbar: Als er 11 war, lieferten sich sein Vater und sein 6 Jahre älterer Bruder spät abends ein weiteres Mal besoffen Handgreiflichkeiten. Mats durfte alles aus seinem Bett heraus beobachten. Die Lage eskalierte. Sein Vater versuchte, seiner Mum einen leeren Wassereimer über den Kopf zu stülpen. Diese schnappte sich Mats, ging mit ihm auf die Straße, wo nur das Straßenlicht die Dunkelheit durchbrach. Sein Vater kam hinterher, holte beide rein – niemand sollte wissen, was sich hinter dem nach außen so harmlos und freundlich wirkenden Mann versteckt.
Als Mats eine Woche nach der Erzählung dieser Geschichte wieder seiner Therapeutin gegenüber saß, hörte er von ihr: „Sie haben das so völlig emotionslos erzählt und ich habe innerlich gekocht vor Wut auf Ihren Vater!“ Mats schaute ungläubig – diese Frau hörte doch so viele, noch viel schlimmere Geschichten?!
Tage später hatte er auch in der Gruppentherapie von dieser Nacht erzählt. Auf die Frage der dort anwesenden Therapeutin, wie die Mitpatienten sich nach dem Anhören fühlen, antwortete einer: „Ich habe eine große Wut auf deinen Vater in mir gespürt.“ Wieder saß Mats mit ungläubigem Staunen da – für ihn war es neu, dass jemand Anteil nimmt an seiner Geschichte.
Als Maike nun am Telefon in schnellen Worten erzählt, sie solle ihre Eltern hassen, springt Mats dazwischen: „Kenn ich – aber ich hab da keinen wirklichen Sinn darin gesehen. Ich habe über die letzten Jahre verstanden, warum mein Vater so ein Arsch war. Seinen eigenen Vater hat er nie kennengelernt, seine Mutter war viel arbeiten, so dass sich Vaters Bruder um Vater gekümmert hatte – der Bruder war 11 Jahre älter. Mit 20 hatte der Bruder aber schon das zweite Kind, also seine eigene Familie und spätestens ab da war mein Vater ziemlich auf sich gestellt mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen und der Pubertät. Von seinem Vater konnte er kein Selbstbewusstsein mit auf den weiteren Lebensweg bekommen, den hat er ja nie wieder gesehen. Seine Mutter guckt auf Fotos auch alles andere als selbstbewusst und war laut meiner Mum auch nicht gerade die Vorzeigemutter. In der Schule wurde Vater gemobbt, weil er ein Bastard war, also unehelich gezeugt, hat sich dann mit Fäusten gewehrt. Und wann immer ein Mensch das Kinderzimmer ohne Selbstwert verlassen muss und Opfer war, wird er auf irgendeine Weise zum Täter, entweder an sich selbst oder an anderen. Ist die Lehre aus vielen Geschichten, die ich zu hören bekam. Ich verstehe also, warum mein Vater so ein Arsch war – was nicht heißt, dass ich Verständnis dafür habe und ihn entschuldige. Ich konnte dadurch einfach Frieden mit ihm, seiner Rolle finden. Wenn ich ihn jetzt aber hassen soll, wütend auf ihn sein soll, zumal er seit zwei Jahren tot ist, dann … Es macht für mich keinen Sinn, weil Hass und Wut Energie verbrauchen und ich sparsam damit umgehen muss. Andererseits … Vielleicht muss das doch irgendwann nachträglich raus, keine Ahnung. Meine Therapeutin hatte mich gefragt, wo ich Wut rauslasse und ich konnte nur mit den Schultern zucken. Als Kind hätte es mir nichts gebracht, gegenüber Vater Wut rauszulassen, hat sie auch eingesehen, also hab ich sie runterschlucken müssen. Vielleicht müssten wir sie mal richtig auskotzen.“
Maike denkt kurz nach, verfällt dann wieder in den schnellen, wenig emotionalen Sprechrhythmus: „Meine Eltern haben sich ja Sorgen um mich gemacht, wenn ich krank war. Gut, jetzt weiß ich, dass die Narzissten sind, die machen sich eigentlich keine Sorgen um andere, oder? Wirklich gekümmert haben die sich nicht. Die haben mir ihre Angst übertragen. Wenn die wütend waren, haben die gelächelt und ich wusste dann nie, wenn die sich gefreut haben, ob die jetzt wirklich fröhlich sind oder wütend. Wenn die wütend waren, naja, gabs eben Schläge. Also wusste ich nie, wenn die gelächelt haben, obs gleich Schläge gibt. Da hatte ich dann Angst. Also ich hatte Angst, wenn die gelächelt haben, hab aber auch gelächelt, als würde ich mich mit ihnen freuen, so als Schutz wohl. Und so verdrehten sich alle Gefühle bei mir: Angst wurde zu Freude, hinter Freude steckte Angst, Wut war Fröhlichkeit usw. Ja, so war das …
Die sagen hier ja immer, dass sich die Eltern um die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern müssen, sonst müssen die Kinder sich selbst drum kümmern und dann wird es schlimm. Hab das auch in der Gruppe heute gesagt, auch mit früher und danach, wo ich so am Boden lag und getreten wurde.“
Mats unterbricht: „Du wurdest als Kind getreten? Von Mitschülern?“
Maike fährt fort, die Stimmlage bleibt emotionslos: „Nein nein. Von meinen Exen. Der eine hat mich geschlagen und eingesperrt. Der andere hat sich vor mir versucht, den Kopf blutig zu schlagen, hat gesagt, dass er das ja nur aus Liebe macht, hat mich überall hin verfolgt, also gestalkt, hat mich auch geschlagen und so, sich ´nen Schlüssel in die Wange gebohrt und so, ganz übles Zeug … Hab das in der Gruppe heute so erzählt, aber die anderen habens nicht verstanden und dann hab ich auch nicht mehr verstanden und wusste nicht mehr, was ich erzähle und dann hatte ich keinen Bock mehr.“
Mats fühlt sich im völlig falschen Film. Auch wenn er über die Jahre viele Geschichten zu hören bekommen hatte, die sprachlos machten – das, was Maike gerade erzählte, kann er nicht greifen. Und wie muss es da erst in Maikes Kopf aussehen? Dass ihr keiner folgen konnte in der Therapie, wundert Mats nicht bei diesen Sprüngen und der Masse der Informationen in kürzester Zeit. Im Moment fällt ihm nur eines ein: „Vielleicht solltest du mal alles, was du erlebt hast, aufschreiben. Damit du auch selbst eine Struktur in deine Gedanken bekommen kannst.“
„Na das geht ja nicht. Wenn ich allein bin, kann ich mich an das alles nicht erinnern. Nur wenn ich es jemandem erzähle, so wie dir jetzt oder in der Gruppe. Wenn ich allein bin, dann bin ich in einer anderen Welt und denke, das ist jetzt die richtige Welt und da ist alles okay für mich, da erinnere ich mich nicht an dieses Zeug. Wenn ich in dieser anderen Welt bin, dann ist für mich die eigentlich richtige Welt die falsche. Und wenn ich dir das jetzt erzähle, dann ist DAS die gerade richtige Welt für mich und ich denke, irgendwie wäre es schön in der anderen Welt. Die beiden Welten waren immer weit weg voneinander, aber in letzter Zeit kommen die sich immer näher und das macht mir Angst. Also dass ich dann diese Sicherheit nicht mehr haben kann. Aber andere entwickeln mehrere Persönlichkeiten, Alfred und Hilde und so, das will ich nicht, nee. So ist es aber anstrengend, ich hab die Albträume, die Panik. Kommt irgendwie gerade so viel hoch. Ach, ich weiß auch nicht …“
Mats steht nach wie vor ein ordentliches Stück neben sich. Der Hang, diese Geschichte verstehen zu wollen, ist aber da: „Zählt das unter Dissoziation mit diesen beiden Welten? Ich hab den Begriff schon paar Mal gehört, aber ich weiß immer noch nicht wirklich, was damit anzufangen.“
„Ja, ich dissoziiere da, wenn ich in die andere Welt gehe, wo ich mich an nichts erinnere, wo alles irgendwie in Ordnung ist, haben sie mir erklärt.“
„Kann man das mit Verdrängung gleichsetzen?“
„Hmm, es ist eher ein Schutzschild, den man hochzieht. Als Kind hat sich niemand um mich gekümmert, obwohl ich so oft krank war. Also klar, zum Arzt abgegeben. Ich hatte viele Schmerzen und so. Damit ich das aushalten konnte, brauchte ich irgendwas, wohin ich gehen konnte und wo die Welt für mich in Ordnung war. So hat das angefangen. Und später hab ich es halt auch wieder so gemacht, in den Beziehungen. So Scheiße, wie die mich auch behandelt haben, ich konnte den Schutzschild hochziehen und da war es nicht mehr so schlimm.“
Mats, weiter unter Schock, fällt ein Vortrag ein, den er sich auf Maikes Empfehlung hin vor einer Woche angehört hatte. Darin ging es um die Liebe zu sich selbst und um das Zustandekommen von Beziehungen: „Der sagte so was wie: Wenn du dich nicht selbst lieben kannst, weil du als Kind gelernt hast, dass du wertlos bist, dann sind die Partner in deiner Beziehung dein Spiegel. Was die mit dir machen oder nicht machen, spiegelt dein eigenes Denken über dich wieder. Selbst in Schlägen können Menschen Liebe empfinden, weil diese Abwertung nicht so groß ist, wie die Geschlagenen sich selbst innerlich abwerten.“
Maike fällt der Vortrag selbst wieder ein, ist begeistert, dass Mats ihn sich angehört hat und dass so viel hängengeblieben ist: „Ja, ich muss anfangen, mich selbst zu lieben. Ich will nicht nochmal solche Beziehungen. Das braucht sicher Zeit. Bis dahin bleib ich wohl solo, ist besser so.“
Nach einer halben Stunde endet das Gespräch.
Mats sitzt da, weiß nicht, was er denken soll. Müsste er jetzt sagen, was er gerade fühlt, würde die Antwort lauten: leer, ungläubig, ratlos, sprachlos.
Später schickt er Maike die Zitate aus dem Vortrag und schreibt darunter: „Ich kann dir nur von allen Herzen, die ich habe, wünschen, dass die Liebe zu dir selbst wachsen darf, so dass du niemals wieder in Misshandlungen und Freakshows ein Zeichen von Liebe empfinden brauchst. Du hast ja selbst gesagt, dass du diesen Weg gehen möchtest, also hin zu Liebe zu dir und du hast das sehr überzeugt gesagt. Dann kannst du auch wirkliche Liebe, Zuneigung annehmen, die du dir absolut verdient hättest und du machst es einem überhaupt nicht schwer, dich zu mögen. Ich drück die Daumen, dass du zumindest in der Nacht zur Ruhe kommen kannst und so erholsam wie möglich schlafen kannst.“
Maike antwortet, gemeinsam mit Michelle aus dem Stationsbad per Foto. Mats gehört zum inneren Kreis von Michelle, die sich erst seit wenigen Wochen an ein einschneidendes Ereignis aus ihrer Kindheit erinnern kann. Davon konnte sie nur Mats und einem mit ihm befreundeten Mitpatienten erzählen. Auf dem Bild lächeln beide, was Mats etwas runterfahren lässt. Der Schock bleibt.
Als er am nächsten Morgen rausgeht zu einem kurzen Spaziergang, hat er noch immer die Bilder vor Augen, die durch Maikes Erzählungen entstanden waren: über ihre Eltern, über die Ex-Partner. In der Klinik hatte er gelernt, dass der Körper leidet, wenn die Psyche Dinge nicht mehr verarbeiten kann. Seine Diagnose: larvierte Depression. Diese Art der Depression zeigt praktisch keines der Merkmale, mit denen eine klassische Depression festgestellt werden kann: kein Appetitmangel, keine Schlafprobleme, kein verringertes Selbstbewusstsein, keine gedrückte Stimmung, keine Ängstlichkeit, keine Antriebslosigkeit. Die Depression versteckt sich und ist dadurch schwer festzustellen. „Nur“ der Körper macht nicht mehr das, was er machen soll. Mats konnte 6 Jahre zuvor jeden Tag 8 km wandern gehen, völlig problemlos. Bevor er in die Klinik kam, mied er so gut es ging das Laufen, weil die Muskeln sehr schnell ermüdeten und sich nicht wirklich erholten. Über die Jahre war es immer schlimmer geworden, es machte ihm Angst vor der nahen Zukunft.
Nach vier Wochen in der Klinik begann die Wende, ganz langsam. Ärzte und Therapeuten stellten fest: „Sie sind jetzt mehr bei sich.“ Vorher stellte er seine eigene Geschichte „gern“ hinter die Geschichten anderer, die er in den Jahren zuvor als angenehmer Zuhörer aufgenommen hatte und die manchmal die Schwere von Maikes Geschichte hatten. Für Mats hieß das: „Wenn ich mich auf mein eigenes Dasein konzentriere, kann es mir besser gehen.“ Später hörte er von seiner Therapeutin: „Sie sollten nicht mehr Frauen retten wollen, so wie sie Ihre Mutter hätten als Kind beschützen wollen.“
Mats läuft, die Bilder aus Maikes Erzählungen vor Augen, die Therapeutensätze in den Ohren. Ebenso die Details der Beziehungen von Maike. Die Misshandlungen durch die Eltern. Er glaubt zu spüren, dass es in seinem Körper, der noch weit weg von einem Normalzustand ist, arbeitet. Muss dieser nun wieder das ausbaden, was die Psyche nicht verarbeiten kann, weil es zu viel ist? Soll er sich von Maike lösen, damit er wieder komplett bei sich sein kann? Ist er wieder mittendrin, eine Frau retten zu wollen? Würde er sich keine Gedanken über Maikes Leidensweg machen, wenn er als Kind nicht im Dunkeln neben seiner Mutter auf der Straße gestanden hätte? Würde ihm dann diese Geschichte am Allerwertesten vorbeigehen? Was ist jetzt richtig, was falsch?
Und müsste da nicht Wut in ihm sein? Und Hass? Er merkt, dass etwas seine Brust einengt, dass er nicht entspannt sein kann beim Gedanken an die Ex-Partner und die Eltern von Maike. Aber was soll er rauslassen? Und wie?
Wieder taucht die Frage seiner Therapeutin auf: „Wie lassen Sie Wut raus?“ In der Gestaltungstherapie hatte es Mats versucht, indem er mit sehr schnellen, kurzen Pinsel-Hieben Farbe auf eine riesige Leinwand pfefferte. Doch schnell merkte er, wie anstrengend das Herauslassen von Wut sein kann, wie schnell es erschöpft, Schweißtropfen über die Stirn rinnen lässt. Seine Therapeutin bestätigte ihm später, dass das Herauslassen viel Energie braucht – aber Wut habe eben auch eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Psyche. Wer ewig schluckt, stirbt von innen. Das Aufstauen von Wut kann auf Dauer krank machen, weil es stresst. Allerdings kann das häufige Rauslassen von Wut ebenfalls stressen und einen aus der Bahn werfen.
Soll er in den Wald gehen und schreien, so wie er es in einer der Bewegungstherapien gelernt hatte, allerdings ohne dabei wirklich Wut zu spüren? Sein Kopf sagt: „Bringt doch nichts, wenn es die nicht hören, die es hören sollten?!“ Seine Therapeutin würde sagen: „Weniger Kopf, mehr Gefühl.“
Mats läuft weiter. Das Wort „Hass“ taucht wieder auf, zusammen mit Maikes „Therapeutin hat gesagt, ich sollte meine Eltern hassen“ und dem von Mats selbst gehörten: „Ich habe Wut auf Ihren Vater in mir gespürt beim Erzählen – warum Sie nicht?“ Doch wenig später ist er wieder bei Maike mit seinen Gedanken, vor allem, wie die Ex-Partner sie behandelt hatten und die Eltern. Wenn er diese Typen nicht hassen darf, wen dann?! Klar, gerade in diesen Zeiten ist es schwer zu hassen, wo Hass ein furchtbar schlechtes Image bekommen hat: „Das tut man nicht!“ So wie du als Kind lernst: „Wir sind nicht wütend!“ oder „Du brauchst nicht weinen.“ Sätze, die den Zugang zu Gefühlen versperren können.
Doch wäre Hass jetzt nicht die normalste, gesündeste Reaktion? Die Eltern von Maike legten den tonnenschweren Grundstein dafür, dass ihre Tochter später in Beziehungen landete, die nichts mit Beziehungen zu tun hatten. Und Eltern und Ex-Partner gemeinsam haben einen riesigen Anteil am Zustand jener Frau, mit der Mats die schönsten, leichtesten Momente seit Jahren erlebt hatte. Jahre, in denen er teils täglich mit Wut, Hilflosigkeit, Trauer, Überforderung, Ungerechtigkeitsempfinden, Fassungslosigkeit kämpfen musste. Jahre, die ihn krank machten, weil die Psyche all die negativen Gefühle nicht mehr verarbeiten konnte und der Körper dafür büßen musste. Jahre, die ihn umso dankbarer machten, Maike begegnet zu sein.
Dass diese nun so vorsichtig ist beim Fallenlassen können, ist diesen kranken Typen zu verdanken: Eltern, „Männern“. Ohne diese kranken Typen bräuchte sich Mats keine Gedanken darüber machen, ob er zu seinem eigenen Wohl Maike künftig links liegenlassen soll. Wegen dieser Arschlöcher soll er jegliche Chance auf weitere Momente der Leichtigkeit, der Freude, des Glücks mit ihr wegwerfen?
Klar: Wie sein Vater wurden auch diese Ärsche nicht grundlos zu selbigen. Wer andere links liegenlässt, schlägt, einsperrt, misshandelt, stalkt und andere, höchst kranke Sachen anstellt, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst auf irgendeine Weise massives Opfer in der Kindheit. Und so machen kaputtgemachte Eltern ihre eigenen Kinder kaputt und so begegnen sich in Beziehungen zwei Ex-Opfer, wobei mindestens einer inzwischen zum Täter wurde.
Aber Hass hat nichts mit nüchternem Faktenchecks zu tun. Wer wüsste das besser als du, der du vernachlässigt, geschlagen, eingesperrt, misshandelt, deinen Narzissmus an ihr ausgelassen hast, nicht wahr? Wenn du Opfer warst, musst du nicht andere zerstören, nicht dein eigenes Kind und nicht die, die schon in ihrer Kindheit zerbrochen wurde. Du musst sie nicht in andere Welten verjagen, die ihr vorübergehend Sicherheit geben. Du musst ihr nicht den Zugang zu Gefühlen wie Liebe und Leichtigkeit vernageln mit fetten Eisenstiften und Brettern. Zerstöre dich doch einfach selbst, du Arschloch, bevor du andere zerstörst! Bohr dir sonstwas sonstwohin, aber hau dazu ab in den tiefsten Wald und komm erst wieder, wenn du dir das Loch selbst zugetackert hast! Lass dein Trauma an dir selbst aus, deine aufgestaute Wut, deinen Hass! Oder geh zum Psychologen, damit du anderen Menschen wie Maike ein paar Therapiewochen ersparst und sie sich der Sonnenseite des Lebens hingeben kann! Und bevor du nicht beim Psychologen warst und dich ins Lot bekommen hast, setze um Himmelswillen keine Kinder in diese Welt! Kinder, die wegen dir lernen müssen, ihre Gefühle zu unterdrücken, sich ihre Bedürfnisse selbst erfüllen zu müssen. Kinder, die als Erwachsene nicht wissen, was richtig und was falsch ist, wie sich dieses oder jenes Gefühl anfühlt. Wenn du mit dir nicht klarkommst, dann lass dich kastrieren oder sterilisieren, geh Beziehungen mit Gummipuppen oder anderen Toys ein, die wehren sich nicht! Aber lass deine beschissenen Pfoten von denen, bei denen du Schwäche riechst und du so das nächste Opfer witterst, du Opfer, ob männlich, weiblich oder divers!
Und falls du jetzt fragst, wie Hass aussieht: Mach dir Null Hoffnung, bei ihm eine Schwachstelle finden zu können, dank der du deine beschissenen Machtspielchen fortsetzen kannst. Hass hat eine Rüstung aus Panzerstahl. Du kannst Granaten auf ihn abfeuern – er wird sie lachend fangen und dir in deinen Schlund stopfen. Dazu wird er die Kettensäge kurz aus seinen Händen legen, die ansonsten ständig und laut kreischt. Nein, du wirst Hass nicht stoppen können, wenn er einmal wach wird. Du kannst dich nur in eine Ecke verkriechen und hoffen, er ebbt von allein ab, so wie sich deine Opfer verkriechen wollten. Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen. Und wenn du an diesem Tag doch noch leben solltest, dann zieh über Nacht um und hinterlasse keine Spuren. Denn wenn sie dich findet, wirst du bereuen, nicht FÜR sie gekämpft, sondern Krieg GEGEN sie geführt zu haben! Krieg gegen ein Kind! Krieg gegen eine Frau, die aus dem Krieg kam! Was auch immer sie mit dir machen wird: Du hast es dir verdient. Jede Millisekunde voller Verachtung in ihren Augen. Jedes Dezibel in ihrer Stimme. Jedes Mikrogramm Spucke vor deinen Füßen. Und hoffe inständig darauf, dass sie nicht all das mit dir macht, was du mit ihr gemacht hast und danke mit jeder Faser deines Körpers dafür, dass sie nicht so krank sein will wie du.
Und speziell ihr Eltern: Seid so dankbar es nur geht für jeden Besuch eurer Tochter, bei dem sie statt mit einer Fackel mit Magenschmerzen über eure Schwelle tritt mit dem kleinstmöglichen Körnchen Hoffnung, doch noch ein Zeichen von Liebe, Zuneigung, Anerkennung von euch zu bekommen. Und fürchtet den Tag, an dem sie endgültig vor diesem Wunsch kapituliert, weil sie akzeptieren kann, dass ihr dazu niemals in der Lage sein werdet. Fürchtet den Tag wie euren Todestag, wenn sie nicht mehr auf eure Anerkennung aus sein wird, sondern sich selbst zu lieben gelernt hat. Und wenn ihr euch jetzt in Sicherheit wiegt, weil ihr in eurer überheblichen, narzisstischen Art glaubt, dass sie sich niemals lieben wird können: Das ist einfacher, als ihr und sie im Moment noch denkt. Noch.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Mats ist seit drei Wochen raus aus der Klinik. In den ersten beiden Wochen pendelten Nachrichten zwischen Maike und ihm fast täglich hin und her, mal kurz, mal telefonierten sie lange. Dabei wurde eine Idee geboren: eine Serie aus Minigeschichten über Gefühle. Mats gefiel die Idee. Er konnte einerseits das, was sie gemeinsam erlebt hatten, zu Papier bringen, so dass sich diese außergewöhnlichen Momente für Maike jederzeit wieder durchleben ließen. Andererseits bot sich für Mats die große Gelegenheit, sich selbst mit Gefühlen auseinanderzusetzen. „Wie fühlen Sie sich heute?“, so hatten die Therapiestunden immer begonnen, egal ob Musik, Gestaltung, Bewegung oder Gruppe. Und immer wieder erzeugte die Frage, auf die sich alle Patienten jedes Mal hätten vorbereiten können, Stille. Eine der Schwestern fasste es kurz und schmerzlos zusammen, als Maike ihr erklärte, sie wisse gerade nicht, was sie fühlt: „Hier hat keiner Gefühle!“ Als Maike ihren aktuellen Gefühlszustand mit Scham beschrieb, antwortete die Schwester: „Das ist keine Scham, das ist Unsicherheit.“
Mats schrieb zunächst fünf Geschichten: Mischungen aus Erfundenem und dem, was er tatsächlich mit Maike erlebt hatte. Sie durfte sich wünschen, um welche Gefühle es geht, er nahm die Herausforderungen an. Auf das erste Kapitel „Erklär mir Liebe“ folgte Wut, auf Wut Freude, auf Freude Sanftmut, auf Sanftmut Wehmut. Mats staunte beim Schreiben, wie viel Gefühl sich aus dem Erlebten herausholen ließ. Wie schon bei seinen Büchern wurde ihm klar, dass er sehr wohl Zugriff auf Gefühle hat – aber scheinbar erst beim Schreiben.
In Maike wechselten sich Freude und Staunen ab, wenn Mats ihr die neueste Minigeschichte schickte. Teils herrschte in ihr aber auch Verwirrung, Unsicherheit: Was war wirklich so? Was ist erfunden? Hatte sie das, was dort stand, wieder vergessen? Ihrem Kopf kann sie nie wirklich vertrauen schenken: was das Erinnern betrifft und was Gefühle angeht.
Mats machte in den Geschichten keinen Hehl daraus, welche Wirkung Maike auf ihn hatte, auch wenn er wusste, dass sie nicht auf eine Beziehung aus ist, die über Freundschaft hinausgeht. In der Mischung aus Dichtung und Wahrheit glaubte er, Maike würde annehmen, dass er an diesen Stellen dem Leser einfach nur ein warmes Gefühl geben wolle.
Als es in der dritten Woche nach seiner Entlassung aus der Klinik still um Maike wurde, entwickelte sich in Mats Unsicherheit: Fühlte sich Maike doch von dem, was er an Empfindungen ihr gegenüber in die Geschichten verpackt hatte, bedrängt? Wenn ja: Sollte er nachfragen, wie es ihr geht und dabei Gefahr laufen, das Gefühl der Bedrängung zu steigern? Oder hing Maike mächtig in den Seilen, brauchte ihre Ruhe?
Wie sich Unsicherheit anfühlt, hätte er Maike bestens beschreiben können – aus eigener Erfahrung, gesammelt über mehrere Jahrzehnte. Die Ängste, die ihn unsicher machten. Das Bild im Spiegel, dem er überhaupt nichts abgewinnen konnte. Die pure Unsicherheit, wenn er neben einer Frau saß, sie anbetete – und nicht wusste, ob sie etwas für ihn empfand. Sie absolute Unsicherheit, ob er denn auch irgendeine Stärke haben könnte bei all den Schwächen. Die Unsicherheit, wenn er für seine Arbeit gelobt wurde und er selbst darin eigentlich überhaupt nichts Besonderes sah.
Wenn Maike ihn gebeten hätte, Unsicherheit als Wesen zu beschreiben, hätte er ihr nur ein mindestens 8 Jahre altes Foto von sich selbst zeigen brauchen. Mats fasste es mit „der Scheues-Reh-Blick“ zusammen, als ihm das erste Mal dieser Blick auf einem solchen Foto aufgefallen war: die Gesichtsfarbe eher blass und gleichmäßig, die Augen sagen „Oh Gott, sprich mich bloß nicht an, sonst muss ich wegrennen“. So richtig klar wurde ihm aber nicht, warum er wie ein verschrecktes Reh aussah. Nur eines war ihm klar: Wer so guckt, strahlt Null Selbstbewusstsein aus. Später entdeckte er diesen Blick auf einem Foto seiner Oma väterlicherseits und ihm wurde klar, dass diese Frau ihrem Sohn keinerlei Selbstbewusstsein mit auf den Lebensweg geben konnte – dieser Sohn wurde zu Mats´ Vater.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses. Und dieses Gefühl verbindet die Patienten mit vielen, die (noch?) nicht in einer solchen Klinik waren, vor allem bei der Unsicherheit: Was bin ich (mir) eigentlich wert?
Wie wach das Gefühl der Unsicherheit in Maike ist, wird Mats aufs Neue deutlich, als er nach einer Woche Stille mit ihr telefoniert. Er hatte sich doch zu einem „Wie geht es dir?“ durchgerungen, am Abend klingelt sein Handy. Maike erzählt von einem Gespräch mit der Stationsärztin in der Visite, welches eskaliert war. Die Ärztin sagte irgendwann: „Na dann können wir Sie doch nächste Woche entlassen?!“ Maike stimmte emotionslos zu, so wie sie in ihrer Kindheit gelernt hatte, ihre Gefühle verstecken zu müssen und ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken.
Doch Gefühle und Bedürfnisse waren da, brachen sich ihre Bahnen, mündeten in Panik vor der drohenden Entlassung. Einer Schwester gegenüber öffnete Maike sich unter dem inneren Druck: „Ich will doch noch gar nicht heim!“ Die Schwester beruhigte sie. Am nächsten Tag sprach die Stationsärztin Maike an: Natürlich könne sie länger bleiben. Maike war einerseits erleichtert. Andererseits war sie außer sich: „Die sollen nicht mit mir solche Spielchen spielen! Mich hat das völlig verunsichert und das bin ich schon genug! Mir geht es echt nicht gut. Das hast du wohl geahnt?“
Mats bejaht. Dass er noch etwas anderes als Grund für die Stille für wahrscheinlich hielt, verschweigt er. Das Gespräch geht weiter – und wird Mats sprachlos machen.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Die letzte Nacht in der Klinik war eine unruhige für Mats. Jetzt sitzt er in der letzten Therapie: Gestaltung. Ein Thema ist nicht vorgegeben, jeder darf seinen Gefühlen freien Lauf lassen – oder sich einfach irgendwie beschäftigen. Schwer vorhandener Zugriff auf Gefühle ist das Dauerthema der Patienten. Maike sitzt wieder neben Mats, schweigsam.
Mats wird erst jetzt so richtig bewusst, dass sein Alltag der letzten 8 Wochen morgen vorbei sein wird. Er wird sich nicht mehr einfach mit jemanden zusammensetzen können, um über Erlebtes und Gedanken zu sprechen, weit weg von Smalltalk. Es wird kein „Spielen wir vier nach dem Abendbrot noch was?“ mehr geben, kein spontanes „Kommst du mit?“, keine Momente mit Jugendzeltlager-Atmosphäre. Hier hatte niemand außerhalb der Therapien Verpflichtungen, hier konnte es kein „Sorry, kann nicht, Kind ist krank“ geben.
Und in einer solchen Klinik herrscht die Blase, die fast alle psychisch Angeschlagenen nach ihrer Entlassung einige Wochen lang wehmütig vermissen. In der Klinik finden sich immer andere, die verstehen, warum es einem überhaupt nicht gut geht, weil sie es aus erster Hand kennen. Hier gibt es kein „Ach, du musst doch nur …“ Hier ist immer ein Profi erreichbar: Ärzte, Therapeuten, Schwestern, auch mitten in der Nacht. Ob Angst- oder Panikattacke – du musst nicht allein da durch. Dich frisst etwas auf? Dann findest du zeitnah mit großer Sicherheit ein offenes Ohr.
Ja, pure Harmonie findest du auf Station nicht. Jeder hat seinen Trigger. Da reicht der scheinbar aggressive Gang eines Mannes, damit sich Frauen unwohl fühlen, weil sie Aggressionen aus ihrer Kindheit kennen. Erst als sie hören, dass er selbst Opfer von Gewalt war, können sie sich in seiner Gegenwart entspannen – wenn auch nicht jede. Würde es Harmonie pur hier geben, wäre die Blase noch dicker und das Verlassen noch schwieriger. Reibung ist erwünscht – wird aber bei nächster Gelegenheit angesprochen unter therapeutischer Anleitung. Draußen zeigt man sich gegenseitig den Vogel oder schluckt seinen Ärger tief runter, bis man in der Klinik landet.
Mats hat einen Plan, was er in seiner letzten Therapie zeichnen will. In seinem Rucksack hatte er beim Packen seiner Sachen einen kleinen Stein gefunden, den er an jenem Abend vom See mitgenommen hatte, als er das erste Mal dort mit Maike gesessen hatte. Er legt ihn vor sich auf den Tisch, holt sein Handy raus, sucht ein Foto vom See mit dem Regenbogen.
Maike schaut sich den Stein an: „Was machst du?“
„Das Bild, was ich jetzt male, wird eh nicht mehr trocknen, bevor ich gehe. Ich will den See malen und den Stein klebe ich mit Spachtelmasse aufs Blatt – keine Ahnung, ob er hält. Wenn du willst, kannst du das Bild dann haben, ich sag der Therapeutin Bescheid.“
„Dann male ich auch den See.“
Beide vertiefen sich in ihre Bilder, schauen hin und wieder auf das Blatt des anderen, tauschen Farben aus. Mats hat es eilig, er muss es heute zu Ende bringen, es gibt kein „Mach ich beim nächsten Mal fertig“ mehr.
Die 75 Minuten sind vorbei, die Bilder sind fertig – wobei Mats noch einiges an Verbesserungsmöglichkeiten bei seinem Gemälde sieht. Maike tut sich gewohnt schwer, ihr Bild als „Das bleibt jetzt so“ beiseite zu legen. Während Mats wie zuletzt oft leuchtend-bunte Farben verwendet hat, wirkt Maikes Bild auf ihn melancholisch. Er fühlt sich an den Herbst erinnert, wenn die Bäume ihre bunten Blätter abgeworfen haben, die Farben sich verwaschen an eher grauen Tagen und Wehmut sich ausbreitet. Ja, du weißt, dass der nächste Sommer kommt, aber von dem gerade vergangenen musst du Abschied nehmen. Und bis zum nächsten gilt es, erst einmal den Winter zu überstehen mit seinen kurzen Tagen und langen Nächten.
Sie verlassen den Raum. Eine Stunde ist noch Zeit bis zum Mittagessen, danach will Mats die Heimreise antreten – irgendwann muss es ja sein, so denkt er.
„Ich muss noch dieses Entlass-Dingens abholen im Hauptgebäude und will danach dem Garten Auf Wiedersehen sagen. Willst du mit?“
Maike ist dabei. Ob sie ahnt, dass Mats einfach noch einmal mit ihr Zeit verbringen will?
Um den Garten auf dem Klinikgelände hatte sich Mats in den letzten Wochen gekümmert. Früher war dieser Garten Teil von Therapien, jetzt schaute oft nur eine Ehrenamtliche ab und zu nach dem Rechten. Viel Liebe hatten die Rabatten in letzter Zeit nicht abbekommen, zumindest sah es Mats so, als er den Garten zum ersten Mal sah. Als ein Therapeut fragte, ob sich jemand um den Garten kümmern könnte, ging Mats´ Arm schnell nach oben. So hatte er ein Ziel, konnte etwas machen, bei dem der Kopf mal nicht in Dauerschleifen denken musste. Als er zwei Tage vor seinem Abschied ein letztes Mal Unkraut entfernt hatte, um „seinen“ Garten besenrein abgeben zu können, hatte sich Maike mit einem Buch auf die Bank ein Stück abseits gesetzt, ohne dass es Mats gleich bemerkt hatte.
In einem Beutel in Mats´ Hand klirren Scherben. Maike hatte am Vorabend für diese gesorgt, als sie ein Fenster öffnen wollte und sie die Kraft der Zugluft unterschätzt hatte – der Blumentopf gab beim Kontakt mit dem Fußboden nach. Jetzt setzen die beiden die Scherben in eine der Rabatten – und rätseln, wie lange sie wohl dort bleiben dürfen. „Aus versicherungstechnischen Gründen …“ war ein Standardsatz in der Klinik, der teils absurd anmutende Grenzen für die Patienten setzte. Scharfkantige Tonscherben in freier Natur?! Die Chance, dass sich Maike und Mats hier lange verewigen können, erscheint gering.
Dennoch arrangieren sie die Scherben mit Geduld – und Wehmut. Diese herrscht im Kopf von Mats auch, als er seinen Blick noch einmal über all die Rosen, Beerensträucher, großen und kleinen Stauden, Blumen und Kräuter wandern lässt: „Ich hoffe, jemand kümmert sich um euch … Wäre schade, wenn die Arbeit umsonst gewesen wäre …“
Maike fragt, ob er Fotos von sich im Garten hat, Mats verneint. Sie nimmt sein Handy, er posiert. Die Stimmung hellt sich vorübergehend auf. Noch einmal fragt sie ihn, ob er wirklich heute gehen will. „Ich muss ja …“, antwortet er lächelnd-melancholisch.
Sie laufen zurück, Zeit zum Mittagessen. Mats holt noch kurz etwas aus seinem Zimmer, geht in den Speiseraum, setzt sich wie immer schräg gegenüber von Maike. Sein Blick wandert schnell durch den Raum, alle sind mit Essen beschäftigt. Sein Arm geht Richtung Maike, seine Hand ist geschlossen. Mit Blicken verständigen sie sich. So hält sie ihre Hand auf, er übergibt ihr einen Kaffeelöffel, sie schmunzelt, schließt schnell ihre Hand, nickt dankend und verhält sich genauso unauffällig-verschwörerisch wie Mats.
Die Geschichte hinter dem Löffel: Eines Tages hatten sich die beiden zu einem kleinen Spaziergang verabredet. Von einer Mitpatientin bekam Mats ein Stück Kuchen. Er schnappte sich zwei Löffel aus der Stationsküche und den Kuchen. Als er mit Maike auf einer Bank saß, packte er die kleine Mahlzeit aus seinem Rucksack, gab ihr einen der beiden Löffel. Irgendwann sah sie auf die Rückseite, las still die Prägung: „Princess“ und lachte: „Hast du mir den mit Absicht gegeben?“
Mats hatte verwirrt geschaut, Maike hielt ihm den Löffel vor die Augen – und er musste ebenfalls lachen: „Nein, das ist jetzt purer Zufall, Ehrenwort.“ Nach einer Weile: „Eigentlich müssen wir den klauen …“
Maike war von der Idee begeistert, der Löffel wanderte zurück in den Rucksack und nie wieder in die Schublade der Station.
Nachdem Maike erzählt hatte, dass sie sich nun vorstellen könnte, die Frau in King Kongs Hand zu sein, musste Mats hin und wieder an die Aufschrift des Löffels denken. Dabei hatte er vor Augen, wie eine Prinzessin namens Maike von einer starken Hand gerettet wird und sich in dieser sicher fühlt.
Gleichzeitig hatte er seine Therapeutin in den Ohren: „Sie sollten versuchen, nicht mehr Frauen retten zu wollen.“ In den Einzelgesprächen hatte seine Therapeutin einen roten Faden gefunden, der – wie bei jedem Menschen – in der Kindheit begann und sich weit ins Erwachsenenalter zieht. Als Kind erlebte Mats eine schwache Frau – seine Mutter, die sich gegen einen übermächtigen Mann – sein Vater – nicht wehren konnte. Mats habe deshalb einen Drang entwickelt, Frauen beschützen zu wollen, weil er seiner Mum nicht helfen konnte. Dabei hätte eigentlich SIE ihre Kinder beschützen sollen. Also bot er Frauen immer wieder Halt. Wenn du aber immer für andere da bist, um ihnen zu helfen, vergisst du dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse. Das kann lange gut gehen – muss es aber nicht.
Wollte Mats Maike retten? Sie beschützen? Vergaß er seine eigenen Bedürfnisse? Auch wenn der Satz von Maike über King Kongs Hand immer wieder in seinem Kopf herumschwebte und ein warmes Bild ergab, war er sich sicher, sie nicht retten zu wollen. Er würde die Erinnerungen, die sich mit Maike, ihrem Gesicht, ihrem Lächeln und ihrem Wesen verbanden, mit genauso großer Dankbarkeit und Demut in den Koffer packen, wenn sie King Kongs Stärke hätte. Er hatte sehr wohl an seine Bedürfnisse gedacht, wann immer Maike fragte, ob sie noch jemanden mitnehmen sollten.
Und auch mit einer King-Kong-starken Maike vor Augen hätte Mats jetzt nicht weniger Wehmut, so kurz vor dem Abschied von ihr – auch wenn er nicht auf Dauer sein muss. Die ersten Mitpatienten sind fertig mit dem Essen, räumen ihre Teller weg, verabschieden sich von Mats. Einer will etwas zu Mats sagen, bringt aber keinen Ton heraus, er kann Mats nur umarmen, die Tränen laufen. Mats ist überrascht von so viel Emotionen, so eng war das Miteinander mit diesem Mann eigentlich nicht.
Eine andere Patientin schenkt Mats einen kleinen, schwarzen Elefanten – sein Krafttier, welches ihn in einem Traum verfolgt hatte. Seitdem zog er immer wieder Vergleiche mit diesem Tier. Auf die Frage, wie er sich fühle, hatte er an einem Morgen geantwortet: „Wie ein toter Elefant.“
Michelle, Anfang 30, ist an der Reihe. Dass bei ihr ein Sturzbach losbricht, erstaunt Mats überhaupt nicht. Und auch wenn er fest mit diesem gerechnet hatte, kann er eigene Tränen nicht zurückhalten. Michelle hatte Mats zusammen mit einem anderen Patienten Dinge anvertraut, die sie vorerst keinem anderen erzählen konnte. Diese beiden Männer wurden Michelles innerer Kreis – obwohl sie eigentlich Männern gegenüber sehr schwer Vertrauen aufbauen konnte. In diesen Kreis passen meist nur ganz wenige Menschen, nur ihnen können sich Menschen in psychischen Extrem-Zuständen öffnen. Der andere Patient verließ die Klinik zwei Wochen zuvor, nun geht auch Mats – für Michelle extrem schwer zu verkraften – Wehmut im roten Bereich.
Als zwei deutlich ältere Mitpatienten, eine Frau und ein Mann, hinzukommen, hat sich Michelle beruhigt. Die Frau, die allgemein mit Abschieden schwer klarkommt, fragt die anderen beiden leise und angefasst, ob sie schon einmal einem Menschen wie Mats begegnet sind. Der Mann, um die 60, überlegt kurz, schüttelt dann verneinend den Kopf. Michelle denkt nicht lange nach: „Nein, Mats ist einmalig.“
Bei diesem kommen die Worte mit Verzögerung an: Sprechen die wirklich über mich?!
Mats atmet durch, als die drei den Raum verlassen, bringt seinen Teller weg, Maike ebenso. Sie gehen schweigend auf den Flur. Gleich nebenan ist das Zimmer von Mats, in welchem Koffer, Tasche und Rucksack stehen, fertig gepackt.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde. Dann trennen sie sich – doch nur vorübergehend. Noch einmal liegen sie sich in den Armen, nicht kürzer als zuvor. Zwei Wochen kennen sie sich – wer sie so sieht, würde es nicht glauben. Will man die Gefühlslage zweier Menschen in einem solchen Moment wie diesen mit einem Wort beschreiben, sollte man auf dieses Wort einen Blick werfen: Wehmut.
Noch ein Blick in die Augen des anderen, ein kurzes Nicken ohne Worte, dann geht Maike den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Mats holt das Gepäck, verabschiedet sich bei den Schwestern, die gerade Dienst haben, ein Patient kommt noch hinzu, auch er sagt Lebewohl. Auf dem Weg durchs Treppenhaus begegnet er zwei Patienten, auch hier wird sich gegenseitig viel Glück für die Zukunft gewünscht. Dann verlässt er zum (vorerst?) letzten Mal das Gebäude, geht zur Straßenbahn. Die Sonne scheint, Haufenwolken schmücken den Himmel. Auf dem Weg zum Bahnhof hallen viele Worte nach, die er bei all den Abschieden gehört hatte. Diese Worte überwältigen ihn immer wieder, die Sonnenbrille verdeckt die ein oder andere Träne. So viele warme Worte, so viel Lob – dabei war er doch immer nur er selbst?! Eher leise, zurückhaltend, nicht darauf bedacht, im Mittelpunkt stehen zu wollen.
Und er denkt an den Abschied von Maike, an die langen, warmen Umarmungen, an den Abend am See mit dem Regenbogen, an die Stunden im Musikraum, an die kleineren, gemeinsamen Momente. Würde er all das noch einmal erleben dürfen, an anderen Seen, in anderen Räumen? Mit wem?
In seinem Koffer liegen die Bilder, die er in den Therapien gemalt hat. Auf einem steht ein Satz aus einer seiner Geschichten: „Ich laufe auf Pfaden, welche ich mit ihr ging, sehe immer wieder ihre Spuren, höre ihre Stimme, weit weg. An Bänken, Brücken, auf Wiesen kleben Bilder von uns, die keiner entfernt hat.“
Wehmut.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
Mats steht noch immer am Fenster. Vor einer guten Stunde saß er mit Maike am Klavier, lag neben ihr auf dem Boden des Musikraums. Es sein letzter Abend in der Klinik. Er wird sie nicht vermissen. Also die Klinik. Sein Kopf ist nach all den Therapien vorerst nicht mehr aufnahmefähig. In der Gestaltungstherapie malte er zuletzt nur noch Bilder ohne nachzudenken, mit Fingern, grellbunt. Dass er so den Kopf ausschalten kann, ist ein ganz neues Gefühl für ihn. Anderen Patienten riet er seitdem: „Nicht drüber nachdenken, einfach machen“ – sie wussten, wie ernst er es meint.
Auch Maike kennt den Satz von ihm. Auch sie weiß, dass Mats damit keinerlei Druck machen möchte. Er weiß am besten, wie schwer es ist, mal NICHT zu denken. Anfangs verunsicherte er sie mit solchen Sätzen, so wie sie seit Kindertagen ihren Gefühlen schwer bis überhaupt nicht vertrauen kann „dank“ ihrer Eltern. Doch schnell fasste sie Vertrauen in Mats, die Phasen der Verunsicherung wurden genauso schnell kürzer. Seine ausgeglichene Art, seine Ruhe, seine Geduld – es war kein Zufall, dass sie nicht mehr unbedingt in die Rolle des fast unbezwingbaren King Kong schlüpfen wollte, sondern sich jetzt vorstellen konnte, die Frau in seiner Hand zu sein. Der riesige Affe war durchweg friedlich. Nur wenn man ihn bis aufs Blut reizte, tauschte sich die Friedfertigkeit gegen Wut aus. Und so konnte Maike sich in einem geschlossenen Raum entspannt auf den Boden legen neben einen Mann, den sie keine zwei Wochen kannte.
Mats steht noch immer am Fenster, die Kopfhörer spielen Grönemeyers „Halt mich“: „Bin vor Freude außer mir, will langsam mit dir untergehn. Kopflos, sorglos, schwerelos in dir verliern.“
Mats legt die Stirn in Falten, glaubt, es habe jemand an der Tür geklopft. Er geht hin, öffnet.
„Wollen wir noch bisschen rausgehen?“ – es ist Maike.
„Na gut“ – in seiner Stimme schwingt Melancholie, Abschiedsstimmung – und ein Hauch von Freude. „Willst du wo Bestimmtes hin? Sonst könnten wir zu so einer Allee gehen, mit Obstbäumen, ist nicht weit weg, schön ruhig.“
„Okay“ – der Vorschlag stößt auf entspannte Gegenliebe. „Ich hol mir noch meine Jacke, okay?“
„Treffen wir uns vor dem Schwesternzimmer?“
Wenige Minuten später verlassen Maike und Mats das Gebäude, der von Wolken eingerahmten Abendsonne entgegen, an einer Straße mit Feierabendverkehr entlang.
„Kannst du mir noch sagen, wie Freude aussieht? Also als Wesen?“
Mats hebt die Augenbrauen: „Stimmt, wir haben noch gar nicht drüber gesprochen, wie sie aussieht. Und wie sie sich anfühlt auch nicht, oder?“
Maike winkt ab: „Aussehen reicht erstmal. Ich hab mir aufgeschrieben, was du im Musikraum über Freude gesagt hast, das lese ich mir morgen durch und gucke, was ich fühle. Kannst mir auch die Fotos zeigen, dann kann ich mich besser erinnern.“
„Okay. Also, Freude. Ich bin da wieder vom Film Alles steht Kopf beeinflusst. Dort ist die Figur Freude ein schlankes, weibliches Wesen im luftigen Kleid, blaue Haare, meist mit einem Lächeln auf den Lippen. Hmm … Da ich mich auch eher innerlich freue, nicht wirklich laut nach außen, würde ich meine Freude auch als schlankes, zartes Wesen zeichnen, wenn ich müsste. Ohne gefärbte Haare. Oder doch? Vielleicht sollte ich ihr die Haare ganz unterschiedlich malen, sie extrovertiert machen, damit sie so richtig abfeiert, wenn es mal Grund zur Freude gibt. Sie zündet dann Raketen, setzt sich ein Partyhütchen auf … Ich kenne eine Frau, bei der Freude wohl echt so ausgeflippt wäre. Ist wie bei der Wut, die auch ganz unterschiedlich aussehen kann. Am Ende wirst du deine eigenen Figuren zusammensetzen müssen.“
Stolz erklärt Maike: „Ich mach das manchmal! Aber ich weiß nicht, ob es richtig ist. Aber wenn du sagst, dass es eh bei jedem anders aussehen kann, dann gibts ja kein richtig und falsch.“
„Na ich weiß ja nicht mal, ob ich dir die Gefühle richtig erkläre. Vielleicht bringe ich dir was völlig Falsches bei!“
„Ach, ich vertrau dir. Und ich kann ja auch noch andere fragen.“
Mats geht ein Licht auf: „Ach, wegen Vertrauen. Du hattest ja gesagt, dass du dir jetzt vorstellen könntest, die Frau in King Kongs Hand zu sein. Ich hab die Filme zwar nie wirklich gesehen, aber ich glaube, King Kong ist ein gutes Beispiel für Sanftmut.“
„Saaanftmut“, wiederholt Maike genießend, „Das mag ich. Warum ist King Kong ein gutes Beispiel?“
„Ich hatte nachgeguckt, wie genau Sanftmut heute beschrieben wird. Die Frau, die er in seiner Hand hält, fühlt sich ja nicht als Geisel, sondern wirklich aus tiefem Herzen aufgehoben. Sanftmütig heißt: angenehmes, mildes Gemüt, Temperament. Und sanftmütige Menschen sind eigentlich immer so, sie rasten nicht in regelmäßigen Abständen grundlos aus. Ein cholerischer Mensch kann zwischendurch auch sanftmütig wirken, aber den würdest du nicht als wirklich sanftmütig bezeichnen. Die Frau in King Kongs Hand kann sich einfach drauf verlassen, dass er ihr nichts tut, auch wenn sie ihn nicht lange kennt. Er hat sie immer beschützt. Ja, vielleicht hat sie ein bisschen Stockholm-Syndrom, aber gehen wir mal vom völligen Ideal aus. Sie vertraut ihm, weil sie in ihm Sanftmut erkennt.“
Maike strahlt: „Schönes Bild. Ey, das ist cool! Jetzt brauchst du nicht nachdenken, wie Sanftmut aussieht, ich stell mir einfach immer King Kong vor. Vielleicht gucke ich mir den Film nochmal an. Bin ich sanftmütig?“
Mats überlegt kurz: „Naja, bisher hatte ich relativ wenig Angst vor dir, dass du mal ausrastest und die Station in Schutt und Asche legst. Aber wir kennen uns ja noch nicht sooo lange.“
Sie lacht: „Ey, sag mal richtig.“
„Richtig.“
Ihr Lachen hält an: „Ach Mensch, jetzt sag mal.“
„Naja, du gibst dir größte Mühe, niemandem auf die Zehen zu treten. Damit du auf jemanden böse bist, muss scheinbar extrem viel passieren. Das wirkt auf mich manchmal … nicht so richtig gesund für dich auf Dauer. Sanftmut ist für mich kein blindes Vertrauen, da wäre für mich immer noch so eine dezente Vorsicht dabei – die dann aber auch kein perfektes Schutzschild ist gegen Verletzungen. Bei mir ist das Vertrauen in andere Menschen auch deutlich größer als das Misstrauen – glaube ich. Und einmal bin ich damit so richtig auf die Nase gefallen, unter anderem deshalb bin ich hier gelandet.“
Maike wird ernst: „Na wenn ich unter Menschen bin, fühle ich mich immer so, als müsste ich mit ihnen sprechen, damit es ihnen gutgeht und ich mich nicht mit mir beschäftigen brauche. Mein nächstes Ziel ist, am Wochenende baden zu fahren, soll ja richtig warm werden.“
Mats unterbricht: „Oh, an den See?“
„Dachte ich auch erst. Aber wenn dann wenig Leute dort sind, dann quatsche ich die wieder alle an. Deshalb will ich an den großen See fahren.“
„Aber da wird ziemlich viel los sein?!“
„Ich weiß. Eigentlich mag ich ja nicht so viele Leute auf einem Haufen, aber die sind dann anonym für mich, weil es so viele sind und dann quatsch ich die nicht an und kann bei mir sein.“
Mats schüttelt mit einem Lächeln den Kopf: „Du bleibst eine echte Wundertüte …“
Auch ihre Mundwinkel gehen schräg nach oben: „Ach Mensch, sag nicht so was. Bist du sanftmütig? Irgendwie schon, oder?“
„Als ich mir die Beschreibung von Sanftmut durchgelesen habe, hab ich mich schon wiedererkannt. Und heute bei meiner Verabschiedung in der Gruppentherapie sagte der eine doch, dass ihn in den ersten 14 Tagen meine Stimme extrem genervt hat?!“
„Ja, fand ich schräg. Aber naja, der Typ …“
„Ich weiß. Er sagte glaube – ich konnte mir wenig merken, es wurde so viel gesagt, dass es ihn nervte, dass ich nie aus der Ruhe zu bringen war. Egal, was passierte, ich wäre nie mal ausgerastet, laut geworden, an mir sei alles abgeprallt. Das hat ihn richtig gereizt und er hat dann brachial versucht, mich doch mal aus dieser Balance zu bringen. Klappte nur bedingt“ – Mats lächelt. „Es ist, als würde jemand Dart-Pfeile auf mich werfen, aber die Spitzen werden auf dem Flug zu Wattebällchen. Aber so funktioniert es nicht immer! Da stecken schon so einige Pfeile in meiner Haut.“
Sie erreichen die Allee mit den Obstbäumen, kein Mensch weit und breit. Von weitem sind die Geräusche von Autos zu hören. Auf dem Feldweg liegen wenige, matschige Kirschen, die letzten der Saison. An anderen Bäumen hängen kleine Äpfel.
Maike kommt ins Grübeln: „Ist Sanftmut eigentlich ein Gefühl? Oder eine Charaktereigenschaft?“
Das Grübeln steckt Mats an: „Hmm, gute Frage. Ich hab beim Suchen gar nicht drauf geachtet.“ Eher mit sich selbst sprechend, fährt er fort: „Ich FÜHLE mich sanftmütig. Ich BIN sanftmütig.“ Dann spricht er wieder Richtung Maike: „Ich BIN sanftmütig klingt logischer, also wäre es eine Eigenschaft.“
„Was kann man noch sagen statt Sanftmut?“
„In den Beschreibungen stand immer wieder, dass Sanftmut mit Ausgeglichenheit, Ruhe, Geduld gleichgesetzt werden kann. Was war noch? Dass man mit Sanftmut nicht auf Kränkungen mit Wut reagiert, sondern besonnen. Ah, nachsichtig, verständnisvoll. Feinfühlig.“
„Das sind doch alles Eigenschaften?“
„Wo ist die Liste mit den Gefühlen, wenn man sie braucht … Aber stimmt schon, es dürfte Richtung Charakter gehen.“
Eine Libelle ist noch wach, landet auf dem Weg. Mats geht in die Knie, hält ihr die Hand hin.
Maike schaut zu: „Was machst du?“
„Ach, vor paar Jahren saß ich an dem Teich zu Hause, zu dem ich fast jeden Tag gegangen bin, als die Beine das noch mitmachten. Irgendwann landete eine rote Libelle auf meiner Hose. Ich hab sie länger beobachtet, sie sonnte sich. Hab ihr dann vorsichtig meine Hand hingehalten, immer näher. Sie flog hoch – und setzte sich auf meinen Handrücken. Fand ich unglaublich. Sie blieb lange, ich konnte Fotos machen. Ich dachte, das wird einmalig sein und wollte es mit Bildern in Erinnerung behalten. In den Jahren darauf passierte es aber wieder. Vor kurzem hab ich nach einem Bild mit Libelle gesucht auf meiner Festplatte, dachte, dass es 3, 4 oder 5 Mal funktioniert hatte, aber ich fand Bilder in glaube 13 Ordnern, verteilt auf 4 Jahre.
Ich weiß noch, dass es mir irgendwann langweilig wurde mit den Bildern „Libelle auf Handrücken“ und da hab ich versucht, sie in meiner Hand, also auf dem Handteller landen zu lassen. Die Vorstellung, dass sie so viel Vertrauen in mich haben kann, sich in meine Hand zu begeben, fand ich … Hier würde ich wieder demütig verwenden. Und sie landete in meiner Hand! Mal auf dem Daumen, mal an der Außenseite – und dann richtig in der Mitte. Es waren immer rote Libellen, ausschließlich, obwohl dort auch ab und zu blaue flogen. Eigentlich sind wir da wieder bei King Kong und der Frau in seiner Hand. Und bei Sanftmut.“
Maike hörte andächtig und begeistert zu: „Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen. Steht nicht in der Bibel, dass die Sanftmütigen selig sind?“
„Den Spruch kenne ich zumindest. Ist also ein ziemlich altes Thema. Das Wort klingt auch irgendwie staubig.“
Maike: „Aber gerade in der heutigen Welt könnten ein paar Millionen mehr Sanftmütige nicht schaden.“
„Oh ja. Es gab auch noch andere Zitate. Einer ging glaube in die Richtung, dass Sanftmut und Demut eng zusammenhängen.“
Maike holt ihr Handy aus der Jackentasche, geht auf die Suche, versinkt mit ihren Gedanken darin: „Oh hier: Wir müssen das Leben durch Sanftmut bezwingen. Das Leben bezwingen?! Okay, der war alt. Ah, hier: Durch Sanftmut wirst du mehr gewinnen als durch Gewalt und Ungestüm. Wenn ich so schnell laufe und denke, dann bin ich doch ungestüm? Dann kann ich nicht sanftmütig sein, oder? Ach, den kenn ich, Shakespeare: Sanftmütig bleibt der wohl, den nichts betrübt. Hmm, ich will immer, dass mich nichts betrübt. Auf der Tafel der Sitten ist Sanftmut das Salz. Aus Persien. Sanftmut: Ungewöhnliche Geduld beim Planen einer wirklich lohnenden Sache. Wieder das mit der Geduld. Die Sanftmut ist ein Schlüssel zum Himmel. Ohje … Nur Menschen, welche Festigkeit besitzen, sind wahrer Sanftmut fähig; die da sanft scheinen, sind gewöhnlich bloß schwach und werden leicht verbittert. Boah, heftig, oder?“
Mats bittet Maike, das letzte Zitat noch einmal vorzulesen, überlegt dann: „Ah, okay. Ich dachte erst, er meint, dass die Sanftmütigen schwach sind. Aber er meint ja einmal den wahren Sanftmut und dann den Sanftmut, den man vorspielt.“
Maike liest noch ein Dutzend weiterer Zitate vor und staunt am Ende: „So viele Leute haben sich darüber Gedanken gemacht, irre. Und ich hab das Wort vorher glaube noch nie gehört, dabei ist es so schön.“
Mats schmunzelt, raunt: „Und ich brauchte dir nicht sagen, dass es schön ist. Du machst dich.“
An Maikes Gesicht kann Mats schwer ablesen, ob sie wenigstens ein bisschen stolz auf sich ist, auch an ihrer Reaktion nicht.
Dann fällt ihm noch etwas ein: „Ach, als meine erste Woche in der Klinik rum war, ging eine Frau heim, Mitte 30. Also wir kannten uns da auch erst eine Woche. Als wir uns verabschiedeten, wollte ich ihr eigentlich nur die Hand geben, sie breitete aber die Arme aus. Okay, dachte ich, dann halt so eine einarmige Umarmung, wo die andere Hand auf dem Schulterblatt landet. Aber sie nahm mich in beide Arme, legte ihren Kopf an meine Schulter und sagte einige nette Sachen über mich. Zum Beispiel, dass ich Sachen zu ihr sagen konnte, die eigentlich fies waren, aber sie wusste immer, wie ich es meine und konnte mir nichts übelnehmen. Dabei hatten wir gar nicht sooo viel miteinander gesprochen. Vielleicht kommt so was auch durch Sanftmut. Sie hat sich ja auch irgendwie bei mir sicher gefühlt, dass ich ihr nicht wehtun will, so wie eben King Kong dieser Frau oder ich der Libelle.“
„Und du willst morgen wirklich weg? Nee, das geht nicht. Du sagst morgen früh, dass du noch eine Woche brauchst.“
Er lacht: „Wenn du die ganze Zeit hier gewesen wärst, in der ich hier war … Ich glaube, ich hätte wenig von den Therapien mitbekommen, wir wären immer irgendwo unterwegs gewesen oder hätten auf dem Klinikgelände gesessen und gequatscht.“
„Beim letzten Mal, wo ich hier war, bin ich die ganze Zeit nicht aus dem Zimmer raus, nur wenn es sein musste für Therapien.“
Mats schaut sehr erstaunt: „Ernsthaft?! Nie?! Wie lange?“
„Drei Monate.“
„Wahnsinn.“
„Saaanftmut …“ – Maikes Blick versinkend im Grün neben den Bäumen. Ihre Hand sucht nach einem Blatt für ihre Sammlung. Seit dem ersten Tag in der Klinik pflückte sie täglich eines. Dieses wird das vorletzte sein, welches sie im Beisein von Mats sammelt. Vorerst?
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
#metoo (1) 2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) abschied (1) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beziehung (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) Bundestagswahl 2021 (1) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) freiheit (2) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) interview (1) Journalismus (4) kampagnen (1) kinderwunsch (1) Kindheit (4) Krankenhäuser sind Hurenhäuser (1) liebe (2) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) Mutterliebe (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) Spaltung der Gesellschaft (1) Sucht (1) tot (3) Vater & Sohn (2) Vernunft (1) verrückt (21) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) wird nicht besser (3)
„Ich habe eine Überraschung für dich, komm dich dann holen, wenn das okay ist für dich.“ Maikes Blick strahlt, als sie vor Mats´ Tür steht. Wie könnte er jetzt „Hab schon was vor“ sagen?
Zwei Tage sind vergangen, seit dem Versuch, Wut zu erklären. Der Versuch fiel ins Wasser, zusammen mit seinen Hoffnungen, die ihn nervten, weil sie so unvernünftig waren. Aber immerhin hatte er jetzt ein glasklares Zeichen: „Neeee.“
Zwei Stunden später folgt er Maike ins Erdgeschoss der Klinik. Eine Zimmertür steht offen: die des Musikraums.
„Wir dürfen eine Stunde allein rein!“ – wieder strahlt sie. „Wir können alles machen! Ich möchte nochmal ans Klavier. Und dann machen wir den Klangstuhl!“ Ihre Aufregung ist überhaupt nicht zu übersehen.
Seine Gesichtszüge werden weich, die Mundwinkel gehen nach oben. Tags zuvor war er zum letzten Mal in der Gruppen-Musiktherapie, durfte das scheinbar letzte Mal am Klangstuhl spielen. Dieser Sessel aus Holz hat auf seiner Rückseite vom Kopfteil bis zum Boden an die 30 Saiten gespannt, wobei jeweils 15 den selben Ton erzeugen. Als er das erste Mal mit großer Neugier hinter diesem Sessel saß und spielte, war es Liebe auf den ersten Ton. So hatte er gestern auch gegenüber Maike geschwärmt.
Der Stuhl steht bereits ein Stück von der Wand weg, daneben wartet ein Xylophon auf seinen Einsatz. Hier hat jemand Vorarbeit geleistet. All die anderen Instrumente stehen in einer Ecke parat. Wie kleine Kinder, die vor einer großen Spielzeugkiste rumzappeln, stehen die beide im Raum: „Was machen wir zuerst?“
Sie probieren einige kleine Instrumente aus, deren Klänge sie teils an Märchenfilme erinnern. Ansonsten ist es völlig still in diesem Raum. Auf dem Flur vor der geschlossenen Tür ist niemand, Ärzte und Therapeuten sind im Feierabend.
Dann entdecken sie ein zweites Xylophon und so sitzen sie sich gegenüber, schauen und hören, was der andere macht. Wortlos spielen sie sich aufeinander ein, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Es wird breiter, wenn sie für ein paar Takte im Gleichklang sind.
Die Zeit vergeht, doch eilig hat es keiner der beiden.
„Jetzt den Klangstuhl?“, fragt Maike eher leise, so wie man sich unterhält, wenn man andächtig in einer Kirche steht.
„Gerne. Ich würde zuerst spielen …“ Auch Mats´ Stimme will diese besondere Atmosphäre nicht stören.
„Und ich setze mich rein?“
„Wenn es für dich okay ist, dann sehr gern.“ In den bisherigen gemeinsamen Tagen gewann Mats ein großes Maß an Sicherheit, dass Maike sich bei ihm geborgen fühlt. Doch er will nicht ausschließen, dass es bestimmte Situationen gibt, wo ihr Vertrauen in ihn durch Kindheitserlebnisse nicht vorhanden sein könnte.
Er nimmt hinter dem Klangstuhl Platz, sie setzt sich in den Sessel, Blickkontakt ist nicht möglich. Er möchte ihr Sicherheit geben, damit sie sich richtig fallenlassen kann: „Ich kann einen Arm auf die Lehne legen, dann kannst du auf meine Hand drücken, wenn es unangenehm wird.“
„Hmm, ach, ich vertrau dir.“
„Dann geht’s los …“
Seine Finger gleiten langsam und mit wenig Druck über die linken Saiten, sie lassen den tieferen Ton erklingen. Die Schwingungen übertragen sich auf das Holz des Stuhls, können vom Körper wahrgenommen werden. Am Kopfteil sind links und rechts Blenden, so dass die Töne zwischen den Ohren hin- und herschwingen, sie verstärken. Wie laut Maike die Töne hört, kann er nur grob schätzen. Er vermeidet es, laut und chaotisch zu spielen, sie soll sich einfach nur wohlfühlen, entspannen.
Mats bewegt seinen Kopf dicht neben die rechte Kopfblende, sieht nur Maikes rechten Arm und die Beine: „Ist es so okay?“, raunt er.
In ihrer Antwort liegt ein Lächeln: „Ja. Und wie ist es für dich?“
Wieder spricht er mit sehr gedämpfter Stimme: „Ich könnte das stundenlang machen. Es gibt zwar nur zwei Töne, aber es gibt so viele Möglichkeiten: über die Saiten streicheln, streichen, einzelne Saiten zupfen, härter, weicher, schnell, langsam, … Und es ist, als würde ich dir über den Rücken streicheln. Da überlegt man, was dir gut tun würde.“
Sein Kopf lehnt sich zurück, er taucht wieder ab in die Welt der hauchenden Klänge. Minute um Minute vergeht, in denen kein Wort mehr fällt. Zwei Töne ersetzen Worte, nur sie durchqueren die Stille im geschlossenen Raum.
Ihm fällt es schwer, einen letzten Ton zu setzen. Nachdem er sich dazu entschließt, hallt er sekundenlang nach. Langsam steht er auf, vermeidet Geräusche, schaut ebenso langsam und neugierig von oben über die Kopflehne. Maike bemerkt ihn, legt ihren Kopf in den Nacken, schaut ihn entspannt lächelnd an: „War schön. Hab sogar die Augen zumachen können. Danke.“
„Gerne. War nicht zu laut?“
„Nein, hätte ruhig bisschen lauter sein können.“ Sie wirkt, als wäre sie gerade aufgewacht nach einem langen, entspannenden Schlaf.
Ohne Eile tauschen sie die Rollen. Für seine Größe ist der Stuhl nicht gedacht. Dennoch versucht Mats, ihn so gut es geht zu nutzen, legt die Hände und Arme an die hölzernen Seiten, um die Vibrationen spüren zu können. Auch er schließt die Augen, auch jetzt bleiben die Münder weitgehend geschlossen. Auch jetzt vergeht Zeit – und sie scheint gleichzeitig stillzustehen.
Der letzte Ton erklingt. Leise sprechen sie über Erlebtes. Fotos zur Erinnerung entstehen. Er macht mehrere Fotos von Maikes Gesichtshälften aus Neugier, ob sie eine Schokoladenseite hat, doch er kann problemlos mit beiden leben. Sie selbst sieht sich auf den Bildern weniger unkritisch.
„Und jetzt Klavier?“ – wieder strahlt Maike und wieder könnte Mats ihr angesichts dieses Lächelns nicht den geringsten Wunsch abschlagen. Der Hocker ist breit genug für beide. Sie sitzt links von ihm, so wie auf der Bank am See, nur dass sich hier die Hüften berühren Es ist nicht das erste Mal, dass Maike am Klavier sitzt, für Mats schon. So behutsam, wie sie zuvor an den Xylophonen und dem Klangstuhl spielten, so behutsam wandern die Hände über die Tasten. Hin und wieder schauen sie auf die Hand des anderen, nach einem gemeinsamen Takt suchend. Oder sie vertrauen ihren Ohren. Manchmal huscht ein entspanntes Lächeln über beide Gesichter, manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen. Minutenlang sitzen sie eng nebeneinander und würde nicht einer von beiden mit kräftigem Druck eine der weißen Tasten drücken, dann würden sie wohl noch morgen sitzen.
Der Ton klingt aus, sie schauen sich in die Augen. So richtig mag keiner die Stille durchschneiden.
„Zufrieden?“, raunt Mats.
„Ja. Und du?“
„Hatte was von Tanzen von zweien, die noch nie miteinander getanzt haben. Sagt ein leidenschaftlicher Nicht-Tänzer. Man versucht, sich auf den anderen einzustimmen, um sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten. Man weiß nicht, ob der andere Rock´n´Roll will oder Träumerei von Robert Schumann. Keiner hat geführt, zumindest hatte ich nicht das Gefühl. Und dann gabs die Momente, wo es einfach passte.“
Sie lächelt: „Freut mich, schön. Oh, die Klangschalen! Die will ich unbedingt noch probieren. Legst du dich auf den Boden?“
Aus der geplanten Stunde sind inzwischen anderthalb geworden. Wenn sie sich nicht oben auf Station zurückmelden müssten, würden es wohl noch einige mehr. Mats legt sich mitten in den Raum, Maike nimmt zwei Klangschalen vom Schrank, legt die kleinere auf seine Brust, schlägt vorsichtig an die goldglänzende Wand, dann stärker. Mats reagiert verhalten. Der Klang hallt ewig nach, er spürt aber nichts im Körper. Dann ist die größere Schale dran. Maike setzt sie vorsichtig ab, schlägt dagegen. Mats lacht dezent, die Vibrationen durchlaufen jetzt spürbar den Brustkorb, sein Lachen lässt die Schale beben. Maike schlägt stärker, Mats lacht intensiver, aber weiter darauf bedacht, die Schale nicht abzuwerfen.
„Jetzt die große!“, Maike steht auf, geht wieder zum Schrank, kehrt zurück, tauscht die Schalen.
„Boooaahh, ist das heftig“ – Mats traut seinen Empfindungen kaum, bittet aber auch um einen noch kräftigeren Schlag und ist noch mehr hin und weg von der Wirkung.
„Jetzt auf deine Stirn.“
Die große Schale hat keine Chance, auf der Stirn von Mats stehenzubleiben, bei der mittleren gelingt es. So wie der Ton durch den Raum schwingt, so schwingen zwischen Mats und Maike Neugier, Begeisterung, kindliche Freude.
Dies bleibt, als sie die Rollen tauschen. Nun liegt Maike am Boden, Mats setzt die Schale auf ihre Stirn, schlägt vorsichtig gegen sie, danach kräftiger. Maike, die sensibler als die meisten Menschen Dinge spürt, durchfährt es: „Unglaublich … Ich merk das überall. Boahh … Heftig …“
Die Uhr tickt.
„Noch ein Selfie von uns im Liegen?“, fragt Mats.
Nun liegen beide auf dem weichen Boden, diverse Male klickt die Kamera, welche völlig entspannte Gesichter einfängt.
Mats legt das Handy beiseite, beide bleiben noch einen Moment liegen: „Schön“, sagt er kurz und entschlossen.
Maike neigt den Kopf zu ihm: „Ja?“
Er nickt voller Überzeugung: „Ja!“
„Okay, wenn du das sagst, glaub ich dir.“
Sein Blick zeigt sich mit Fragezeichen.
Sie erklärt: „Wenn ich allein bin und Sachen erlebe, weiß ich nicht, ob das jetzt was Schönes ist oder nicht. Wenn jemand dabei ist und mir sagt, wie es für ihn ist, dann weiß ich, wie es war.“
„Hmm, schräg“, raunt Mats nachdenklich, „Hab ich so noch nie gehört.“
Stille.
„Als wir am See saßen mit dem Regenbogen: Wusstest du da auch nicht, ob das jetzt schön ist?“
Wieder schaut Maike zum Mann neben ihr: „Naja, am nächsten Tag hast du mir die Fotos gezeigt und ich hab gemerkt, dass du dich gefreut hast. Dann hab ich mir gesagt, dass es schön war und dann hab ich mich auch freuen können.“
„Hmm … Dann sind wir wohl bei Teil 3 unserer Serie angekommen. Nach Liebe und Wut sind wir bei Freude. Wobei …“
„Was?“
„Ich überlege, ob das jetzt Freude ist oder Glücksgefühl oder Leichtigkeit …“
„Kann es nicht alles zusammen sein?“
„Klar, und am Ende ist es ja auch egal. Hauptsache, es fühlt sich so richtig gut an.“
„Geht es dir so?“
„Oh ja. Guck, wir fahren das erste Mal in unserem Leben zusammen an einen See und bekommen so ein Spektakel zu sehen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Wären wir eine halbe Stunde später dort gewesen, hätten wir den Regenbogen nicht gesehen. Und an wie vielen Tagen im Jahr wird es um die Uhrzeit, als wir dort waren, einen Regenbogen geben? Da war schon verdammt viel Glück dabei. Und wenn man Glück hat, müsste man Glücksgefühle haben.“
„Dass das so selten ist, daran hab ich nicht gedacht. Wenn du das jetzt so sagst, war das wirklich was Besonderes.“
„Und heute hier im Musikraum … Wie oft im Leben erlebt man so was? Wie oft werden wir noch mit einem anderen Menschen an einem Klavier sitzen, den wir gerade mal paar Tage kennen, in so einer Atmosphäre? Mach eine Umfrage unter Paaren und da werden nicht nur 10% sagen: Oaaah, so was will ich auch erleben. Klar, wir sind in einer Klinik, eigentlich will man hier nicht landen müssen. Aber wäre ich nicht hier gelandet, hätte ich das hier nie erlebt. Also auch wieder Glück. Naja, und ne Menge Leichtigkeit. Wir liegen hier nebeneinander auf dem Fußboden, als würden wir uns seit Monaten kennen. Ich muss mir immer mal wieder sagen, dass wir uns vor nicht mal zwei Wochen über den Weg gelaufen sind, weil ich mit dir diese Momente erlebt habe, die sich bei anderen auf Wochen bis Monate verteilen. Das ist verrückt.“
„Schön, wie du mir das erklären kannst. Darüber denke ich bestimmt noch paar Mal nach. Ich wills ja lernen. Und man hat ja nicht immer nur ein einzelnes Gefühl, also können Freude, Glück und Leichtigkeit zusammen da sein, miteinander spielen, rumalbern, laut und leise sein, bunt, warm. Die drei sitzen in der Kneipe zusammen, quatschen über ihre Erlebnisse, machen neue Pläne. Dann kommen andere Gefühle zur Tür rein, Angst, Trauer, Schmerz, die wollen rumstänkern, die anderen ignorieren sie. Die Wut platzt dazwischen, es wird laut …“
Mit einem Lächeln in der Stimme unterbricht er sie: „Jetzt wird es wieder laut und chaotisch in deinem Kopf, oder?“
Sie grinst: „Ja, ich lauf schon wieder zu schnell, oder? Aber ich laufe jetzt wirklich manchmal langsamer. Dann denke ich, wenn der Mats jetzt neben mir wäre, würde er mich bremsen und das wäre okay. Ich muss ja nicht schnell irgendwo hin.“
„Ich will dich ja nicht bremsen, aber ich hab dann manchmal das Gefühl, dass du dich selbst überholen willst, ob beim Laufen oder Denken.“
„Das ist schon okay so, ich merk das ja nicht. Also nicht immer. Und dann werde ich schnell krank. Wo ich das Bild gemalt habe, da hast du gesagt, dass es doch jetzt schön aussieht. Da wusste ich, dass es fertig ist, sonst hätte ich immer weitergemacht.“
„Dann bin ich beruhigt. Und ich werde noch heute ein Buch anfangen zu schreiben, wo zwei Menschen in einem ansonsten ganz stillen Raum Klavier spielen. Wird wohl ein Abenteuerroman.“
Sie schaut, lachend und verwirrt: „Jetzt macht du das wieder so mit mir und ich weiß nicht, ob du es ernst meinst.“
„Siehste, dank mir hast du immer wieder Zugriff auf das Gefühl der Verwirrung. Das können wir von der Liste für Erklärungen streichen.“
Wieder lachte sie: „Du bist seltsam. Als Nächstes könntest du mir Demut erklären. Es gab mal eine Phase, wo ich Angst hatte und Schmerz. Da sagte man mir, dass ich Demut empfinde.“
„Demut oder nicht viel eher Wehmut?“
„Ich glaube Demut. Ist das nicht ähnlich?“
„Nee. Also für mich nicht. Demut wäre für mich … Naja, dass ich das hier mit dir erleben durfte, würde ich mit dankbarer Demut quittieren. Demut hat für mich vor allem was von Wertschätzung. Wehmut wäre, wenn mir jemand erzählen würden, dass er DAS hier erlebt hat und ich würde denken: Oahh, das hätte ich gern selbst erleben wollen, wird aber wohl niemals passieren.“
„Kannst du mir das aufschreiben?“
„Hmm, wenn ich es oben nochmal so zusammenkriege …“
„Du musst ja nicht.“
„Sagte sie mit ihrem entwaffnenden Charme …“
Wieder lacht sie: „Ach Mensch. Dann sind wir mit Demut oder Wehmut ja auch schon durch. Reicht ja, wenn es auch mal kurz ist. Du hattest da gestern noch so ein Wort, was mir so gefiel?!“
Er überlegt: „Hmm … Es klingelt so ein bisschen … Ach, Sanftmut?“
„Jaaa! Sanftmut. Das mag ich.“
„Aber morgen nach dem Mittag bin ich weg hier …“
„Wir können uns ja nochmal treffen. Also nur so, nicht flirty oder so.“
„Jupp.“
Abends steht Mats allein am Fenster seines Zimmers, schaut auf den Weg, versinkt in Gedanken. In seinem Kopfhörer singt Philipp Poisel: „ Und ich schließe die Augen vor all diesen Fragen, ich bin müde vom Zweifeln nach all diesen Tagen. Also schließ ich die Augen …“ Einige Fragen beschäftigen seinen Kopf dennoch, als „Wolke 7“ ausklingt: Wie viel Freude, Glück oder Leichtigkeit hätte er gefühlt, wenn er mit einer x-beliebigen Mitpatientin am Klavier gesessen und auf dem Boden gelegen hätte? Hätte es sich genauso intensiv angefühlt, wenn er am Klangstuhl einen anderen Rücken als den von Maike vor Augen gehabt hätte? Auch wenn er niemals eine völlig unbeeinflusste Antwort auf diese Fragen bekommen würde – für Mats ist sie recht klar.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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„Also, erklär mir, wie sich Wut anfühlt. Kennst du das überhaupt selbst?“ Mit neugierigen Augen schaut sie den Mann neben ihr auf der Bank an.
Eine Woche ist es her, als Mats ihr an gleicher Stelle erklärte, wie sich für ihn Liebe anfühlt und wie er sie sich als Wesen vorstellt. Die ersten Tage danach schüttete der Himmel all das aus, was er sich über den Juli einbehalten hatte. „Unglaublich gutes Timing für die Sintflut“, dachte er sich immer wieder beim Blick aus dem Fenster der Klinik. Das Datum stand fest, an welchem Mats entlassen wird. Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
Einmal mehr in seinem Leben fühlte er sich in diesen sonnenlosen Tagen vom Glück verfolgt – und er war wie üblich schneller als dieses Glück. Wie sich dieses anfühlt, hätte er ihr schwer erklären können – im Gegensatz zu Selbstmitleid. Zu diesem hätte er Maike erklärt, dass es doch gut ist, wenn man mit anderen Menschen Mitleid empfinden kann. Also darf Mitleid mit sich selbst nichts Negatives sein – Fürsorge für sich selbst halt.
Am liebsten wäre es Mats allerdings gewesen, er hätte einfach nur den jeweils bevorstehenden Abend mit Maike am See sitzen können, problemlos in aller Stille, ohne Erklärung von Gefühlen. Als er am Abend nach der Liebes-Erklärung im Bett lag mit den Bildern vom Regenbogen über dem See, fiel ihm noch etwas zum Thema ein: Wenn man gemeinsam Stille aushalten kann, sich dabei keine Sekunde unwohl fühlt, dann ist die Verbindung eine Besondere. Wenn Liebe im Spiel ist, dann kann das Fallenlassen beginnen. Für ihn war Stille aushalten neben dieser Frau, die er erst so kurz kannte, überhaupt kein Problem.
Dann kam der Regen, ohne Einladung, crashte die Party und machte keine Anzeichen, wieder gehen zu wollen. Immerhin legte er beim Mann, der am Fenster auf sonnige Zeiten wartete, etwas frei: Wut.
Jetzt sitzt er noch einmal mit ihr am See. Ein Regenbogen ist weit und breit nicht in Sicht. Auch die Abendsonne hat keine Lust, die Bäume wieder in sattes Gelbgrün zu tauchen. Stattdessen versteckt sie sich hinter Wolken, deren dicke Bäuche über die Landschaft streifen. Dass Mats wütend auf das Wetter war, will er Maike nicht sagen, auch wenn es sich als frisch aus dem Leben gegriffenes Beispiel anbieten würde. Sie würde nachhaken, so wie sie den Dingen immer auf den Grund gehen möchte. In seinem Kopf findet sich jedoch keine Version für eine nüchterne Erklärung, durch die sich die Frau neben ihm für sein Gefühl nicht bedrängt fühlen würde – blöde Gefühle …
Maike erwartet neugierig die Antwort auf ihre Frage, ob Mats selbst Wut empfinden kann. Doch fürs Erste weicht er aus: „Vor paar Jahren habe ich von einer Frau gehört, die keine Wut empfand, sie war auch in Therapie. Die Therapeutin sagte, dass auch diese Frau ganz sicher Wut in sich trägt, so wie jeder psychisch Erkrankte – und wohl auch die scheinbar Gesunden. Aber viele hätten keinen Zugriff auf sie, weil sie als Kind gelernt haben, dass man nicht wütend ist. Es stellte sich raus, dass die Eltern dieser Frau als Kind immer mit der Bibel gedroht hatten: Wenn du wütend bist, kommen Dämonen über dich! Das war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass Gefühle nicht selbstverständlich sind.“
Maike braucht nicht lange nachzudenken: „Ich durfte auch nicht wütend sein, das gehörte sich nicht. Also als Kind. Irgendwann wusste ich überhaupt nicht mehr, welches Gefühl zu welcher Emotion gehört usw. Das muss ich jetzt lernen. Wie stellst du dir Wut vor? Mir hilft es, wenn ich es mir bildlich vorstellen kann.“
„Okay. Im Film „Alles steht Kopf“ ist Wut ein roter Typ, kräftige Statur, dem regelmäßig Flammen aus dem Kopf steigen und dessen Blutdruck durchweg an der oberen Grenze ist. Das trifft es für mich schon ganz gut. Wut hat für mich immer was mit aufsteigender Hitze zu tun, mit Anspannung, mit Wach sein, lebendig sein. Man kann von sich selbst überrascht werden, weil man nicht geahnt hat, was da in einem brodelt. Diese Wut aus dem Film bricht immer zeitnah aus, also er reagiert sofort explosionsartig, wenn ihm etwas nicht passt.
Wut kann aber auch eine riesige Kugel aus Stein sein: Sie kommt nicht in Bewegung, auch wenn es noch so stürmt. Sie kann da lebenslänglich bewegungslos rumliegen, weil du nicht wütend sein darfst – Erbe deiner Kindheit. Aber wehe, sie kommt in Bewegung. Den Tisch, auf der die Kugel liegt, kann man ganz langsam in Schräglage bringen – und irgendwann reicht es und es geht los. Dann rollt sie und rollt und kracht auf den Fußboden, rollt Richtung Tür, durchbricht sie, macht sich auf den Weg die Treppe runter, hinterlässt tiefe Spuren auf jeder Stufe, durchschlägt die Haustür, bremst Autos auf der Straße aus, verletzt jene, die nicht schnell genug dieser Wut-Kugel ausweichen können oder die glauben, sie aufhalten zu können.“
Maike: „Ich bin bestimmt diese Kugel, die keiner angestoßen hat. Hoffentlich macht es auch in Zukunft niemand, ich will niemanden verletzen. Durftest du als Kind wütend sein?“
Mats schüttelt mit schnellen, kurzen Bewegungen seinen Kopf: „Hätte nichts gebracht. Gegen meinen Vater hatte niemand aus der Familie eine Chance, zumal er sich als völlig fehlerfrei sah. Als er nach der Scheidung weg war – glücklicherweise – hab ich ihm einen Brief geschrieben, da war ich um die 18. Den Brief fand ich wieder, als ich vor drei Jahren seine Wohnung aufräumen musste nach seinem Schlaganfall. Er hatte ihn laminiert – keine Ahnung, warum. Da lag schon ordentlich Wut drin in dem, was ich ihm geschrieben hatte, 30 Jahre zuvor. So mache ich wohl Wut immer mit mir aus: Ich schreib sie mir aus dem Kopf, anstatt zu schreien.“
„Ich mags nicht, wenn jemand schreit, da will ich wegrennen.“
„Würdest du auch vor dir selbst wegrennen, wenn du schreist?“
Sie grübelt: „Ich würde es wohl gar nicht erst probieren.“
Die Schwalben, von denen bisher nichts zu sehen war, ziehen plötzlich wieder ihre Schneisen dicht über dem See. Die zwei auf der Bank lenkt es ab, ihre Augen verfolgen das Treiben.
Neben Mats fällt etwas hinab, direkt auf sein Handy rechts neben ihm. „SCHEISSE!!!“ – denkt er, doch über seine Lippen kommt es nicht. Stattdessen murmelt er: „Oh, Dünger, jetzt wird aus meinem Handy ein Tablet, cool.“
Die Frau zu seiner Linken bemerkt das Malheur, ehrliches und langanhaltendes Bedauern folgen, selbst als die Spuren der Schwalbe per Küchenpapier verschwunden sind. Dann findet Maike zurück zum Thema Wut – allerdings nur kurz: „Oh, Regen. Ich hol fix meine dicke Jacke aus dem Auto und den Schirm, sonst liege ich morgen wieder flach. Du weißt ja …“
Noch bevor Maike aufsteht, sind von hinten Stimmen zu hören. Zwei Frauen, beide um die 30, nähern sich voller Freude. Carla ruft: „Gefunden! Ich hab doch gesagt, dass ich unglaublich gern Mäuschen spielen wollen würde, wenn ihr beide euch unterhaltet! Habt euch aber ein romantisches Plätzchen ausgesucht … Und wir bringen den Regen mit, sorry …“
Mats schaut mit erstarrtem Gesicht zu den beiden Mitpatientinnen, springt von der Bank auf, seine laute Stimme lässt die Schwalben fliehen: „Euer Ernst?! Tagelang fluche ich über das Wetter und jetzt schneit ihr hier ohne Einladung rein?! Wenn ihr nur einen Hauch von weiblicher Intuition hättet, dann müsste euch doch klar gewesen sein, dass ich hier allein mit ihr sein will, bei den paar Tagen, an denen ich sie noch um mich haben kann! Ja, ich weiß: Die Chance, dass was Positives passiert, ist nicht so riesig. Dass mein Kopf trotzdem träumt, nervt mich tierisch in den Zeiten, wo er nicht träumt. Aber das jetzt?! Kann doch nicht euer Ernst sein?! Setzt euch wieder ins Auto und fahrt, wohin auch immer ihr wollt, aber nicht hier her!!! Und nehmt diesen Scheiß Regen mit!“
Nun reißt er auch noch die Bretter der Bank aus der Verankerung. Maike, die mit völlig fassungsloser Miene gerade noch saß, flüchtet zur Seite. Mats schleudert die beiden Bretter im hohen Bogen ins Wasser und lässt einen lauten Schrei folgen.
Natürlich bleibt die Bank heil. Natürlich fällt kein einziger dieser Sätze. Die Wut-Kugel bleibt unberührt und kommt nicht ins Rollen. Und auch dem stämmigen, roten Mann aus dem Film schießen nicht die Flammen explosionsartig aus dem Kopf.
Im erstarrten Gesicht von Mats lässt sich die Wut nicht ablesen. Aber sie ist da. „Wie lassen Sie Wut raus?“, fragte ihn seine Therapeutin zwei Wochen zuvor. Lange überlegte er und kam zum Ergebnis: „Ich mach sie mit mir selbst aus, eher still, wie eben als Kind. Manchmal schreib ich sie mir aus dem Kopf.“
Wut rauslassen sei wichtig, lernte er. Das Gleiche gilt für all die anderen Gefühle. Ein Therapeut betete immer wieder herunter: „So, wie Sie sich gerade fühlen, ist es okay. Diese Gefühle dürfen da sein, sie sind richtig, so wie sie gerade sind. Sie brauchen nicht bewertet werden.“ Aber dieser Typ verschwindet auch in den Wald, wenn ihm nach Schreien zumute ist, ansonsten ist er auf dem Harmonie-Pur-Trip! Jeglichen Konflikt löst er mit einschläfernd-sanfter Stimme, furchtbar! Wie es wohl um seine Wut bestellt wäre, wenn er sich mit seinem dürren Hintern in 1000 Heftzwecken setzen würde?!
Und was würde es jetzt hier am See bringen, der Wut freien Lauf zu lassen? Die laute Stimme würde nicht nur die Schwalben verscheuchen. Die rollende Kugel würde Menschen verletzen, nicht nur per Schürfwunde. Wie sollte er den drei Frauen am nächsten Tag unter die Augen treten nach einem Amoklauf mit Worten als Kugeln?
Gerade jene Frau, die er all zu gern neben sich sitzen lassen mochte, würde einen Bogen um ihn machen. Jene Frau, die sich dank ihm so sicher fühlen konnte. Drei Tage zuvor war die Frage zwischen den beiden aufgetaucht, welche Filmrolle sie gern spielen würde. „Eigentlich wollte ich immer King Kong sein, ganz stark. Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, die Frau zu sein, die er in seiner Hand trägt. Ihm vertrauen können, dass mir nichts passiert. Ich glaube, das fühlt sich gut an.“ Zwei Stunden zuvor war es um seine großen Hände gegangen. Nicht die von King Kong, sondern die des Mannes, in dessen Gegenwart sich Maike sicher fühlte. Für Mats bestand wenig Zweifel: Er war King Kong und sie konnte sich dank ihm fallenlassen. Ob dieses Gefühl der Wahrheit entsprach? „Was du gerade fühlst, ist okay und braucht keine Bewertung.“
Und jetzt am See soll Mats den wütenden, riesigen Affen spielen, der alles in Trümmer legt, genau wie das Gefühl der Sicherheit dieser Frau?! Im Leben nicht. Aus den Trümmern würde nichts Neues, Besseres erwachsen können.
Oder doch? Würden sich die drei Frauen nach dem ersten Schock über den Wutausbruch freuen, dass dieser Mann nun endlich Gefühle zeigen kann? Würden sie es als Therapieerfolg feiern? Würden sie ihn in die Arme nehmen, während er Tränen der Überwältigung über seine Wangen laufen lässt? Wer weiß schon, wie eine Geschichte weitergeht, wenn sie noch nie erzählt wurde? Man könnte ja völlig überrascht werden von den Reaktionen?! Wenn ich nachts die Straße im Stockdunkeln entlanglaufe, muss ja auch nicht zwangsläufig der Axt schwingende Wahnsinnige im Weg stehen. An seiner Stelle könnte mir ein Wesen entgegenkommen, das auch nicht schlafen kann und auf der Suche nach etwas ist, was das Leben schöner macht. Dann sitzen wir auf dem Bordstein, reden leise über Gott und die Welt, bewundern den aufsteigenden Vollmond und kommen auf die Idee, an einen kleinen See in der Nähe zu fahren.
„Na, worüber redet ihr zwei?“, fragt jene Frau, die sich gerade lautstark für den Überraschungseffekt gefeiert hat. Von ihren Augen und Lippen lässt sich ablesen, in welche Richtung die Antwort gehen soll. Genauso schauen Kinder, wenn sie ein Geschenk auspacken dürfen und sie sich etwas ganz sehr gewünscht haben. Als Carla „Über Wut“ hört, kehrt in ihre Augen und Lippen Ernüchterung ein, kurz gefolgt von leichter Enttäuschung, die sie mit einem „Aha“ kaum verbergen kann.
Maike lacht verwirrt: „Was dachtest DU denn?“
Carla lächelt, hebt kurz die Augenbrauen.
„Ach. Nee“ – wieder lacht Maike.
In den Ohren von Mats zieht sich das „Nee“ unangenehm lang. Ist DAS jetzt die Gelegenheit für wenigstens ein klein bisschen Wut? „Vorhin hat ein Vogel auf mein Handy geschissen. Irgendwie weiß ich gerade, wie sich mein Handy gefühlt haben muss.“
Zwei der drei Frauen fühlen mit ihm.
„Ich geh meine Jacke holen, bin gleich wieder da. Setzt euch ruhig, wir haben bestimmt alle vier Platz.“
Als Maike außer vermeintlicher Hörreichweite ist, fragt Carla leise: „Enttäuscht?“
Er hebt die Augenbrauen: „Sagen wir es so: In der Klinik kämpfen wir jeden Tag zwei, drei Mal um die Antwort auf die Frage, wie wir uns gerade fühlen. Jetzt könnte ich immerhin EIN Gefühl nennen – ist doch ein Fortschritt.“
„Brauchst ja nicht gleich aufgeben“ – Carla lehnt sich kurz an seinen Arm. „Ist Enttäuschung eine Vorstufe von Wut? Weiß das wer?“
Drei grübelnde Gesichter.
„Ich denke schon“, murmelt Michelle. „Wenn sich Enttäuschung stapelt, dann könnte es irgendwann Wut werden.“
„Macht Sinn“, raunt Mats. „Wie sieht es mit deiner Wut aus? Dein Whatsapp-Status gestern Abend klang nach Der Staudamm platzt jede Sekunde.“
„Wo ich geschrieben habe, dass sich die Leute einfach melden sollen und mich nicht dauernd anquatschen brauchen, wieso ich mich nicht melde?“
„Genau das. Ich dachte nur: Leute, geht in Deckung, es ist so weit!“
„Ich kann auch nicht mehr … Ich merke die Wut, wie sie jeden Tag größer wird, immer, wenn die Bilder von früher klarer werden. Das frisst alle Energie, die ich noch habe. Und weil ich kaum schlafe, wird nichts aufgefüllt.“
„Vielleicht ist dein Akku bald so leer, dass dir alles egal wird. Dann kannst du das Wort, was du bisher nicht aussprechen kannst, sagen und wirst nicht wie von dir befürchtet vom eigenen Staudammbruch überschwemmt.“
„Möglich. Wird Zeit. Ich halte das nicht mehr lange durch.“
„Immerhin kannst du die Wut spüren.“
„Aber ich kann sie nicht rauslassen. Naja, an mir schon. Und an paar anderen. Die bekommen alles ab und ich fühle mich schuldig und bin wieder wütend.“
„Dann drück ich die Daumen, dass der Damm besser morgen als übermorgen bricht. Von mir aus auch noch heute, kommt nicht mehr drauf an“ – ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Und was ist mit deiner Wut?“ – sein Blick wandert zu Carla.
Die lacht nur kurz auf, winkt ab: „Reden wir nicht drüber. Noch eine Panikattacke brauche ich heute nicht.“
„Na dann läufts doch bestens bei uns“, fasst Mats mit schwungvoller Stimme die Gefühlslagen der drei zusammen, während der Regen stärker wird. „Wir können gern nochmal über Liebe reden, kein Ding.“
Carla und Michelle lachen kurz auf. Michelles Stimme klingt rotzig, auch hier spricht die Wut ein Wörtchen mit: „Hab ich nichts am Hut mit.“
Mats erinnert sich an frühere Gespräche mit ihr: „Ach, stimmt. Borderline.“
Carla schaut fragend, Michelle erklärt: „Ich kann keine richtigen Beziehungen eingehen, irgendwann nach paar Monaten wird mir das zu viel und dann mach ich Schluss. Fühlt sich doof an, weil ich am Anfang die Typen ja mag. Aber hält nicht lange.“
Mats sagt leise: „Wobei du ja jetzt noch einen anderen Grund dafür kennst.“
„Jupp. Und 20 Jahre nix davon gewusst … Was ist mit dir, Carla? Läufts bei dir mit der Liebe?“
Sie lächelt vielsagend: „Och, ich will mich nicht beschweren, passt schon irgendwie.“
Mats, mit ernster Stimme: „Die schönste Liebeserklärung, die es heute an diesem See gegeben hat …“ – Die Frauen schmunzeln. „Es ist immer wieder schön, mit Frauen über Liebe sprechen zu können, einfach wundervoll …“
Von weitem ruft es: „Hey, wollen wir zurück fahren? Das wird doch nichts mehr …“
Mats lächelt und sagt leise: „Ja, so kann man es zusammenfassen. Wut scheint echt kein Thema für laue Sommerabende. Ciao, du See, vielleicht zum letzten Mal. War insgesamt schön mit dir. Der Abend mit dem Regenbogen – für den danke ich dir mit aller Demut. Und falls ich irgendwann eine Leiche zu entsorgen habe, weil ich Wut hatte, komme ich auf dich zurück, versprochen.“
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Mats schmunzelt, schaut noch länger in das Gesicht der Frau neben ihm, wobei in ihm mehr und mehr das Gefühl aufsteigt, Maike meine diese Frage ernst. Nach längerem Zögern raunt er: „In einem Buch wäre diese Frage der Beginn eines unglaublich romantischen Dialogs, an dessen Ende sich die beiden küssen. Aber du scheinst wirklich nach einer Erklärung zu suchen?“
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wieder ziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln in die Breite, wieder sieht Mats in Maikes braune Augen, in denen er einen Hauch von Neugier zu sehen glaubt – aber auch große Erwartungen. In Gedanken versinkend, schweift sein Blick nach vorn, auf das glatte Wasser des Sees, in welchem sich die von der Abendsonne gelbgrün angemalten Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Auch die Augen der Frau, die dicht neben ihm auf der Bank sitzt, wandern jetzt über das Wasser, die Spiegelungen, die Windräder in der Ferne.
Stille.
Mats findet erste, neue, leise Worte: „Eigentlich sollte das Gefühl, dass mit Liebe verbunden ist, genauso selbstverständlich sein wie Hunger oder Durst. Aber so einfach ist es wohl doch nicht …“
Maike sieht zu ihm: „Du musst ja nicht.“
Er lächelt: „Na jetzt rattert es schon in meinem Kopf …“
„Und was sagt er?“
„Er lässt fragen, ob du platonische Liebe meinst, wie man sie gegenüber den eigenen Kindern haben sollte, oder Liebe, bei der Herzen in den Sand am Meer gemalt werden in der Hoffnung, sie werden niemals weggespült?“
„Das mit den Herzen.“
„Dann ist es ja einfach …“
Maike schaut Mats fragend an, zögert: „Wirklich? Nee, du verscheißerst mich wieder, oder?“ Unsicher lächelt sie.
Er versucht, ernst zu bleiben, doch es gelingt ihm nicht lange. Sein „Neeein“ kauft sie ihm nicht mehr ab, dafür kennt sie ihn inzwischen zu gut, auch wenn sich Mats und Maike erst fünf Tage zuvor das erste Mal begegnet sind und Maike ihren Gefühlen selten vertraut.
„Du kannst ja erstmal sagen, wie Liebe aussieht, wenn sie ein Wesen wäre“ – wieder scheint in Maikes Stimme viel Erwartung zu liegen.
„Das macht es ja noch viel einfacher!“
Sie lacht: „Hör auf, ich weiß schon, wie du es meinst. Du musst ja nicht …“
Er nickt entwaffnet: „Stimmt! Ich sitze hier bei Sonnenuntergang mit einer Frau mit rehbraunen Augen, mit der ich ganz allein bin vor einer Kulisse, die wie gemalt ist und der ich erklären soll, wie sich Liebe anfühlt und wie sie aussieht. Da werde ich bestimmt sagen: Guck doch einfach mal bei Google nach.“
Ihr Gesicht strahlt, doch aus ihm liest der Mann neben ihr auch etwas Unsicherheit. Wieder grübelt er lange, sagt dann: „Liebe ist glaube nur über andere Gefühle zu erklären. Wenn du auf diese Gefühle auch schwer Zugriff hast, dann sitzen wir morgen früh noch hier. Ich könnte damit leben …“
„Brrr, das würde mir zu kalt.“
Die Antwort lässt Mats nicht kalt, er versucht es zu überspielen: „Dann geben wir mal Gas. Hmmm … Ich gehe jetzt einfach von mir selbst aus. Wenn es für dich schwer zu fühlen ist, haben andere vielleicht auch Probleme mit dem Zugriff auf dieses Gefühl.“
Noch einmal wandern seine Augen über die sich im See spiegelnden Bäume, folgen einer Schwalbe, die dicht über das Wasser fliegt auf der Jagd nach Nahrung. Zögernd sucht er die Gedanken in seinem Kopf zusammen: „Vor paar Jahren hätte ich einer Frau die berühmten drei Worte sagen können. Drei Jahre war sie Stammgast in meinem Kopf, mit längeren Pausen, wenn wir keinen Kontakt hatten. Wir haben uns vielleicht 15 Mal getroffen, einmal Silvester zusammen mit einer Freundin von ihr gefeiert, wir waren bei einem Weihnachtskonzert, wir lagen lachend am Elbufer bei einem Konzert mit der erleuchteten Altstadt von Dresden als Kulisse, wir haben viel zusammen gelacht – und es gab Momente, wo sie einen Charakter zum Davonlaufen zeigte. Eigentlich hätte ich schon nach dem ersten Treffen wegrennen müssen, wenn Liebe was mit inneren Werten zu tun hätte. Aber Liebe ist ein biochemischer Suchtzustand mit allem, was zur Sucht dazugehört …“
„Bähhh! Nee, das klingt ja furchtbar?!“ Maike lacht und verzieht das Gesicht gleichzeitig so, als hätte sie Zitronenstücke zwischen den Zähnen.
Mats lächelt: „Hey, du wolltest es doch wissen! Da musst du jetzt durch.“
„Nee, so doch nicht. Mach mal richtig.“
„Also so wie in den Liebesfilmen, die du geguckt hast?“
„Ja!“
„Hmm, dann bin ich raus.“
Maikes Lächeln hält noch an, aber die Verunsicherung kehrt zurück: „Warum?“
Er schaut ernst: „Hatte je ein Actionheld in einem Film eine posttraumatische Belastungsstörung, wenn er 30 Mal von Kugeln knapp verfehlt wurde, in den Händen von Gangstern gefangen war oder er sonst wie um sein Leben zittern musste? Filme sind Märchen.“
Auch aus ihrem Gesicht ist das Lächeln verschwunden, während sie in seine Augen schaut. Ratlosigkeit verbindet die beiden auf der Bank. Was nun?
Mats durchbricht das Schweigen: „Keine Angst. Auch wenn man weiß, dass Liebe ein Suchtzustand ist: Wenn dich die Liebe erwischt, dann wirst du es nicht als Sucht empfinden. Du hast entweder Schmetterlinge oder Flugzeuge im Bauch.“
Die Neugier in ihr kehrt zurück: „Flugzeuge?“
„Naja, je nachdem, ob deine Liebe auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn der andere mit an Bord ist, gibts Schmetterlinge. Wenn du in dem anderen nichts auslöst, was auch ihn süchtig nach dir macht, dann hast du die Flugzeuge.“
„Nee, dann ist es ja keine Liebe. Nur wenn beide wollen, ist es Liebe. Wenn einer nicht will, dann suchst du dir einfach die Nächste und wenn die auch nicht will, dann die Nächste. Sonst wartest du ja ewig auf die Richtige! Da wirst du ja bekloppt.“
Mats weiß nicht, was er darauf antworten soll. Auch wenn er sich seiner Sache sicher ist, weil er es oft genug selbst erlebt und bei anderen gesehen hat, taucht die Frage in seinem Kopf auf, ob diese bisherige Sicht völlig verkehrt ist. Wie kann Maike sich bei der Erklärung, wie Liebe funktioniert, so sicher sein und gleichzeitig hungernd nach einer Erklärung suchend?
Mats ringt nach Worten, fühlt sich außerstande, auf Maikes Sicht einzugehen, versucht, die Klippe zu umschiffen: „Also wenn man Flugzeuge im Bauch hat, wird es zäh.“
„Deshalb mag ich das Verlieben nicht. Einer leidet am Ende immer. Das kann ich nicht ertragen.“
Er schaut verwirrt: „Warum willst du trotzdem wissen, wie sich Liebe anfühlt?“
„Naja, ich will das bei allen Gefühlen lernen.“
Wieder steigt in Mats das Gefühl von Ernüchterung auf: Dies ist keine Szene aus einem Liebesfilm, so passend die Kulisse und die Atmosphäre auch sein mögen. Aber damit braucht er auch keine Rücksicht darauf nehmen, auch nur einen Hauch von Romantik zerstören zu können. Also fährt er fort: „Dann erkläre ich einfach mal meine Version von Liebe weiter, dann bekommst du vielleicht zusammen mit den Liebesfilmen einen guten Durchschnitt. Also: Liebe ist eine Sucht. Die Droge ist immer in deinem Kopf. Du willst sie sehen, du willst sie lesen, du willst sie hören und wehe, sie meldet sich nicht zehn Minuten nachdem du eine Nachricht an sie geschrieben hast. Raucher brauchen regelmäßig ihre Zigarette, Verliebte brauchen genauso regelmäßig ihre Droge. Wenn du aber nicht wirklich rankommst, weil der andere eben nicht das für dich empfindet, was du für ihn empfindest, dann bekommst du Entzugserscheinungen. Und du kommst von deiner Droge nur los, wenn du absolut die Finger von ihr lässt, also pure Abstinenz.
So ging es mir mit dieser Frau, mit der ich mich oft traf: Sie schien mich nur als guten Zuhörer zu sehen, der für sie da ist, wenn kein anderer für sie da ist. Allerdings gab sie auch Signale von sich, die überhaupt nicht nach Ich sehe dich nur als guten Kumpel aussahen. Solche Signale heizen die Sucht dann wieder an: Vielleicht komme ich ja doch noch ran!!! Wenn der Kontakt mal einschlief, ließ die Wirkung nach und ich konnte sie völlig nüchtern betrachten – oder dachte fast überhaupt nicht an sie.
In den drei Jahren hatte ich trotz all dem, was wir so gemeinsam gemacht hatten, wo wir viel gelacht und schöne Momente hatten, das Gefühl, dass es zwischen ihr und mir eine Mauer gibt. Sie kann Menschen schwer vertrauen. Wenn sie einen Mann kennenlernt, muss sie immer erst über längere Zeit gucken, ob sich Gefühle gegenüber ihm entwickeln. Dieses Verlieben auf den ersten Blick kennt sie nicht. Hmm, sie war die Erste, bei der ich mich fragte, ob man Liebe lernen muss und jetzt soll ich dir erklären, wie sich Liebe anfühlt. Schräg.“
„Siehste, hättest du sie am Anfang in den Wind geschossen, als sie nicht angebissen hat, hättest du dir das alles danach ersparen können und wärst heute mit einer anderen glücklich.“ Wieder liegt kein Zweifel in den Worten von Maike.
Und wieder weiß Mats nicht, was er antworten soll. Beide schweigen. Die Blicke wandern Richtung Himmel. Über den Windrädern, die sich hinter der linken Seeseite erheben, malt sich langsam ein Regenbogen in die Wolken. Wenig später wächst die andere Hälfte an der rechten Seeseite. Mats dreht sich nach hinten, kann durch die Bäume die untergehende Sonne sehen, umrahmt von dunklen Wolken. Die Frau neben ihm tut es ihm gleich, die Köpfe sind nicht weit voneinander entfernt. Stille.
„Wahnsinn …“, raunt er, als er wieder nach vorn schaut.
„Schön, oder?“, fragt Maike.
Im ersten Moment glaubt er, sie kann sich an dieser nun noch imposanteren Kulisse erfreuen. Im zweiten Moment wandert die Frage durch seinen Kopf: Weiß sie nicht, ob das jetzt schön ist?
Nach wenigen Minuten verblasst der Regenbogen.
Maike fragt: „Warst du verliebt in die Frau?“
Er neigt seinen Kopf hin und her: „Ich war offenbar süchtig nach ihr, also verliebt im biochemischen Sinne. Aber erst in einem Moment nach drei Jahren hätte ich ihr sagen können: Ich liebe dich. Es war ein Moment, wo sie diesen Panzer fallen ließ, mit dem sie sich aus meiner Sicht immer umgeben hatte. Diese unsichtbare Mauer war weg, die ich so lange gefühlt hatte. In dem Moment glaubte ich, sie vertraue mir nun endlich, kann scheinbare Schwächen zugeben. Dafür hätte ich ihr die drei Worte sagen können, ohne dafür eine Belohnung zu bekommen, also ohne Erwiderung oder Dafür nehm ich dich mit in die Kiste! In dem Moment empfand ich Liebe für sie, wenn du so willst Echte Liebe, nicht Sucht. Diese echte Liebe verbinde ich mit absolutem Vertrauen, mit Fallenlassen können, mit tiefer Verbundenheit. Gut, man kann auch ´nen besten Kumpel haben, dem man blind vertraut, immer sein kann, wie man ist und bei dem man weiß, dass man auch in 40 Jahren noch bestens miteinander auskommt. Bei der echten Liebe ist das aber für mich eine andere Ebene, die sich wärmer, enger, inniger anfühlt. Es wäre ein riesiger Unterschied in meiner Gefühlswelt, ob ich jetzt hier mit einer Kumpeline sitze oder mit einer Frau zum Verlieben. Den Unterschied zu beschreiben … Schwierig … Kommt mir unmöglich vor.“
„Und wie sieht die Liebe aus? Also die echte Liebe? Wenn sie ein Wesen, ein Mensch wäre?“
Gedankenverloren schaut Mats auf den lehmigen Boden vor sich, lächelt kurz: „Ich hab gerade die unerwiderte Liebe vor Augen: Groß. Das Gesicht von dem Menschen, den man nicht haben kann, stark geschminkt. In den Händen eine Fliegenklatsche mit Nägeln dran.“
Maike schüttelt sich: „Bääh, nicht so was! Sag was über die echte Liebe!“
Er lacht kurz auf: „Okay“, fährt dann nachdenklich fort: „Sie ist normal groß, für mich eine Frau, kleiner als ich. Emphatisch. Verständnisvoll. Warmherzig. Steht sich nicht im Weg, kann Komplimente annehmen – bzw. wahre Aussagen über ihr Aussehen und Wesen. Sie ist nicht besonders auffällig gekleidet – im Gegensatz zur Lust mit ihren roten Lippen. Sie kann sich fallenlassen, macht sich keinen Kopf, ob ihr Hintern zu dick oder die Nase zu groß ist. Sie ist ein eher zartes Wesen, mit dem man behutsam umgehen sollte.“
Maike wartet ab, ob noch weitere Gedanken folgen, beobachtet ihn beim Nachdenken.
Mats schüttelt den Kopf: „Hmm, nein, das wars erstmal. Ach so: Liebe sollte sich nicht immer drei Jahre Zeit lassen“ – beide lachen. „Die Freundin von einer Freundin ist nach zwei Tagen Kennenlernen mit einem Mann zusammengezogen, die sind inzwischen glaube 20 Jahre verheiratet. Wenn die mir damals erzählt hätte, dass sie mit dem Typen zusammenziehen will nach nur zwei Tagen, hätte ich sie für verrückt erklärt – aber ab und zu scheint es so zu funktionieren. Hilft dir das alles weiter?“
Sie überlegt, der Blick wirkt positiv: „Ich guck mal. Können wir morgen nochmal hierher fahren und dann machen wir das mit Wut?“
Liebe, die stärkste Droge, die es gibt. Glaubst Du nicht? Verstehst Du Dich, wenn Du verliebt bist? Klicke hier, um zu einem PDF von „Quarks“ über die Biochemie der Liebe zu kommen. Und keine Angst: Du wirst die rosarote Brille nie verlieren.
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Wir sind Ruth und Knut. Nimm uns an die Hand und komm mit auf deine spannendeste, tränenreichste und lustigste Reise. Wir reißen Wunden auf und kleben nicht einfach ein Pflaster drüber, um unsere Besitzerin auf einen entspannten Weg durchs Leben zu ermöglichen.
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