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Erklär mir Gefühle: Empathie
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
Crowdfunding für das Buch „Verrückt – ein Aufschrei“
Geschichte für den Schreibwettbewerb »Love Between the Pages« von bod.de
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Mats schmunzelt, schaut noch länger in die braunen Augen der Frau neben sich, wobei in ihm mehr und mehr das Gefühl aufsteigt, Maike meine diese Frage ernst. Nach längerem Zögern raunt er: „In einem Buch wäre das der Beginn eines unglaublich romantischen Dialogs, an dessen Ende sich die beiden küssen. Aber du scheinst wirklich nach einer Erklärung zu suchen?!“
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Mats, nachdenklich: „Ich beneide da eher die Filmemacher, Musiker, Maler. Der Maler kann aus unendlich vielen Farben schöpfen, der Musiker aus unzähligen Tönen und Akkorden, der Filmemacher greift in beide Kisten. Was sie machen, wandert direkt in Auge und Ohr, der Weg zu den Gefühlen ist kurz. Ein Buch ist absolut still, farblos, bis auf den Einband. Du musst aus dieser farblosen Stille dafür kämpfen, dass jemand die Worte lesen will, nicht nur die erste Seite. Im Film würden vier, fünf Sekunden reichen, um aus diesem Moment hier eine romantische Szene machen zu können und die Zuschauer zu fesseln: der See, Sonnenuntergang, leuchtend grüne Bäume, Frau und Mann sitzen auf einer Bank. Leise Klaviermusik, die Kamera fährt von hinten immer näher an die beiden ran … Im Buch bräuchte ich dafür so einige Sätze und wer es liest, wäre deutlich länger als nur ein paar Sekunden damit beschäftigt. Aber beim Schreiben ist mir das völlig egal. Schreiben ist wohl wie Liebe: unvernünftig, aber wunderbar unvernünftig, wenn es passt.“
Wieder ziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln in die Breite, wieder sieht er in Maikes Augen, in denen er einen Hauch von Neugier zu sehen glaubt – aber auch große Erwartungen. In Gedanken versinkend, schweift sein Blick nach vorn, auf das glatte Wasser des Sees, das kurz zuvor noch von Regentropfen in Aufruhr versetzt worden war und in welchem sich jetzt die von der Abendsonne gelbgrün angemalten Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Auch die Augen der Frau, die dicht neben ihm auf der Bank sitzt, wandern über das Wasser, die Spiegelungen, die Windräder in der Ferne. Ihr Wunsch bleibt: „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Stille.
Drei Wochen zuvor hatte Mats ein Bild zum Thema „Positiver Ausblick auf deine Zukunft in 10 Jahren“ malen sollen. Mit leuchtenden Aquarellfarben brachte er, der sich befreit von jeglichem Mal-Talent fühlte, einen Sonnenuntergang auf Papier. Aus einer unendlich weiten Wiese ragten zwei Köpfe, am Horizont eine Windmühle. Kein Haus, kein Auto, keine Yacht. Nur zwei Menschen, die sich fallenlassen.
Seinen Hunger nach Leichtigkeit empfand Mats beim Malen als absurd groß, nicht stillbar. Die Jahre zuvor hatten für ihn nicht den Hauch von Freude, Glück und eben Leichtigkeit – umso größer nun der Hunger.
Jetzt sitzt er neben Maike, den Sonnenuntergang im Rücken, Windräder vor sich am Horizont. Keine endlos weite Wiese, doch das von der Sonne angestrahlte Grün der Bäume spiegelt sich im See. In seinem Kopf hallt noch immer Maikes Satz: „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“
Wenige Stunden zuvor: Maike steht vor der Tür von Mats: „Ich habe eine Überraschung für dich, wenn das okay ist.“ Ihr Blick strahlt – wie könnte er „Nein“ sagen?
Sie führt ihn durch den Flur in einen Raum, in denen Musikinstrumente stehen: „Wir dürfen eine Stunde allein rein!“ – wieder strahlt sie. „Wir können alles machen! Ich möchte nochmal ans Klavier. Und dann machen wir den Klangstuhl!“ Ihre Aufregung ist nicht zu übersehen.
Seine Gesichtszüge werden weich. Tags zuvor war er zum letzten Mal in der Musiktherapie, durfte das scheinbar letzte Mal am Klangstuhl spielen. Dieser Sessel aus Holz hat auf seiner Rückseite vom Kopfteil bis zum Boden an die 30 Saiten gespannt, wobei jeweils 15 den selben Ton erzeugen. Als er das erste Mal mit großer Neugier hinter diesem Sessel saß und spielte, war es Liebe auf den ersten Ton. So hatte er auch gegenüber Maike geschwärmt.
Der Stuhl steht bereits ein Stück von der Wand weg, daneben wartet ein Xylophon auf seinen Einsatz. Hier hat jemand Vorarbeit geleistet. All die anderen Instrumente stehen in einer Ecke parat. Wie kleine Kinder, die vor einer großen Spielzeugkiste rumzappeln, stehen die beide im Raum: „Was machen wir zuerst?“
Sie probieren einige kleine Instrumente aus, deren Klänge sie teils an Märchenfilme erinnern. Ansonsten ist es völlig still in diesem Raum. Auf dem Flur vor der geschlossenen Tür ist niemand, Ärzte und Therapeuten sind im Feierabend.
Dann entdecken sie ein zweites Xylophon und so sitzen sie sich gegenüber, schauen und hören, was der andere macht. Wortlos spielen sie sich aufeinander ein, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Es wird breiter, wenn sie für ein paar Takte im Gleichklang sind.
Die Zeit vergeht, doch eilig hat es keiner der beiden.
„Jetzt den Klangstuhl?“, fragt Maike eher leise, so wie du dich unterhältst, wenn du andächtig in einer Kirche stehst.
„Gerne. Ich würde zuerst spielen …“ Auch Mats´ Stimme will diese besondere Atmosphäre nicht stören.
„Und ich setze mich rein?“
„Wenn es für dich okay ist, dann sehr gern.“ In den bisherigen gemeinsamen Tagen gewann Mats Sicherheit, dass Maike sich bei ihm geborgen fühlt. Doch über ihre Kindheit weiß er so gut wie nichts. Nur eines ist klar: Sie wird wie bei allen anderen Patienten in dieser Klinik mit Verletzungen verbunden gewesen sein. Also bleibt er behutsam.
Mats nimmt hinter dem Klangstuhl Platz, Maike setzt sich in den Sessel, Blickkontakt ist nicht möglich. Er möchte ihr Sicherheit geben, damit sie sich richtig fallenlassen kann: „Ich kann einen Arm auf die Lehne legen, dann kannst du auf meine Hand drücken, wenn es unangenehm wird.“
„Hmm, ach, ich vertrau dir.“
„Dann geht’s los …“
Seine Finger gleiten langsam und mit wenig Druck über die linken Saiten, sie lassen den tieferen Ton erklingen. Die Schwingungen übertragen sich auf das Holz des Stuhls, können vom Körper wahrgenommen werden. Am Kopfteil sind links und rechts Blenden, so dass die Töne zwischen den Ohren hin- und herschwingen, sie verstärken. Wie laut Maike die Töne hört, kann Mats nur grob schätzen. Er vermeidet es, laut und chaotisch zu spielen, sie soll sich einfach nur wohlfühlen, entspannen.
Mats bewegt seinen Kopf dicht neben die rechte Kopfblende, sieht nur Maikes rechten Arm und die Beine: „Ist es so okay?“, raunt er.
In ihrer Antwort liegt ein Lächeln: „Ja. Und wie ist es für dich?“
Wieder spricht er mit sehr gedämpfter Stimme: „Ich könnte das stundenlang machen. Es gibt zwar nur zwei Töne, aber es gibt so viele Möglichkeiten: über die Saiten streicheln, streichen, einzelne Saiten zupfen, härter, weicher, schnell, langsam, … Und es ist, als würde ich dir über den Rücken streicheln. Da überlegt man, was dir gut tun würde.“
Sein Kopf lehnt sich zurück, er taucht wieder ab in die Welt der hauchenden Klänge. Minute um Minute vergeht, in denen kein Wort mehr fällt. Zwei Töne ersetzen Worte, nur sie durchqueren die Stille im geschlossenen Raum.
Mats fällt es schwer, einen letzten Ton zu setzen. Nachdem er sich dazu entschließt, hallt die Schwingung sekundenlang nach. Langsam steht Mats auf, vermeidet Geräusche, schaut ebenso langsam und neugierig von oben über die Kopflehne. Maike bemerkt ihn, legt ihren Kopf in den Nacken, schaut ihn entspannt lächelnd an: „War schön. Hab sogar die Augen zumachen können. Danke.“
„Gerne. War nicht zu laut?“
„Nein, hätte ruhig bisschen lauter sein können.“ Sie wirkt, als wäre sie gerade aufgewacht nach einem langen, entspannenden Schlaf.
Ohne Eile tauschen sie die Rollen. Für seine Größe ist der Stuhl nicht gedacht. Dennoch versucht Mats, ihn so gut es geht zu nutzen, legt die Hände und Arme an die hölzernen Seiten, um die Vibrationen spüren zu können. Auch er schließt die Augen, auch jetzt bleiben die Münder weitgehend geschlossen. Auch jetzt vergeht Zeit – und sie scheint gleichzeitig stillzustehen.
Der letzte Ton erklingt. Leise sprechen sie über Erlebtes. Fotos zur Erinnerung entstehen. Er macht mehrere Fotos von Maikes Gesichtshälften aus Neugier, ob sie eine Schokoladenseite hat, doch er kann problemlos mit beiden leben. Sie selbst sieht sich auf den Bildern weniger unkritisch.
„Und jetzt Klavier?“ – wieder strahlt Maike und wieder könnte Mats ihr angesichts dieses Lächelns nicht den geringsten Wunsch abschlagen. Der Hocker ist breit genug für beide. Sie sitzt links von ihm, die Hüften berühren sich. Es ist nicht das erste Mal, dass Maike am Klavier sitzt, für Mats schon. So behutsam, wie sie zuvor an den Xylophonen und dem Klangstuhl spielten, so behutsam wandern die Hände über die Tasten. Hin und wieder schauen sie auf die Hand des anderen, nach einem gemeinsamen Takt suchend. Oder sie vertrauen ihren Ohren. Manchmal huscht ein entspanntes Lächeln über beide Gesichter, manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen. Minutenlang sitzen sie eng nebeneinander und würde nicht einer von beiden mit kräftigem Druck eine der weißen Tasten drücken, dann würden sie wohl noch morgen miteinander spielen.
Der Ton klingt aus, sie schauen sich in die Augen. So richtig mag keiner die Stille durchschneiden.
„Zufrieden?“, raunt Mats.
„Ja. Und du?“
„Hatte was von Tanzen von zweien, die noch nie miteinander getanzt haben. Sagt ein leidenschaftlicher Nicht-Tänzer. Man versucht, sich auf den anderen einzustimmen, um sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten. Man weiß nicht, ob der andere Rock´n´Roll will oder Träumerei von Robert Schumann. Keiner hat geführt, zumindest hatte ich nicht das Gefühl. Und dann gabs die Momente, wo es einfach passte.“
Sie lächelt: „Freut mich, schön. Oh, die Klangschalen! Die will ich unbedingt noch probieren. Legst du dich auf den Boden?“
Mats legt sich mitten in den Raum, Maike nimmt zwei Klangschalen vom Schrank, legt die kleinere auf seine Brust, schlägt vorsichtig an die goldglänzende Wand, dann stärker. Mats reagiert verhalten. Der Klang hallt ewig nach, er spürt aber nichts im Körper. Dann ist die größere Schale dran. Maike setzt sie vorsichtig ab, schlägt dagegen. Mats lacht dezent, die Vibrationen durchlaufen jetzt spürbar den Brustkorb, sein Lachen lässt die Schale beben. Maike schlägt stärker, Mats lacht intensiver.
„Jetzt auf deine Stirn.“
So wie jeder Ton durch den Raum schwingt, so schwingen zwischen Mats und Maike Neugier, Begeisterung, kindliche Freude.
Dies bleibt, als sie die Rollen tauschen. Nun liegt Maike am Boden, Mats setzt die Schale auf ihre Stirn, schlägt vorsichtig gegen sie, danach kräftiger. Maike, die sensibler als die meisten Menschen Dinge spürt, durchfährt es: „Unglaublich … Ich merk das überall. Boahh … Heftig …“
Die Uhr tickt.
„Noch ein Selfie?“, fragt Mats.
Nun liegen beide auf dem weichen Boden, diverse Male klickt die Kamera, welche völlig entspannte Gesichter einfängt.
Mats legt das Handy beiseite, beide bleiben noch einen Moment liegen: „Schön“, sagt er kurz und entschlossen.
Maike neigt den Kopf zu ihm: „Ja?“
Er nickt voller Überzeugung: „Ja!“
„Okay, wenn du das sagst, glaub ich dir.“
Sein Blick zeigt sich mit Fragezeichen.
Sie erklärt: „Wenn ich allein bin und Sachen erlebe, weiß ich nicht, ob das jetzt was Schönes ist oder nicht. Wenn jemand dabei ist und mir sagt, wie es für ihn ist, dann weiß ich, wie es war.“
„Hmm, schräg“, raunt Mats nachdenklich, „Hab ich so noch nie gehört.“
„Mir fehlt halt der Zugang zu Gefühlen.“
„Ich überlege, ob das jetzt Freude ist oder Glücksgefühl oder Leichtigkeit …“
„Kann es nicht alles zusammen sein?“
„Klar, und am Ende ist es ja auch egal. Hauptsache, es fühlt sich so richtig gut an.“
„Geht es dir so?“
„Oh ja. Wie oft im Leben erlebt man so was? Wie oft werden wir noch mit einem anderen Menschen an einem Klavier sitzen, den wir gerade mal paar Tage kennen, in so einer Atmosphäre? Mach eine Umfrage unter Paaren und da werden nicht nur 10% sagen: Oaaah, so was will ich auch erleben. Klar, wir sind in einer Klinik, eigentlich will man hier nicht landen müssen. Aber wäre ich nicht hier gelandet, hätte ich das hier nie erlebt. Also auch wieder Glück. Naja, und ´ne Menge Leichtigkeit. Wir liegen hier nebeneinander auf dem Fußboden, als würden wir uns seit Monaten kennen. Ich muss mir immer mal wieder sagen, dass wir uns vor nicht mal einer Woche über den Weg gelaufen sind, weil ich mit dir diese Momente erlebt habe, die sich bei anderen auf Wochen bis Monate verteilen. Das ist verrückt.“
Abends steht Mats allein am Fenster seines Zimmers, schaut dem Regen zu, schaut auf den sandigen Weg, versinkt in Gedanken: Wie viel Freude, Glück oder Leichtigkeit hätte er gefühlt, wenn er mit einer x-beliebigen Mitpatientin am Klavier gesessen und auf dem Boden gelegen hätte? Hätte es sich genauso intensiv angefühlt, wenn er am Klangstuhl einen anderen Rücken als den von Maike vor Augen gehabt hätte? Auch wenn er niemals eine völlig unbeeinflusste Antwort auf diese Fragen bekommen würde – für Mats ist sie recht klar.
Genauso klar: Die Gelegenheiten, noch einmal neben Maike sitzen oder liegen zu können, verrinnen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommeln, den er von seinem Zimmer aus sieht. Morgen wird er die Klinik verlassen.
Mats steht noch immer am Fenster, die Kopfhörer spielen Grönemeyers „Halt mich“: „Bin vor Freude außer mir, will langsam mit dir untergehn. Kopflos, sorglos, schwerelos in dir verliern.“
Er legt die Stirn in Falten, glaubt, es habe jemand an der Tür geklopft. Er geht hin, öffnet.
„Wollen wir noch bisschen rausgehen? Der Regen soll gleich aufhören“ – es ist Maike.
„Na gut“ – in seiner Stimme schwingt Melancholie, Abschiedsstimmung – und ein Hauch von Freude. „Willst du wo Bestimmtes hin? Sonst könnten wir an einen kleinen See fahren, ist nicht weit weg, schön ruhig.“
„Okay“ – der Vorschlag stößt auf entspannte Gegenliebe.
Nun sitzen sie hier im See. „Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt.“ Stille, während die Sonne einen Regenbogen in die Wolken malt.
Am nächsten Tag: Für Mats war seine letzte Nacht in der Klinik eine unruhige. In der letzten Therapie wird ihm erst so richtig bewusst, dass sein Alltag der letzten acht Wochen morgen vorbei sein wird.
Vor dem Mittagessen holt er eilig noch etwas aus seinem Zimmer, geht in den Speiseraum, setzt sich wie immer schräg gegenüber von Maike. Sein Blick wandert schnell über die Mitpatienten, alle sind mit Essen beschäftigt. Sein Arm geht Richtung Maike, seine Hand ist geschlossen. Mit Blicken verständigen sie sich. So hält sie ihre Hand auf, er übergibt ihr einen Kaffeelöffel, sie schmunzelt, schließt schnell ihre Hand, nickt dankend und verhält sich genauso unauffällig-verschwörerisch wie Mats.
Die Geschichte hinter dem Löffel: Vier Tage kannten sie sich, als sich die beiden zu einem kleinen Spaziergang verabredeten. Von einer Mitpatientin hatte Mats ein Stück Kuchen bekommen. Er schnappte sich zwei Löffel aus der Stationsküche und die Leckerei. Als er mit Maike auf einer Bank saß, packte er die kleine Mahlzeit aus seinem Rucksack, gab ihr einen der beiden Löffel. Irgendwann sah sie auf die Rückseite, las still die Prägung und lachte: „Hast du mir den mit Absicht gegeben?“
Mats hatte verwirrt geschaut, Maike hielt ihm den Löffel vor die Augen – und er musste ebenfalls lachen: „Princess. Nein, das ist jetzt purer Zufall, Ehrenwort.“ Nach einer Weile: „Eigentlich müssen wir den klauen …“
Maike war von der Idee begeistert, der Löffel wanderte zurück in den Rucksack und nie wieder in die Schublade der Stationsküche.
Der Bücherschreiber in Mats hatte besonderen Gefallen an der Aufschrift. In der Kommunikationstherapie sollte paarweise Smalltalk geübt werden. Maike hatte die Frage gezogen: „Welche Figur würdest du in einem Film gerne spielen?“
Sie hatte kurz überlegt, sagte dann: „Eigentlich wollte ich immer King Kong sein, ganz stark. Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, die Frau zu sein, die er in seiner Hand trägt. Ihm vertrauen können, dass mir nichts passiert. Ich glaube, das fühlt sich gut an.“
Zwei Stunden zuvor war es um seine großen Hände gegangen. Nicht die von King Kong, sondern die des Mannes, in dessen Gegenwart sich Maike sicher fühlte. Für den Autor in Mats bestand wenig Zweifel: Er war King Kong und sie die Prinzessin, die er nicht fallen ließ und die sich dank ihm fallenlassen konnte. Ob dieses Gefühl der Wahrheit entsprach? Auf jeden Fall war es eine gute Geschichte.
Seiner Therapeutin erzählte Mats sie allerdings nicht. Von ihr hielt sich in seinen Ohren der Satz: „Sie sollten versuchen, nicht mehr Frauen retten zu wollen.“ In den Einzelgesprächen hatte sie einen roten Faden gefunden, der – wie bei jedem Menschen – in der Kindheit begann und sich weit ins Erwachsenenalter zieht. Als Kind erlebte Mats eine schwache Frau – seine Mutter, die sich gegen einen übermächtigen Mann – seinen Vater – nicht wehren konnte. Mats habe deshalb einen Drang entwickelt, Frauen beschützen zu wollen, weil er seiner Mum nicht helfen konnte. Dabei hätte eigentlich SIE ihre Kinder beschützen sollen. Also bot er Frauen immer wieder Halt. Wenn du aber immer für andere da bist, um ihnen zu helfen, vergisst du dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse. Das kann lange gut gehen – muss es aber nicht.
Wollte Mats Maike retten? Sie beschützen? Vergaß er seine eigenen Bedürfnisse? Auch wenn der Satz von Maike über King Kongs Hand immer wieder in seinem Kopf umherschwebte und ein warmes Bild ergab, war er sich sicher, sie nicht retten zu wollen. Er würde die Erinnerungen, die sich mit Maike, ihrem Gesicht, ihrem Lächeln und ihrem Wesen verbanden, mit genauso großer Dankbarkeit und Demut in den Koffer packen, wenn sie King Kongs Stärke hätte. Er hatte sehr wohl an seine Bedürfnisse gedacht, wann immer Maike aus Schuldgefühlen fragte, ob sie noch jemanden mitnehmen sollten und er klar „Nein“ gesagt hatte.
Und auch mit einer King-Kong-starken Maike vor Augen hätte Mats jetzt nicht weniger Wehmut, so kurz vor dem Abschied von ihr. Er bringt seinen Teller weg, Maike ebenso. Sie gehen schweigend auf den Flur. Gleich nebenan ist das Zimmer von Mats, in welchem Koffer, Tasche und Rucksack stehen, fertig gepackt.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied. Sie legt beide Arme fest um ihn, er tut es ihr gleich. Ihren Kopf legt sie auf seine Schulter, er geht ein Stückchen in die Knie, fühlt ihre warme Wange. Sie spricht leise neben seinem Ohr, genau wie er. Zeit verstreicht. Sekunde für Sekunde. Dann trennen sie sich – doch nur vorübergehend. Noch einmal liegen sie sich in den Armen, nicht kürzer als zuvor. Eine Woche kennen sie sich – wer sie so sieht, würde es nicht glauben.
Noch ein Blick in die Augen des anderen, ein kurzes Nicken ohne Worte, dann geht Maike den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Mats holt das Gepäck, verabschiedet sich bei den Schwestern, die gerade Dienst haben, ein Patient kommt noch hinzu, auch er sagt Lebewohl. Dann verlässt er das Gebäude, geht zur Straßenbahn. Die Sonne scheint, Haufenwolken schmücken den Himmel. Auf dem Weg zum Bahnhof hallen viele Worte nach, die er bei den Abschieden gehört hat.
Und er denkt an den Abschied von Maike, an die langen, warmen Umarmungen, an den Abend am See mit dem Regenbogen, an die Stunden im Musikraum, an die kleineren, gemeinsamen Momente. Würde er all das noch einmal erleben dürfen, an anderen Seen, in anderen Räumen? Mit wem?
In seinem Koffer liegen die Bilder, die er in den Gestaltungstherapien gemalt hat. Auf einem steht ein Satz aus einer seiner Geschichten, mit Tinte geschrieben: „Ich laufe auf Pfaden, welche ich mit ihr ging, sehe immer wieder ihre Spuren, höre ihre Stimme, weit weg. An Bänken, Brücken, auf Wiesen kleben Bilder von uns, die keiner entfernt hat.“
„Erklär mir, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“
Die Geschichten bauen immer auf der vorherigen auf, Du kannst Dir aber auch eine mittendrin rausgreifen.
„Weißt du, was er in dir sieht?“, frage ich Anja. „Platonische Freundin? Potentielle Frau fürs Leben? Mögliche Bettgeschichte?“
„Jetzt hältst du mir auch noch vor, dass ich Probleme habe, mich im Spiegel anzusehen?!“
Also bete ab jetzt pausenlos und so laut du kannst, dass du stirbst, bevor dein Opfer lernt, dich zu hassen.
Wie sich Unsicherheit anfühlt, braucht Mats Maike aber nicht erklären. Wenn es ein Gefühl gibt, mit dem praktisch jeder Patient in der Klinik vertraut ist, dann dieses.
Maike und Mats stoppen, schauen sich an. Ohne es aussprechen zu müssen, wissen sie, was bevorsteht: Abschied.
„Kannst du mir das Foto schicken? Von der Libelle in deiner Hand? Das find ich noch schöner als mir Sanftmut mit King Kong vorzustellen. Oder ich nehm beides, das geht auch. Wenn ich das Bild sehe, kann ich mich bestimmt an deine Geschichte erinnern und kann mir Sanftmut vorstellen.“
… manchmal sind Maikes kleine und Mats´ große Hand dicht beieinander, um anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen, bis zur nächsten Begegnung. Viele Töne hallen nach, im Raum und in den Köpfen. Die Momente, in denen sie einen gleichen Rhythmus finden, lassen sich an ihren Gesichtern ablesen.
Die Gelegenheiten, bei denen er noch einmal neben Maike am See sitzen könnte, verrannen mit all den Tropfen, die unaufhörlich auf den Weg trommelten, den er von seinem Zimmer aus sah.
„Ja. Ich habe mir Liebesfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich Liebe anfühlt. Du schreibst Bücher, auch über Liebe. Wenn mir einer das erklären kann, dann du.“