Ich bin mit Ulli hier. Er ist tot.

Ich bin mit Ulli hier.

Mit meinem ehemaligen Mitschüler Ulli laufe ich durch ein großes Gebäude. An nichts ist zu sehen, was das für ein Bau ist, für mich fühlt es sich nach einer Klinik an. Wir gehen zu einem Fahrstuhl, locker-leicht, fahren eine Etage nach oben. Unser Ziel scheint eine Gruppentherapie zu sein, aber auch das fühlt sich recht ungewiss an. Ulli sieht in einem Nebengang wohl Kinderspielzeug, ausgelassen springt und läuft er in diese Richtung, so wie er zu Schulzeiten hin und wieder aus seinem Ernst ausgebrochen war. Ich gehe schmunzelnd weiter, freue mich, wie unbeschwert er ist. Mir geht durch den Kopf: „Ich bin mit Ulli hier.“ Doch so, wie ich mich von ihm entferne, schlägt der Gedanke plötzlich um: „Ulli ist tot! Er ist nicht hier. Aber ich bin mit ihm hier, mit seiner Geschichte.“ Tränen setzen sich in Bewegung.

Ich wachte leicht auf, die Tränen liefen auch in der Realität über meine Wangen. Obwohl ich eher schlief als wach war, nahm mich dieser Traum heftig mit.

Als ich am Morgen auf dem Klo saß und an den Traum dachte, kamen wieder die Tränen, der Gedanke: „Ich bin mit seiner Geschichte hier.“ Der Satz klang kitschig und furchtbar treffend zugleich.

Warum bin ich hier?

Dieses Hier war eine psychosomatische Klinik. Hier sollte herausgefunden werden, warum mein Körper seit 6 Jahren zu immer weniger zu gebrauchen ist. An Wanderungen 6-8 km täglich wie noch 6 Jahre zuvor war jetzt überhaupt nicht mehr zu denken, selbst ein halber Kilometer aller zwei Tage ließ meine Muskeln erschöpfen wie nach einem langen Marsch. Für mich war klar, dass es eine greifbare Diagnose geben muss, an Blutwerten oder anderen Messwerten ablesbar.

„Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden.“ So sagte es mir meine Psychologin irgendwann. Messbares werde man wohl nicht finden. Zu viel erlebt, zu viel gehört, zu viel an negativen Gefühlen, Emotionen. Zu viel Trauer, zu viel Enttäuschung, zu viel Hilflosigkeit, zu viel Ungerechtigkeitsempfinden.

In den 10 Jahren zuvor hatte ich viel zugehört und fühlte mich robust, das alles wegstecken zu können. Dutzende Geschichten von kaputten Kindheiten, die in psychische Erkrankungen führten. Es schien keinen Menschen zu geben ohne Depressionen, bipolare Störung, Selbstverletzungen, Suizidgedanken, narzisstischer Persönlichkeitsstörung, Angststörungen, Zwangsstörungen …

Ulli scheint die Sonne aus dem Hintern

Nur Ulli war anders. Dachte ich. 2018 sah ich ihn im Freibad. Mit muskelbepacktem Körper stieg er aus dem Wasser, mit gewinnendem Lächeln. Er war Chirurg, hatte Familie, war sicher finanziell gut abgesichert. Wenn es einer aus meiner Klasse auf die Sonnenseite des Lebens geschafft hatte, dann ganz sicher Ulli. Aber gut, er kam auch aus einem Elternhaus mit Chirurg und Lehrerin, als gute Startbedingungen.

Zwei Jahre später nahm sich Ulli aus dem Leben. Seine Schwester erzählte mir von der Kindheit der beiden – weitab der Sonnenseite. Gewalt, Manipulation, Leben unter zwei narzisstischen Elternteilen. Ullis Suizid sei seine erste freie Entscheidung gewesen, so seine Schwester.

Auf seinen Tod reagierte ich fassungslos, doch ohne Tränen. Das Jahr zuvor hatte mich in einen gefühlsmäßigen Sarkophag gesteckt, eine Serie von fünf dicken Einschlägen war zu viel für meinen Kopf. Trauer, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit – alles wurde immer wieder getriggert. Fünf Monate nach Ulli starb mein Onkel. Bei der Beisetzung fühlte ich mich völlig deplatziert. Während alle um mich herum tief bewegt waren, lief ich herum mit dem Gedanken: „Tja, so ist das Leben.“

Mein Sarkophag bricht auf

Du kannst nicht dauerhaft trauern, hilflos sein, enttäuscht vom Leben, wütend auf den, der deine Biografie so verfasst hat und auf jene, die den gleichen Scheiß der vorherigen Generationen einfach wiederholen. Also schaltet der Kopf auf „Annahmeschluss“ um. Die Gefühle und Emotionen werden weggedrückt – der Körper muss es ausbaden, weil es viel Energie frisst, den Sarkophag zu tragen.

„Ulli ist tot! Er ist nicht hier!“ – Dieser Traum ließ den Sarkophag brechen. An diesem Morgen brauchte ich nur an diese beiden Sätze denken und sofort regten sich die Gefühle.

Im Traum war ich mit Ulli gefühlt auf dem Weg in die Gruppentherapie. In der Realität stand diese an diesem Morgen tatsächlich auf dem Plan. Am Anfang fragte die Psychotherapeutin jedes Mal: „Wie geht es Ihnen heute?“ Meist setzte danach lange Stille ein, trotz um die zehn Menschen im Raum. Ich zögerte sehr lange, ob ich von dem Traum erzählen sollte. Mir war klar, dass das Erzählen vor zehn Leuten nicht ohne Tränen ablaufen würde. Vor den Tränen hatte ich weniger Angst als vor einem möglichen starken Dammbruch. Als Vierter rang ich mich nach langer Stille im Raum durch.

Ab dem Satz „Ich bin mit Ulli hier“ ging es nur noch unter Tränen weiter. Ja, ich war mit ihm hier und mit den Geschichten all der anderen. Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden. Als ich am Abend aufschrieb, was der Tag so gebracht hatte, wurden die Augen bei diesem Satz wieder ordentlich feucht.

Guckt hin! Hört zu!

Beim Schreiben versuchte ich mir selbst zu erklären, warum mich dieser Satz so mitnahm. Ich hatte viele Geschichten über die Jahre gehört, die ähnlich zum Kopfschütteln waren wie die von Ulli. Doch ihn kannte ich und wir hätten uns als Kinder darüber unterhalten können, dass uns ein wenig angenehmes Elternhaus verbindet. Damals glaubte ich, uns trennen Welten. Bei Ulli war auch der Kontrast zwischen dem, was man bei ihm sah – „Der MUSS auf der Sonnenseite des Lebens sein“ – und dem, was man nicht sah, am Größten.

All diese Geschichten hatten mich dazu gebracht, das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“ zu schreiben. In dieses Buch packte ich jene Gefühle, die ich abseits davon unter dem Sarkophag aus Beton eingepackt hatte: „Guckt doch hin! Hört zu! Dann wisst ihr, was in dieser Welt kaputt ist und repariert werden muss!“ Doch für das Buch fand sich kein Verlag. Und Ullis Tod veränderte nicht das Geringste. Kurz etwas Betroffenheit bei einigen Menschen und dann zurück zum Alltag. Keine Strafe für seine Eltern. Kein Lerneffekt für die nächsten Generationen. Selbst in meiner eigenen Familie werden neue Kinder in toxischen Beziehungen auf die Reise in Selbsthass, Depression, Selbstverletzung, Suizidgedanken geschickt. Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt, soll Gandhi gesagt haben.

Recht aufs Kaputtmachen

2014 hatte ich ein Foto von mir entdeckt, das mir ebenfalls Tränen in die Augen getrieben hatte. Auf dem Bild war ich vielleicht 4 Jahre alt, wirkte unbeschwert. Beim Betrachten dachte ich: „Wenn du wüsstest, was in den nächsten Jahren auf dich zukommt …“ Ich wollte dieses Kind beschützen, doch natürlich war es dafür zu spät. Genauso wenig kann ich heutige Kinder beschützen. In der ersten Gruppentherapie hatte ich gesagt, dass werdende Eltern ab dem Zeitpunkt, an dem die Schwangerschaft feststeht, psychologisch betreut werden sollten: Gibt es Auffälligkeiten, die einem Kind schaden werden? Die Mitpatienten stöhnten entsetzt auf. Mitpatienten, die alle in der Klinik waren, weil mindestens ein Elternteil in der Kindheit es aufgrund der eigenen psychischen Schieflage an Anerkennung, Zuneigung, Liebe vermissen ließ. Mitpatienten, denen regelmäßig die Tränen kamen, wenn sie über die eigenen Eltern sprachen – wenn überhaupt. Offenbar hat jede Generation aufs Neue ein Recht, die nächste Generation kaputtzumachen. Klar, weil ICH es ja bei MEINEN Kindern viel besser mache! Da brauche ich keinen Psychologen, der mich überwacht! Aus Opfern werden Täter.

Ulli ist tot. Er hat drei Kinder hinterlassen. Wer wird dafür sorgen, dass sie diesen Einschlag verkraften? Das regelt sich schon irgendwie, oder? Und wenn nicht, dann bleibt der Gang in die Klinik, wo sie sagen können: „Ich bin mit meinem Vater hier. Mein Vater ist tot.“

Mehr zu Ullis Geschichte.

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Jeder Mensch hat zwei Ohren. Nur was wir damit anfangen, ist recht unterschiedlich. Umso erleichternder ist es in Krisenzeiten, wenn du jemanden findest, der zuhören kann. In den letzten Jahren lernte ich, dass dies wohl meine Superkraft ist. Diese biete ich Dir hier an.

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1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.

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