Erklär mir Gefühle: Wehmut

Die letzte Nacht in der Klinik war eine unruhige für Mats. Jetzt sitzt er in der letzten Therapie: Gestaltung. Ein Thema ist nicht vorgegeben, jeder darf seinen Gefühlen freien Lauf lassen – oder sich einfach irgendwie beschäftigen. Schwer vorhandener Zugriff auf Gefühle ist das Dauerthema der Patienten. Maike sitzt wieder neben Mats, schweigsam.

Mats wird erst jetzt so richtig bewusst, dass sein Alltag der letzten 8 Wochen morgen vorbei sein wird. Er wird sich nicht mehr einfach mit jemanden zusammensetzen können, um über Erlebtes und Gedanken zu sprechen, weit weg von Smalltalk. Es wird kein „Spielen wir vier nach dem Abendbrot noch was?“ mehr geben, kein spontanes „Kommst du mit?“, keine Momente mit Jugendzeltlager-Atmosphäre. Hier hatte niemand außerhalb der Therapien Verpflichtungen, hier konnte es kein „Sorry, kann nicht, Kind ist krank“ geben.

Und in einer solchen Klinik herrscht die Blase, die fast alle psychisch Angeschlagenen nach ihrer Entlassung einige Wochen lang wehmütig vermissen. In der Klinik finden sich immer andere, die verstehen, warum es einem überhaupt nicht gut geht, weil sie es aus erster Hand kennen. Hier gibt es kein „Ach, du musst doch nur …“ Hier ist immer ein Profi erreichbar: Ärzte, Therapeuten, Schwestern, auch mitten in der Nacht. Ob Angst- oder Panikattacke – du musst nicht allein da durch. Dich frisst etwas auf? Dann findest du zeitnah mit großer Sicherheit ein offenes Ohr.

Ja, pure Harmonie findest du auf Station nicht. Jeder hat seinen Trigger. Da reicht der scheinbar aggressive Gang eines Mannes, damit sich Frauen unwohl fühlen, weil sie Aggressionen aus ihrer Kindheit kennen. Erst als sie hören, dass er selbst Opfer von Gewalt war, können sie sich in seiner Gegenwart entspannen – wenn auch nicht jede. Würde es Harmonie pur hier geben, wäre die Blase noch dicker und das Verlassen noch schwieriger. Reibung ist erwünscht – wird aber bei nächster Gelegenheit angesprochen unter therapeutischer Anleitung. Draußen zeigt man sich gegenseitig den Vogel oder schluckt seinen Ärger tief runter, bis man in der Klinik landet.

Mats hat einen Plan, was er in seiner letzten Therapie zeichnen will. In seinem Rucksack hatte er beim Packen seiner Sachen einen kleinen Stein gefunden, den er an jenem Abend vom See mitgenommen hatte, als er das erste Mal dort mit Maike gesessen hatte. Er legt ihn vor sich auf den Tisch, holt sein Handy raus, sucht ein Foto vom See mit dem Regenbogen.

Maike schaut sich den Stein an: „Was machst du?“

„Das Bild, was ich jetzt male, wird eh nicht mehr trocknen, bevor ich gehe. Ich will den See malen und den Stein klebe ich mit Spachtelmasse aufs Blatt – keine Ahnung, ob er hält. Wenn du willst, kannst du das Bild dann haben, ich sag der Therapeutin Bescheid.“

„Dann male ich auch den See.“

Beide vertiefen sich in ihre Bilder, schauen hin und wieder auf das Blatt des anderen, tauschen Farben aus. Mats hat es eilig, er muss es heute zu Ende bringen, es gibt kein „Mach ich beim nächsten Mal fertig“ mehr.

Die 75 Minuten sind vorbei, die Bilder sind fertig – wobei Mats noch einiges an Verbesserungsmöglichkeiten bei seinem Gemälde sieht. Maike tut sich gewohnt schwer, ihr Bild als „Das bleibt jetzt so“ beiseite zu legen. Während Mats wie zuletzt oft leuchtend-bunte Farben verwendet hat, wirkt Maikes Bild auf ihn melancholisch. Er fühlt sich an den Herbst erinnert, wenn die Bäume ihre bunten Blätter abgeworfen haben, die Farben sich verwaschen an eher grauen Tagen und Wehmut sich ausbreitet. Ja, du weißt, dass der nächste Sommer kommt, aber von dem gerade vergangenen musst du Abschied nehmen. Und bis zum nächsten gilt es, erst einmal den Winter zu überstehen mit seinen kurzen Tagen und langen Nächten.

Sie verlassen den Raum. Eine Stunde ist noch Zeit bis zum Mittagessen, danach will Mats die Heimreise antreten – irgendwann muss es ja sein, so denkt er.

„Ich muss noch dieses Entlass-Dingens abholen im Hauptgebäude und will danach dem Garten Auf Wiedersehen sagen. Willst du mit?“

Maike ist dabei. Ob sie ahnt, dass Mats einfach noch einmal mit ihr Zeit verbringen will?

Um den Garten auf dem Klinikgelände hatte sich Mats in den letzten Wochen gekümmert. Früher war dieser Garten Teil von Therapien, jetzt schaute oft nur eine Ehrenamtliche ab und zu nach dem Rechten. Viel Liebe hatten die Rabatten in letzter Zeit nicht abbekommen, zumindest sah es Mats so, als er den Garten zum ersten Mal sah. Als ein Therapeut fragte, ob sich jemand um den Garten kümmern könnte, ging Mats´ Arm schnell nach oben. So hatte er ein Ziel, konnte etwas machen, bei dem der Kopf mal nicht in Dauerschleifen denken musste. Als er zwei Tage vor seinem Abschied ein letztes Mal Unkraut entfernt hatte, um „seinen“ Garten besenrein abgeben zu können, hatte sich Maike mit einem Buch auf die Bank ein Stück abseits gesetzt, ohne dass es Mats gleich bemerkt hatte.

In einem Beutel in Mats´ Hand klirren Scherben. Maike hatte am Vorabend für diese gesorgt, als sie ein Fenster öffnen wollte und sie die Kraft der Zugluft unterschätzt hatte – der Blumentopf gab beim Kontakt mit dem Fußboden nach. Jetzt setzen die beiden die Scherben in eine der Rabatten – und rätseln, wie lange sie wohl dort bleiben dürfen. „Aus versicherungstechnischen Gründen …“ war ein Standardsatz in der Klinik, der teils absurd anmutende Grenzen für die Patienten setzte. Scharfkantige Tonscherben in freier Natur?! Die Chance, dass sich Maike und Mats hier lange verewigen können, erscheint gering.

Dennoch arrangieren sie die Scherben mit Geduld – und Wehmut. Diese herrscht im Kopf von Mats auch, als er seinen Blick noch einmal über all die Rosen, Beerensträucher, großen und kleinen Stauden, Blumen und Kräuter wandern lässt: „Ich hoffe, jemand kümmert sich um euch … Wäre schade, wenn die Arbeit umsonst gewesen wäre …“

Maike fragt, ob er Fotos von sich im Garten hat, Mats verneint. Sie nimmt sein Handy, er posiert. Die Stimmung hellt sich vorübergehend auf. Noch einmal fragt sie ihn, ob er wirklich heute gehen will. „Ich muss ja …“, antwortet er lächelnd-melancholisch.

Sie laufen zurück, Zeit zum Mittagessen. Mats holt noch kurz etwas aus seinem Zimmer, geht in den Speiseraum, setzt sich wie immer schräg gegenüber von Maike. Sein Blick wandert schnell durch den Raum, alle sind mit Essen beschäftigt. Sein Arm geht Richtung Maike, seine Hand ist geschlossen. Mit Blicken verständigen sie sich. So hält sie ihre Hand auf, er übergibt ihr einen Kaffeelöffel, sie schmunzelt, schließt schnell ihre Hand, nickt dankend und verhält sich genauso unauffällig-verschwörerisch wie Mats.

Die Geschichte hinter dem Löffel: Eines Tages hatten sich die beiden zu einem kleinen Spaziergang verabredet. Von einer Mitpatientin bekam Mats ein Stück Kuchen. Er schnappte sich zwei Löffel aus der Stationsküche und den Kuchen. Als er mit Maike auf einer Bank saß, packte er die kleine Mahlzeit aus seinem Rucksack, gab ihr einen der beiden Löffel. Irgendwann sah sie auf die Rückseite, las still die Prägung: „Princess“ und lachte: „Hast du mir den mit Absicht gegeben?“

Mats hatte verwirrt geschaut, Maike hielt ihm den Löffel vor die Augen – und er musste ebenfalls lachen: „Nein, das ist jetzt purer Zufall, Ehrenwort.“ Nach einer Weile: „Eigentlich müssen wir den klauen …“

Maike war von der Idee begeistert, der Löffel wanderte zurück in den Rucksack und nie wieder in die Schublade der Station.

Nachdem Maike erzählt hatte, dass sie sich nun vorstellen könnte, die Frau in King Kongs Hand zu sein, musste Mats hin und wieder an die Aufschrift des Löffels denken. Dabei hatte er vor Augen, wie eine Prinzessin namens Maike von einer starken Hand gerettet wird und sich in dieser sicher fühlt.

Gleichzeitig hatte er seine Therapeutin in den Ohren: „Sie sollten versuchen, nicht mehr Frauen retten zu wollen.“ In den Einzelgesprächen hatte seine Therapeutin einen roten Faden gefunden, der – wie bei jedem Menschen – in der Kindheit begann und sich weit ins Erwachsenenalter zieht. Als Kind erlebte Mats eine schwache Frau – seine Mutter, die sich gegen einen übermächtigen Mann – sein Vater – nicht wehren konnte. Mats habe deshalb einen Drang entwickelt, Frauen beschützen zu wollen, weil er seiner Mum nicht helfen konnte. Dabei hätte eigentlich SIE ihre Kinder beschützen sollen. Also bot er Frauen immer wieder Halt. Wenn du aber immer für andere da bist, um ihnen zu helfen, vergisst du dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse. Das kann lange gut gehen – muss es aber nicht.

Wollte Mats Maike retten? Sie beschützen? Vergaß er seine eigenen Bedürfnisse? Auch wenn der Satz von Maike über King Kongs Hand immer wieder in seinem Kopf herumschwebte und ein warmes Bild ergab, war er sich sicher, sie nicht retten zu wollen. Er würde die Erinnerungen, die sich mit Maike, ihrem Gesicht, ihrem Lächeln und ihrem Wesen verbanden, mit genauso großer Dankbarkeit und Demut in den Koffer packen, wenn sie King Kongs Stärke hätte. Er hatte sehr wohl an seine Bedürfnisse gedacht, wann immer Maike fragte, ob sie noch jemanden mitnehmen sollten.

Und auch mit einer King-Kong-starken Maike vor Augen hätte Mats jetzt nicht weniger Wehmut, so kurz vor dem Abschied von ihr – auch wenn er nicht auf Dauer sein muss. Die ersten Mitpatienten sind fertig mit dem Essen, räumen ihre Teller weg, verabschieden sich von Mats. Einer will etwas zu Mats sagen, bringt aber keinen Ton heraus, er kann Mats nur umarmen, die Tränen laufen. Mats ist überrascht von so viel Emotionen, so eng war das Miteinander mit diesem Mann eigentlich nicht.

Eine andere Patientin schenkt Mats einen kleinen, schwarzen Elefanten – sein Krafttier, welches ihn in einem Traum verfolgt hatte. Seitdem zog er immer wieder Vergleiche mit diesem Tier. Auf die Frage, wie er sich fühle, hatte er an einem Morgen geantwortet: „Wie ein toter Elefant.“

Michelle, Anfang 30, ist an der Reihe. Dass bei ihr ein Sturzbach losbricht, erstaunt Mats überhaupt nicht. Und auch wenn er fest mit diesem gerechnet hatte, kann er eigene Tränen nicht zurückhalten. Michelle hatte Mats zusammen mit einem anderen Patienten Dinge anvertraut, die sie vorerst keinem anderen erzählen konnte. Diese beiden Männer wurden Michelles innerer Kreis – obwohl sie eigentlich Männern gegenüber sehr schwer Vertrauen aufbauen konnte. In diesen Kreis passen meist nur ganz wenige Menschen, nur ihnen können sich Menschen in psychischen Extrem-Zuständen öffnen. Der andere Patient verließ die Klinik zwei Wochen zuvor, nun geht auch Mats – für Michelle extrem schwer zu verkraften – Wehmut im roten Bereich.

Als zwei deutlich ältere Mitpatienten, eine Frau und ein Mann, hinzukommen, hat sich Michelle beruhigt. Die Frau, die allgemein mit Abschieden schwer klarkommt, fragt die anderen beiden leise und angefasst, ob sie schon einmal einem Menschen wie Mats begegnet sind. Der Mann, um die 60, überlegt kurz, schüttelt dann verneinend den Kopf. Michelle denkt nicht lange nach: „Nein, Mats ist einmalig.“

Bei diesem kommen die Worte mit Verzögerung an: Sprechen die wirklich über mich?!

Mats atmet durch, als die drei den Raum verlassen, bringt seinen Teller weg, Maike ebenso. Sie gehen schweigend auf den Flur. Gleich nebenan ist das Zimmer von Mats, in welchem Koffer, Tasche und Rucksack stehen, fertig gepackt.

Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde. Dann trennen sie sich – doch nur vorübergehend. Noch einmal liegen sie sich in den Armen, nicht kürzer als zuvor. Zwei Wochen kennen sie sich – wer sie so sieht, würde es nicht glauben. Will man die Gefühlslage zweier Menschen in einem solchen Moment wie diesen mit einem Wort beschreiben, sollte man auf dieses Wort einen Blick werfen: Wehmut.

Noch ein Blick in die Augen des anderen, ein kurzes Nicken ohne Worte, dann geht Maike den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Mats holt das Gepäck, verabschiedet sich bei den Schwestern, die gerade Dienst haben, ein Patient kommt noch hinzu, auch er sagt Lebewohl. Auf dem Weg durchs Treppenhaus begegnet er zwei Patienten, auch hier wird sich gegenseitig viel Glück für die Zukunft gewünscht. Dann verlässt er zum (vorerst?) letzten Mal das Gebäude, geht zur Straßenbahn. Die Sonne scheint, Haufenwolken schmücken den Himmel. Auf dem Weg zum Bahnhof hallen viele Worte nach, die er bei all den Abschieden gehört hatte. Diese Worte überwältigen ihn immer wieder, die Sonnenbrille verdeckt die ein oder andere Träne. So viele warme Worte, so viel Lob – dabei war er doch immer nur er selbst?! Eher leise, zurückhaltend, nicht darauf bedacht, im Mittelpunkt stehen zu wollen.

Und er denkt an den Abschied von Maike, an die langen, warmen Umarmungen, an den Abend am See mit dem Regenbogen, an die Stunden im Musikraum, an die kleineren, gemeinsamen Momente. Würde er all das noch einmal erleben dürfen, an anderen Seen, in anderen Räumen? Mit wem?

In seinem Koffer liegen die Bilder, die er in den Therapien gemalt hat. Auf einem steht ein Satz aus einer seiner Geschichten: „Ich laufe auf Pfaden, welche ich mit ihr ging, sehe immer wieder ihre Spuren, höre ihre Stimme, weit weg. An Bänken, Brücken, auf Wiesen kleben Bilder von uns, die keiner entfernt hat.“

Wehmut.

„Erklär mir Gefühle“ – die Serie zum Fühlen

Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.

Mit Dir ist alles anders.

Wieder versinkt sie im Meer der Tränen. Warum verändert sich ihr Bad Boy nicht zum Guten wie in all den Büchern? Als der Duft eines anderen sie fesselt, fühlt sie sich das erste Mal frei. Nur hat sie überhaupt Glück verdient?

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Ohne erkennbare Regung im Gesicht schloss sie das Buch über den gezähmten Bad Boy und sein glückselig lächelndes Mauerblümchen und ließ es über den Rand der Wanne auf den Boden fallen. Seit vier Stunden saß sie hier. Kerzenlicht flackerte im ansonsten dunklen Raum. Noch mehr Geschichten über Bad Boys in allen Varianten fanden sich in ihrem Bücherregal. Immer endeten sie glücklich. Nur ihre eigene nicht.
Das Smartphone meldete sich. Doch ihre Hände blieben im Wasser, ihre Augen starrten auf die Fliesen, sahen hindurch. Gedanken ließen sich nicht greifen. Einmal mehr.

Inzwischen eingewickelt in eine Decke auf dem Sofa zusammengekauert sitzend, klingelte es erneut.

„Hallo. Wo brennt´s? … Ja, hab gerade geheult. … Ja, wegen ihm. … Das war´s endgültig, ich mach das nicht mehr mit. … Weil ich dumm bin, ganz einfach. Dumm geboren und ich werde dumm sterben. … Doch doch. Du darfst mich erschießen, wenn ich wieder einknicke. Gebe ich dir schriftlich. … Ach, ich weiß doch, dass sich alle an den Kopf gegriffen haben, warum ich mir das immer wieder habe bieten lassen. … Ja klar, jeder trägt sein Päckchen. Trotzdem nervt es einfach nur. … Wieso? … Nicht dein Ernst?! … Sag mal, spinnen die alle?! … Das hat sie dir am Frühstückstisch gesagt?! … Hör auf. Wer zieht bitte zu jemandem, den man zwei Wochen kennt? Hält die dich für doof?! Das läuft doch schon länger. Und deine Kids? … Also musst du jetzt den Schock wegstecken und gleichzeitig für die Mädchen da sein. Die müssen auch am Verstand ihrer Mutter zweifeln. Fröhliche Weihnachten. … Das ist einfach krank. … Ach Scheidung ist schon Thema?! Wenigstens das bleibt mir erspart. … Er hat mich am Telefon angeschrien, dass ich eine verlogene Schlampe bin. Hab aufgelegt, da hagelte es Nachrichten. Ich hatte gestern Abend keine Lust auf ihn und sagte, dass es mir nicht geht und dass ich mich aufs Sofa legen will. Sofa ist in seiner Welt eh nur dazu da, entweder am TV oder Läppi zu hängen oder für Sex. Dazwischen gibt’s nichts. Hab dann aber Mädelsabend bei Svenja gemacht. Hätte ich ihm gesagt, ich treffe mich mit ihr, hätte er wieder gedacht, ich hab was mit einem anderen. Erst rief er mich fünfmal in der Nacht an. Heute schrieb er, dass er gestern Abend bei mir vorbeigefahren ist, alles war dunkel, dann hat er geklingelt und keiner hat aufgemacht. Ans Handy bin ich auch nicht gegangen, also MUSS ich einen anderen haben, ich Schlampe. Der liegt sicher neben mir im Bett. Er könne auch ohne App bis drei zählen, er ist im Bild, was da läuft und ich hätte schon immer einen Schaden gehabt und mir könne keiner über den Weg trauen … (Die Tränen sind zurück) … genauso wenig wie seiner Ex, alle Frauen schieben ihn ab. Aber ich werde schon mein blaues Wunder erleben, wenn der Neue meinen fetten Arsch nicht mehr erträgt. Hinter jedem Satz stand ein Ausrufezeichen. Und die letzte Nachricht endete dann mit Ich liebe dich! … Ja, Svenja hatte mich gewarnt vor seiner Eifersucht. Ich dachte, bei mir fühlt er sich sicher, weil ich nicht auf die Idee käme, was mit zwei Typen gleichzeitig laufen zu haben. Ich hatte mich ja schon eingeschränkt wegen ihm, bin nicht mehr mit meinen Kumpels weggegangen, auf dich war er auch eifersüchtig. … Ist dem doch egal, dass du Frau und Kinder hast – bzw. eine Frau hattest. Wir hätten ja trotzdem jederzeit übereinander herfallen können. Nach 15 Jahren würde es ja auch langsam Zeit … Das hat er ja nie begriffen, dass da nichts mehr passieren wird, das hat mich ja so genervt. Wenn mehr zwischen uns beiden sein könnte, hätten wir es doch schon längst probiert und uns den ganzen Mist mit dem Suchen sparen können, aber das kam ja alles nicht an bei ihm! Ich kann froh sein, dass du noch mit mir sprichst, so wie ich mich rar gemacht habe. Genauso bei meinen Mädels. Ich habe dauernd Fotos von ihm und mir gepostet mit Hashtag Love, Forever, NurDuUndIch, IchliebeDich, SeinMädel, damit er beruhigt ist und die Klappe hält. … Andauernd diese endlosen Diskussionen. Wenn er aller halben Stunde fragt, was ich mache, ist das ja nur, weil er sich Sorgen um mich macht. Und wenn ich mich eine Stunde nicht melde, dann hat er Angst, mir ist was passiert. Ja klar. Er hält mich echt für blöde. Aber hat er ja recht. … Mit wem hast du dich bei Whatsapp geschrieben, als du 8:14 Uhr online warst?! Immer wieder dieses Gefrage. (Sie wischt sich Tränen von der Wange und putzt sich die Nase.) … Ich stand schon paar Mal kurz davor bzw. gab es ja kleine Pausen. Aber ehrlich gesagt hab ich Angst, wie er reagiert. Ob er dann ständig vor meiner Wohnung steht oder ob er mich pausenlos mit Beleidigungen zutextet. … Ich weiß. Dem Typen, mit dem man eine angeblich glückliche Beziehung hat, sollte man nicht solche Psychodinger zutrauen dürfen. Das sagt doch schon alles, wie krank das ist. … Erzähl´s mir lieber nicht. … Ja, es nervt tierisch. Ich bin hundemüde, kann wieder nicht schlafen, Magen zwickt, Puls rast, ich zittere, Hals ist zu. Irgendwie ahnte ich, dass da wieder was kommt. Aber gut, muss ich durch. Hab ja Übung drin im Hinfallen, Aufstehen und Krone richten. Ich will nur ein einziges Mal glücklich sein. Oder einfach meine Ruhe haben. Glück macht eh den großen Bogen um mich, also Ruhe. Nichts hören, nichts sehen. Da kann man nicht enttäuscht werden … Wäre es nicht so weit weg, würde ich jetzt am Meer sitzen und die Welt könnte mich mal. … Ehrlich gesagt nein, ohne Rückfahrtticket. Was hab ich denn hier? Jeden Morgen aufstehen, damit man sich bis zum Abend durchkämpfen kann. Und wenn jemand fragt, wie es dir geht: Immer schön lächeln. Das soll Leben sein?! … Nein, keine Sorge. … Ich denke schon. Das kann ich einfach nicht mehr länger mit mir machen lassen. … Ich werde meinem Herzen folgen und das tun, was das Richtige für mich ist. … Ja, können wir gerne machen, am besten am Wochenende, hab frei. Dann kann er denken, ich hab was mit einem anderen. Deine Kids können sicher auch Abwechslung vertragen. … Das könnt ihr ja unter euch ausmachen, ich komme überall hin mit. Hauptsache, wir können quatschen und ich komme raus. Hier erinnert mich gerade alles an ihn und das geht mir auf den Magen. Ich werde nochmal meine Runde durch den Wald drehen. … Egal, hab meine LED. Vielleicht fressen mich die Wölfe. … Gut, dann vielleicht bis Samstag. Lass dich nicht unterkriegen. … Ja, mach ich. Danke für dein offenes Ohr, auch wenn du gerade selbst zehn brauchst. … Kein Problem. Geteiltes Leid … Genau. Also: Ciao.“

Stille kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie trocknete sich Augen und Nase, verschwand im Bad und anschließend in dicken Klamotten aus der Tür.Ruhig blieb es auch in der oberen Schublade der Schrankwand. Darin standen sich zwei Plastikfiguren gegenüber. Schwaches Licht fiel durch einen schmalen Spalt auf die vier Zentimeter großen, völlig nackten Spielzeuge. In ihren Gesichtern mischte sich der Charme unschuldiger Kinder mit einer ordentlichen Portion Schlitzohrigkeit.
Die zwei begleiteten ihre Besitzerin seit frühesten Tagen. Sie gingen mit in den Kindergarten, bewohnten vorübergehend eine Puppenstube, mussten ihren Platz jedoch zugunsten einer langen, blonden, äußerst dünnen Prominenten aus zweiter Hand räumen. Später landeten die nackten Zwei gemeinsam mit anderen Kindheitserinnerungen in einer dünnwandigen Dose. Diese deutlich schlichtere Unterkunft war freigeworden, als die bisherigen Bewohner – um die 20 Pralinen – während eines Frust-Essens innerhalb kürzester Zeit zwangsgeräumt worden waren.

…”

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