Schlagwort: trauer

  • Zu Deinem 5. Todestag

    Zu Deinem 5. Todestag

    Ich bin mit Ulli hier.

    Ich laufe mit Ulli durch ein großes Gebäude. An nichts ist zu erkennen, was das für ein Bau ist, für mich fühlt es sich nach einer Klinik an. Wir gehen zu einem Fahrstuhl, locker-leicht, fahren eine Etage nach oben, steigen aus. Unser Ziel scheint eine Gruppentherapie zu sein, aber auch das fühlt sich recht ungewiss an. Ulli sieht in einem Nebengang Kinderspielzeug. Ausgelassen springt und läuft er in diese Richtung, so wie er zu Schulzeiten hin und wieder aus seinem Ernst ausgebrochen war. Ich gehe schmunzelnd weiter, freue mich, wie kindlich-unbeschwert er ist. Mir geht durch den Kopf: „Ich bin mit Ulli hier.“

    Doch so, wie ich mich von ihm Schritt für Schritt entferne, schlägt der Gedanke um: „Ulli ist tot! Er ist nicht hier. Aber ich bin mit ihm hier, mit seiner Geschichte.“ Tränen setzen sich in Bewegung.

    Ich werde leicht wach, die Tränen laufen auch in der Realität über meine Wangen. Obwohl ich eher schlafe als wach bin, nimmt mich dieser Traum mit.

    Als ich am Morgen auf dem Klo sitze und an den Traum denke, kommen sofort wieder die Tränen, beim Gedanken: „Ich bin mit seiner Geschichte hier.“ Der Satz klingt kitschig und furchtbar treffend zugleich.

    Warum bin ich hier?

    Dieses Hier ist tatsächlich eine psychosomatische Klinik. Hier soll herausgefunden werden, warum mein Körper seit 6 Jahren zu immer weniger zu gebrauchen ist. An Wanderungen 6-8 km täglich wie noch 6 Jahre zuvor ist jetzt überhaupt nicht mehr zu denken, selbst ein halber Kilometer aller zwei Tage lässt meine Muskeln erschöpfen wie nach einem langen Marsch. Genauso schnell erschöpfen die Arme, fühlen sich nach dem Pinseln einer kleinen Fläche an, als hätte ich reichlich Gewichte gestemmt.

    „Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden.“ So sagt es mir meine Psychologin. Messbares werde man wohl nicht finden. Zu viel erlebt, zu viel gehört, zu viel an negativen Gefühlen, Emotionen. Zu viel Trauer, zu viel Enttäuschung, zu viel Hilflosigkeit, zu viel Ungerechtigkeitsempfinden. Und von all diesen Gefühlen zu viele weggedrückt, was viel Energie verbraucht.

    In den 10 Jahren zuvor hatte ich viel zugehört und fühlte mich robust, das alles wegstecken zu können. Dutzende Geschichten von kaputten Kindheiten, die in psychische Erkrankungen führten. Es schien keinen Menschen zu geben ohne Depressionen, bipolare Störung, Selbstverletzungen, Suizidgedanken, narzisstischer Persönlichkeitsstörung, Angststörungen, Zwangsstörungen …

    Dir scheint die Sonne aus dem Hintern

    Nur bei Dir, Ulli, war alles anders. Dachte ich. 2018 sah ich Dich im Freibad. Mit muskelbepacktem Körper stiegst Du aus dem Wasser, mit gewinnendem Lächeln wie David Hasselhoff in „Baywatch“. Ich hab Dich beneidet: Als Chirurg hattest Du einen guten Job, dank dem Du Dir sicher keine finanziellen Sorgen machen brauchtest, Du hattest Familie und diesen Body. Dir stand die Welt offen. Wenn es einer aus unserer Klasse auf die Sonnenseite des Lebens geschafft hatte, dann ganz sicher Du. Aber klar, Du kamst aus einem Elternhaus mit Chirurg und Lehrerin, also gute Startbedingungen. Dachte ich.

    Zwei Jahre später hieß es im Dorfklatsch, Du seist tot, Suizid auf dem Gelände vom Freibad. Du, der doch auf der Sonnenseite warst. Auch wenn der Buschfunk teils wild danebenliegt – irgendwann war Dein Tod Tatsache. Ich habs nicht verstanden. Suizide haben eine lange Vorgeschichte, das war mir durch das Zuhören bei vielen Geschichten klar. Aber was soll bei Dir schon schiefgelaufen sein?!

    Ich fragte mich, warum Du mit Mitte 40 immer noch Wert gelegt hast auf diesen durchtrainierten Körper. Brauchtest Du ihn für Dein Ego? Es kostet gerade mit zunehmendem Alter viel Energie und Zeit, um so auszusehen, also muss es einen Grund gegeben haben. Wenn wir unseren Körper aufpeppen, ob durch Muskeln, Tattoos, OPs, Klamotten oder anderweitig, liegt so gut wie immer der Selbstwert im Argen. Aber Du warst doch auf der Sonnenseite?!

    Glauben heißt nicht Wissen

    Deine Schwester erzählte mir von eurer Kindheit – und da fand sich kein Fünkchen Sonnenseite. Gewalt, Manipulation, Leben unter zwei narzisstischen Elternteilen. Dein Suizid war Deine erste freie Entscheidung, so schrieb sie mir. Mit Bodybuilding hast Du als Teenager angefangen, um eine Chance gegen die Gewalt Deines Vaters zu haben. In der Zeit drückten wir die Schulbank, ich hielt Dein Fitnessprogramm damals einfach nur für „Das ist halt ein echter Kerl“.

    Auf Deinen Tod hab ich fassungslos reagiert, aber ohne Tränen. Das Jahr zuvor hatte mich in einen gefühlsmäßigen Sarkophag gesteckt, eine Serie von fünf dicken Einschlägen war zu viel für meinen Kopf. Trauer, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit – alles wurde immer wieder getriggert. Fünf Monate nach Dir starb mein Onkel. Bei der Beisetzung fühlte ich mich völlig deplatziert. Während alle um mich herum tief bewegt waren, lief ich herum mit dem Gedanken: „Tja, so ist das Leben.“

    Mein Sarkophag bricht auf

    „Ulli ist tot! Er ist nicht hier!“ – Dieser Traum riss den Sarkophag für eine kurze Zeit auf, drei Jahre nach Deinem Tod. Am Tag nach dem Traum brauchte ich nur an diese beiden Sätze denken und sofort regten sich die Gefühle. „Ich bin mit seiner Geschichte hier.“ Als ich in der realen Gruppentherapie von dem Traum erzählte, waren die Tränen schnell wieder da.

    Deine Schwester hatte zu der Zeit schon so einige Gruppen- und Einzelsitzungen hinter sich. Sie konnte Deine Geschichte nicht von sich aus in ihrer Gruppe erzählen. Das, was sie mir über euch geschrieben hatte, hatte ich in ein Kapitel meines Buches über die Entstehung von psychischen Erkrankungen gepackt. Durch das Vorlesen dieses Kapitel konnte sie doch noch das erzählen, was in euren Kinderzimmern passiert war.

    Nichts gelernt

    Seit Deinem Tod sind nun fünf Jahr vergangen. In fünf Jahren Schule haben wir eine Menge gelernt, Schreiben, Rechnen. Wenn ich an Deinem Grab stehe, wenige Meter entfernt von der Friedhofskapelle, sage ich Dir: „Wir haben nichts aus Deinem Tod gelernt.“ Rein gar nichts. Keiner fragt, wie Dein Tod hätte verhindert werden können. Du hattest halt irgendwelche Probleme mit Dir selbst.

    In einer Gruppentherapiesitzung hatte ich gesagt, dass werdende Eltern ab dem Zeitpunkt der Feststellung einer Schwangerschaft psychologisch betreut werden sollten bis das Kind 16 oder 18 ist. Die Mitpatienten waren alle in der Klinik, weil sie als Kind auf irgendeine Weise von ihren Eltern verletzt wurden; Gewalt, Vernachlässigung, „Er war nicht da“. Um die Kindheit und um die Eltern drehte sich praktisch alles. Sie alle wussten also, an welchem Ort Depressionen, Selbstzweifel usw. geboren werden, all die Dinge, die ihnen das Leben schwer bis nicht lebenswert machen. Die Reaktionen auf meinen Lösungsvorschlag: Entsetzen. Offenbar hat jede Generation aufs Neue das Recht, die eigenen Verletzungen aus der Kindheit eigenen Kindern zu vererben.

    Unsere Väter regieren die Welt

    Klar, Narzissmus gilt als schwer bis nicht „heilbar“. Auch wenn eure Eltern von Psychologen über viele Jahre unter die Lupe genommen worden wären und es Therapieversuche gegeben hätte, hättet ihr wohl Narben abbekommen. Narzissten machen keine Fehler, da wären sich unsere Väter wohl sehr nah gewesen. Auch beim abwertenden Umgang mit Frauen und den eigenen Kindern hätten sie sich bestens verstanden. Empathie war für beide ein völliges Fremdwort. Sie haben beide ihre Vorgeschichte. Die Verletzungen in der Kindheit meines Vaters kenne ich in Umrissen, bei euren Eltern wird es ebenfalls eine Vorgeschichte geben. Ziel sollte es sein, von Generation zu Generation weniger Narben zu vererben. Aber wir machen nichts. Rein gar nichts.

    Stattdessen bekommen Kopien unserer Väter viel Beifall. Männer, die von jeglicher Empathie befreit sind, niemals eigene Fehlern sehen und despotisch herrschen, übernehmen immer mehr die Macht in dieser Welt. Und Frauen, bei denen es ebenfalls enorm nach starkem Narzissmus riecht, machen tatkräftig mit. Ich beneide Dich, dass Du Dir das nicht mehr antun brauchst. Ich weiß nicht, ob es Dich bewusst oder unterbewusst so triggern würde wie mich. Stell Dir vor, 50% der US-Bevölkerung hätten einen unserer Väter zum Präsidenten gewählt, freiwillig. Wir hätten ihnen sagen können, dass diese Männer Gift sind, was sie alles angerichtet haben – die 50% hätten in ihnen trotzdem kein Problem gesehen, sie als Macher gefeiert, in ihnen Problemlöser gesehen und nicht Menschen, denen es einzig und allein um sich selbst geht.

    Babys sind die Lösung meiner Probleme

    Dieses Augen öffnen funktioniert auch nicht innerhalb meiner Familie. Wieder werden Kinder in toxischen Beziehungen gezeugt. „Jetzt bin ich dran, glücklich zu werden! Ich hab aus meiner Kindheit gelernt und mache bestimmt nicht die gleichen Fehler.“ Ich sehe in meiner Familie keinerlei Willen, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen. Schließlich sind da die kleinen Püppchen, mit denen man spielen kann. „Endlich ist da die Tochter, die ich nie hatte.“ Verdrängung, Unwissenheit, Lernunfähigkeit.

    In unserer Kindheit gab es die Bezeichnung „toxische Beziehung“ noch lange nicht, aber wir sind das Ergebnis eben solcher. Wir wissen, was das mit Kindern macht, wie kalt es sich anfühlt, wie es sich auf das ganze Leben auswirkt, wie es einen kaputtmachen kann.

    Aber Du weißt ja selbst, auf welche Weise Frauen sich ihren Kinderwunsch erfüllen. Du wolltest nie Kinder, weil Du davon ausgegangen bist, angesichts Deiner Kindheit kein guter Vater werden zu können. Hinterlassen hast Du drei Halbwaisen. Sie tragen nun die neuen Narben durch Deine Abwesenheit. Und sie tragen Narben durch ihre Mütter, die heimlich die Pille abgesetzt haben oder die Dich auf andere Weise zum Vater machten. Klar, Du hättest einfach nur die Finger oder andere Körperteile von ihnen lassen brauchen, Du hättest einfach nur vernünftig sein müssen. Das würden Dir eine Menge Menschen sagen, die selbst die unvernünftigsten Dinge machen und nichts aus ihrer eigenen Geschichte gelernt haben. Dass Du vielleicht einfach nur die Leichtigkeit des Seins gesucht hast nach dieser tonnenschweren Kindheit – egal.

    Der Schutz des Lebens

    Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention rät zum vorsichtigen Umgang mit dem Thema Suizid: „So wichtig der Investigativ-Journalismus ist, der Schutz von Leben hat stets Vorrang vor einer umfassenden, alle Fakten und Facetten beschreibenden Berichterstattung.“

    Das erinnert mich an Sätze am Anfang der Corona-Pandemie. Da hieß es immer wieder von Politikern: „Nichts ist so wichtig wie die Gesundheit der Menschen.“ So wie mit psychisch Erkrankten umgegangen wird, empfinde ich den Satz immer wieder als Höchstmaß des Zynismus.

    In der Klinik lernte ich Meggie kennen. Seit wenigen Wochen ist sie wieder stationär, wegen akuter Suizidgedanken. Der Umgang mit ihr in der Klinik ist recht unterschiedlich. „Der Schutz von Leben hat stets Vorrang“ scheint nicht von allen so geteilt zu werden. Ich sehe kein übermäßiges Interesse, dass sie noch lange unter den Lebenden bleibt. Würde sie es Dir gleichtun, dann wäre es halt so. Man kann ja nicht alle retten.

    Nein, wir haben nichts gelernt und ich sehe auch keinen Willen, die Kurve zu kriegen. Dadurch ist es für mich sehr schwer, meinem Buch mit eurer und meiner Geschichte und denen vieler anderer doch noch Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Auch wenn ich mir meiner Sache extrem sicher bin – sonst hätte ich es nicht veröffentlicht: Ich habe Angst vor dem Abwinken, vor „So schlimm ist das ja nicht“, vor dem Verdrängen, vor „Erziehung ist Privatsache, da hat sich der Staat rauszuhalten.“

    Es ist aber keine Privatsache. Die Rettungskräfte, die Dich gefunden haben, werden die Bilder wohl noch immer vor Augen haben, wenn auch inzwischen verschwommener. Deine Kinder werden auf irgendeine Weise zu Tätern an sich selbst und/oder an anderen werden und ihre Narben weiterreichen. Nur wenn sie auf einer einsamen Insel, jedes für sich, aufwachsen würden, wäre es Privatsache. Deine Schwester wird weiter mit den Narben ihrer Kindheit zu kämpfen haben, genauso mit den Narben, die mit Deinem Tod entstanden sind.

    Ich möchte nur die Welt retten

    Also bleibt mein Plan trotz aller Befürchtungen: Ich werde per Crowdfunding Geld für Werbung sammeln, um dem Buch Aufmerksamkeit zu verschaffen und vielleicht doch etwas in Bewegung zu setzen, die Lernbehinderung zu beenden. Wenn ich an Deinem Grab stehe, ist der Kampfgeist deutlich größer als wenn ich am Computer sitze und die Aktion starten könnte. Vielleicht finde ich Menschen, die mir Arme und Beine stärken. Die müssen nicht so muskulös sein wie Deine. Irgendwo sitzt gerade sicher wieder ein Teenager im Kraftraum, pumpt sich auf. Wieder werden andere glauben, er mache das nur, um zu posen. Wieder kann die wahre Geschichte dahinter eine ganz andere sein. Wieder kann die Geschichte eines Tages vorzeitig enden. Wieder würden Narben vererbt. Wieder würde ein Grabstein stehen. Wieder würde an dem Grab jemand stehen, voller Wut, Trauer, Ungerechtigkeitsempfinden, Hilflosigkeit. Wieder würde jemand all diese Gefühle unterdrücken müssen, um nicht die ganze Welt zusammenzuschreien, so dass die Ohren bluten.

    Falls Du jetzt in einem Paralleluniversum unbeschwert durch die Gegend läufst und springst und irgendwelche Fäden zu diesem Universum hier hast: Zieh bitte paar davon, um mich zu unterstützen. Falls das egozentrisch klingt: Meine Therapeutin sagte, ich soll mehr an mich selbst denken.

    Falls Du einfach nur Asche bist: Es hätte nicht sein müssen.

    Weitere Tagebuchseiten, in die Du gern reinschauen darfst:

    Du & ich

    Du & ich

    In einem liegen wir gerade lachend im Schnee, in einem anderen lehnt dein Kopf an meinem. In einem bist du Papst und ich dein Leibwächter, in einem anderen sind die Rollen vertauscht.

    Brief an Dich

    Brief an Dich

    Du trägst mich auf deinen Schultern durch gute und schlechte Zeiten. Wir haben keine Liebesbeziehung, sind eine Zweckgemeinschaft mit gewissen Vorzügen.

    Ein Witz

    Ein Witz

    In mitten des Ozeans sinkt nach heftigen Stürmen ein Boot ganz langsam. Der Mann darin ist erschöpft, er bekommt den Kahn einfach nicht mehr leer, so sehr er sich bemüht.Ein zweites Boot nähert sich, der Mann schöpft Hoffnung – Rettung in Sicht nach langer Zeit.Der andere Mann kommt immer näher, grüßt kurz, schaut: „Ich bin […]

    Der Stein vor mir.

    Der Stein vor mir.

    Vor mir liegt ein Stein. Kein kleiner Kiesel. Er lässt mich nicht vorwärts kommen – oder schützt er mich?

    Mein liebes Leben

    Mein liebes Leben

    Wir hatten es selten leicht miteinander, du und ich. Von Liebesbeziehung konnte kaum die Rede sein, mein liebes Leben.

    Hör auf mit dem Scheiß

    Hör auf mit dem Scheiß

    Wenn dein Ego nie wachsen konnte, ist es dir eben egal, wie ehrlich ein „Ich liebe dich“ ist. Hauptsache, du bekommst es zu hören.

    Von Worten und Narben

    Von Worten und Narben

    „Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten nach unten, als sie in ihrer Freude die Hände noch oben riss.
    Er sah ihre Narben am Handgelenk …“ – Wie geht es wohl weiter?

    Mein Beileid (für die Angehörigen)

    Mein Beileid (für die Angehörigen)

    „Wie konnte sie nur? Ja, ihr ging es dreckig, aber was sollten wir denn machen? Mein tiefempfundenes Beileid. Sag´ Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt muss ich erstmal los.“

    Lady in Red

    Lady in Red

    Im dunklen Wasser des kleinen Sees versinken Nachtgedanken, heißt es. Doch aus ihm können auch zauberhafte Wesen steigen.

    Ich bin tot.

    Ich bin tot.

    Ich hab´s geschafft: Ich bin tot. Endlich kann ich machen, was mir Freude am Leben gibt.

    Du brauchst ein offenes Ohr?

    Jeder Mensch hat zwei Ohren. Nur was wir damit anfangen, ist recht unterschiedlich. Umso erleichternder ist es in Krisenzeiten, wenn du jemanden findest, der zuhören kann. In den letzten Jahren lernte ich, dass dies wohl meine Superkraft ist. Diese biete ich Dir hier an.

    #MeineStimmeGegenIgnoranz

    #MeineStimmegegenIgnoranz – leise Version
    MeineStimmegegenIgnoranz – laute Version

    1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.

    Die Familie – Erfahre mehr über uns.

    2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beileid (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) einsamkeit (1) falsche Vorbilder (1) fightforlove (1) freiheit (2) geduld (1) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) Journalismus (5) Kindheit (5) liebe (2) macht der worte (1) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) mitgefühl (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstbewusstsein (1) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) suizidgedanken (1) tot (3) trauer (2) Vater & Sohn (2) verrückt (22) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) vertrauen (1) wird nicht besser (3) zu spät (1)

  • Ich bin mit Ulli hier. Er ist tot.

    Ich bin mit Ulli hier. Er ist tot.

    Ich bin mit Ulli hier.

    Mit meinem ehemaligen Mitschüler Ulli laufe ich durch ein großes Gebäude. An nichts ist zu sehen, was das für ein Bau ist, für mich fühlt es sich nach einer Klinik an. Wir gehen zu einem Fahrstuhl, locker-leicht, fahren eine Etage nach oben. Unser Ziel scheint eine Gruppentherapie zu sein, aber auch das fühlt sich recht ungewiss an. Ulli sieht in einem Nebengang wohl Kinderspielzeug, ausgelassen springt und läuft er in diese Richtung, so wie er zu Schulzeiten hin und wieder aus seinem Ernst ausgebrochen war. Ich gehe schmunzelnd weiter, freue mich, wie unbeschwert er ist. Mir geht durch den Kopf: „Ich bin mit Ulli hier.“ Doch so, wie ich mich von ihm entferne, schlägt der Gedanke plötzlich um: „Ulli ist tot! Er ist nicht hier. Aber ich bin mit ihm hier, mit seiner Geschichte.“ Tränen setzen sich in Bewegung.

    Ich wachte leicht auf, die Tränen liefen auch in der Realität über meine Wangen. Obwohl ich eher schlief als wach war, nahm mich dieser Traum heftig mit.

    Als ich am Morgen auf dem Klo saß und an den Traum dachte, kamen wieder die Tränen, der Gedanke: „Ich bin mit seiner Geschichte hier.“ Der Satz klang kitschig und furchtbar treffend zugleich.

    Warum bin ich hier?

    Dieses Hier war eine psychosomatische Klinik. Hier sollte herausgefunden werden, warum mein Körper seit 6 Jahren zu immer weniger zu gebrauchen ist. An Wanderungen 6-8 km täglich wie noch 6 Jahre zuvor war jetzt überhaupt nicht mehr zu denken, selbst ein halber Kilometer aller zwei Tage ließ meine Muskeln erschöpfen wie nach einem langen Marsch. Für mich war klar, dass es eine greifbare Diagnose geben muss, an Blutwerten oder anderen Messwerten ablesbar.

    „Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden.“ So sagte es mir meine Psychologin irgendwann. Messbares werde man wohl nicht finden. Zu viel erlebt, zu viel gehört, zu viel an negativen Gefühlen, Emotionen. Zu viel Trauer, zu viel Enttäuschung, zu viel Hilflosigkeit, zu viel Ungerechtigkeitsempfinden.

    In den 10 Jahren zuvor hatte ich viel zugehört und fühlte mich robust, das alles wegstecken zu können. Dutzende Geschichten von kaputten Kindheiten, die in psychische Erkrankungen führten. Es schien keinen Menschen zu geben ohne Depressionen, bipolare Störung, Selbstverletzungen, Suizidgedanken, narzisstischer Persönlichkeitsstörung, Angststörungen, Zwangsstörungen …

    Ulli scheint die Sonne aus dem Hintern

    Nur Ulli war anders. Dachte ich. 2018 sah ich ihn im Freibad. Mit muskelbepacktem Körper stieg er aus dem Wasser, mit gewinnendem Lächeln. Er war Chirurg, hatte Familie, war sicher finanziell gut abgesichert. Wenn es einer aus meiner Klasse auf die Sonnenseite des Lebens geschafft hatte, dann ganz sicher Ulli. Aber gut, er kam auch aus einem Elternhaus mit Chirurg und Lehrerin, als gute Startbedingungen.

    Zwei Jahre später nahm sich Ulli aus dem Leben. Seine Schwester erzählte mir von der Kindheit der beiden – weitab der Sonnenseite. Gewalt, Manipulation, Leben unter zwei narzisstischen Elternteilen. Ullis Suizid sei seine erste freie Entscheidung gewesen, so seine Schwester.

    Auf seinen Tod reagierte ich fassungslos, doch ohne Tränen. Das Jahr zuvor hatte mich in einen gefühlsmäßigen Sarkophag gesteckt, eine Serie von fünf dicken Einschlägen war zu viel für meinen Kopf. Trauer, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit – alles wurde immer wieder getriggert. Fünf Monate nach Ulli starb mein Onkel. Bei der Beisetzung fühlte ich mich völlig deplatziert. Während alle um mich herum tief bewegt waren, lief ich herum mit dem Gedanken: „Tja, so ist das Leben.“

    Mein Sarkophag bricht auf

    Du kannst nicht dauerhaft trauern, hilflos sein, enttäuscht vom Leben, wütend auf den, der deine Biografie so verfasst hat und auf jene, die den gleichen Scheiß der vorherigen Generationen einfach wiederholen. Also schaltet der Kopf auf „Annahmeschluss“ um. Die Gefühle und Emotionen werden weggedrückt – der Körper muss es ausbaden, weil es viel Energie frisst, den Sarkophag zu tragen.

    „Ulli ist tot! Er ist nicht hier!“ – Dieser Traum ließ den Sarkophag brechen. An diesem Morgen brauchte ich nur an diese beiden Sätze denken und sofort regten sich die Gefühle.

    Im Traum war ich mit Ulli gefühlt auf dem Weg in die Gruppentherapie. In der Realität stand diese an diesem Morgen tatsächlich auf dem Plan. Am Anfang fragte die Psychotherapeutin jedes Mal: „Wie geht es Ihnen heute?“ Meist setzte danach lange Stille ein, trotz um die zehn Menschen im Raum. Ich zögerte sehr lange, ob ich von dem Traum erzählen sollte. Mir war klar, dass das Erzählen vor zehn Leuten nicht ohne Tränen ablaufen würde. Vor den Tränen hatte ich weniger Angst als vor einem möglichen starken Dammbruch. Als Vierter rang ich mich nach langer Stille im Raum durch.

    Ab dem Satz „Ich bin mit Ulli hier“ ging es nur noch unter Tränen weiter. Ja, ich war mit ihm hier und mit den Geschichten all der anderen. Was der Kopf nicht verarbeiten kann, muss der Körper ausbaden. Als ich am Abend aufschrieb, was der Tag so gebracht hatte, wurden die Augen bei diesem Satz wieder ordentlich feucht.

    Guckt hin! Hört zu!

    Beim Schreiben versuchte ich mir selbst zu erklären, warum mich dieser Satz so mitnahm. Ich hatte viele Geschichten über die Jahre gehört, die ähnlich zum Kopfschütteln waren wie die von Ulli. Doch ihn kannte ich und wir hätten uns als Kinder darüber unterhalten können, dass uns ein wenig angenehmes Elternhaus verbindet. Damals glaubte ich, uns trennen Welten. Bei Ulli war auch der Kontrast zwischen dem, was man bei ihm sah – „Der MUSS auf der Sonnenseite des Lebens sein“ – und dem, was man nicht sah, am Größten.

    All diese Geschichten hatten mich dazu gebracht, das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“ zu schreiben. In dieses Buch packte ich jene Gefühle, die ich abseits davon unter dem Sarkophag aus Beton eingepackt hatte: „Guckt doch hin! Hört zu! Dann wisst ihr, was in dieser Welt kaputt ist und repariert werden muss!“ Doch für das Buch fand sich kein Verlag. Und Ullis Tod veränderte nicht das Geringste. Kurz etwas Betroffenheit bei einigen Menschen und dann zurück zum Alltag. Keine Strafe für seine Eltern. Kein Lerneffekt für die nächsten Generationen. Selbst in meiner eigenen Familie werden neue Kinder in toxischen Beziehungen auf die Reise in Selbsthass, Depression, Selbstverletzung, Suizidgedanken geschickt. Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt, soll Gandhi gesagt haben.

    Recht aufs Kaputtmachen

    2014 hatte ich ein Foto von mir entdeckt, das mir ebenfalls Tränen in die Augen getrieben hatte. Auf dem Bild war ich vielleicht 4 Jahre alt, wirkte unbeschwert. Beim Betrachten dachte ich: „Wenn du wüsstest, was in den nächsten Jahren auf dich zukommt …“ Ich wollte dieses Kind beschützen, doch natürlich war es dafür zu spät. Genauso wenig kann ich heutige Kinder beschützen. In der ersten Gruppentherapie hatte ich gesagt, dass werdende Eltern ab dem Zeitpunkt, an dem die Schwangerschaft feststeht, psychologisch betreut werden sollten: Gibt es Auffälligkeiten, die einem Kind schaden werden? Die Mitpatienten stöhnten entsetzt auf. Mitpatienten, die alle in der Klinik waren, weil mindestens ein Elternteil in der Kindheit es aufgrund der eigenen psychischen Schieflage an Anerkennung, Zuneigung, Liebe vermissen ließ. Mitpatienten, denen regelmäßig die Tränen kamen, wenn sie über die eigenen Eltern sprachen – wenn überhaupt. Offenbar hat jede Generation aufs Neue ein Recht, die nächste Generation kaputtzumachen. Klar, weil ICH es ja bei MEINEN Kindern viel besser mache! Da brauche ich keinen Psychologen, der mich überwacht! Aus Opfern werden Täter.

    Ulli ist tot. Er hat drei Kinder hinterlassen. Wer wird dafür sorgen, dass sie diesen Einschlag verkraften? Das regelt sich schon irgendwie, oder? Und wenn nicht, dann bleibt der Gang in die Klinik, wo sie sagen können: „Ich bin mit meinem Vater hier. Mein Vater ist tot.“

    Mehr zu Ullis Geschichte.

    Weitere Tagebuchseiten, in die Du gern reinschauen darfst:

    Du & ich

    Du & ich

    In einem liegen wir gerade lachend im Schnee, in einem anderen lehnt dein Kopf an meinem. In einem bist du Papst und ich dein Leibwächter, in einem anderen sind die Rollen vertauscht.

    Brief an Dich

    Brief an Dich

    Du trägst mich auf deinen Schultern durch gute und schlechte Zeiten. Wir haben keine Liebesbeziehung, sind eine Zweckgemeinschaft mit gewissen Vorzügen.

    Ein Witz

    Ein Witz

    In mitten des Ozeans sinkt nach heftigen Stürmen ein Boot ganz langsam. Der Mann darin ist erschöpft, er bekommt den Kahn einfach nicht mehr leer, so sehr er sich bemüht. Ein zweites Boot nähert sich, der Mann schöpft Hoffnung – Rettung in Sicht nach langer Zeit. Der andere Mann kommt immer näher, grüßt kurz, schaut: […]

    Der Stein vor mir.

    Der Stein vor mir.

    Vor mir liegt ein Stein. Kein kleiner Kiesel. Er lässt mich nicht vorwärts kommen – oder schützt er mich?

    Mein liebes Leben

    Mein liebes Leben

    Wir hatten es selten leicht miteinander, du und ich. Von Liebesbeziehung konnte kaum die Rede sein, mein liebes Leben.

    Hör auf mit dem Scheiß

    Hör auf mit dem Scheiß

    Wenn dein Ego nie wachsen konnte, ist es dir eben egal, wie ehrlich ein „Ich liebe dich“ ist. Hauptsache, du bekommst es zu hören.

    Von Worten und Narben

    Von Worten und Narben

    „Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten nach unten, als sie in ihrer Freude die Hände noch oben riss.
    Er sah ihre Narben am Handgelenk …“ – Wie geht es wohl weiter?

    Mein Beileid (für die Angehörigen)

    Mein Beileid (für die Angehörigen)

    „Wie konnte sie nur? Ja, ihr ging es dreckig, aber was sollten wir denn machen? Mein tiefempfundenes Beileid. Sag´ Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt muss ich erstmal los.“

    Lady in Red

    Lady in Red

    Im dunklen Wasser des kleinen Sees versinken Nachtgedanken, heißt es. Doch aus ihm können auch zauberhafte Wesen steigen.

    Ich bin tot.

    Ich bin tot.

    Ich hab´s geschafft: Ich bin tot. Endlich kann ich machen, was mir Freude am Leben gibt.

    Du brauchst ein offenes Ohr?

    Jeder Mensch hat zwei Ohren. Nur was wir damit anfangen, ist recht unterschiedlich. Umso erleichternder ist es in Krisenzeiten, wenn du jemanden findest, der zuhören kann. In den letzten Jahren lernte ich, dass dies wohl meine Superkraft ist. Diese biete ich Dir hier an.

    #MeineStimmeGegenIgnoranz

    #MeineStimmegegenIgnoranz – leise Version
    MeineStimmegegenIgnoranz – laute Version

    1,9 Millionen unserer erwachsen gewordenen Kinder verlassen offiziell psychisch kaputt ihr Elternhaus – und es ist uns egal. 28% der Erwachsenen insgesamt gelten als psychisch erkrankt – und es ist kein Thema. Die Gründe für diese Zahlen erklären aber, was mit dieser Welt nicht stimmt. Deshalb braucht das Thema psychische Gesundheit endlich maximale Aufmerksamkeit. Ich wäre Dir wirklich dankbar, wenn Du mit auf die Pauke hauen würdest, denn allein packe ich es nicht. Auch wenn du „nur“ Teil des Chors sein möchtest, dich in den hinteren Reihen verstecken möchtest oder dir die Kraft fehlt zum lauten Singen: absolut kein Problem. Hauptsache, du bist auf irgendeine Weise anwesend. Auch wenn du nur als Teil der Abonnentenzahl auftauchst, ist dem Thema geholfen.

    Die Familie – Erfahre mehr über uns.

    2020 (2) 2022 (2) 2024 (2) Aluthutträger (2) Aurelie Joie (10) Ballast (2) beileid (1) bipolare störung (3) bipolare Sörung (2) corona (3) Covidioten (2) Depression (4) einsamkeit (1) falsche Vorbilder (1) fightforlove (1) freiheit (2) geduld (1) gefühle (10) gendern (4) Hass (3) hilflosigkeit (3) Journalismus (5) Kindheit (5) liebe (2) macht der worte (1) manie (3) meinestimmegegenignoranz (19) missbrauch (2) mitgefühl (1) narzisst (5) Politiker (3) psychische Erkrankungen (11) selbstbewusstsein (1) selbstverletzung (2) selbstzweifel (2) suizidgedanken (1) tot (3) trauer (2) Vater & Sohn (2) verrückt (22) verschwörungsmythen (3) verständnis (4) vertrauen (1) wird nicht besser (3) zu spät (1)