Kati und ihre Kids

Meine Sicht auf die Dinge hat sich im Laufe der letzten 9 Jahre deutlich verändert. Ich war verdammt schüchtern, hielt mich von allem fern, weil ich mich gegenüber dem Rest der Menschheit winzig fühlte. Für mich hatten alle anderen ein gutes Selbstbewusstsein, spielten in einer anderen Liga, waren gestandene, erwachsene Menschen. Das galt vor allem für Frauen, denen gegenüber ich mich trotz überdurchschnittlicher Körpergröße klein fühlte.

Heute weiß ich, dass es extrem wenige Menschen gibt, die einen gesunden Selbstwert haben. Ich höre heute noch das Abarbeiten der Mängelliste zweier Frauen, die ich als schön empfand: zu kleine Augen, zu breite Nasenflügel, zu schiefe Zähne, zu rundes Kinn. Die anderen Punkte konnte ich mir nicht merken bzw. fielen dem Kopfschütteln zum Opfer.

Für mich hat ein Mensch ein gesundes Selbstbewusstsein, wenn er weder unsichtbar durchs Leben gehen will noch durch Niedermachen anderer oder extrovertiertes Auftreten Selbstbewusstsein vorspielen muss. Er kann sich ohne Schönheits-OP im Spiegel angucken und problemlos mit dem Bild darin leben, auch wenn die Nase krumm und groß, die Stirn höher als Reklametafeln am Times Square ist oder die Augen viel zu klein sind. Er braucht nicht die Zuneigung eines Partners – oder mehrerer, um sich gut zu fühlen, sondern ist mit sich im Reinen, so dass er keine verkrampften Beziehungen eingehen muss, sich nicht verbiegen braucht und gar nicht den Drang verspürt, sich verbiegen zu müssen, weil man ohne Verbiegen eh keinen anderen Partner bekommt. Wenn ich selbstbewusst bin, brauche ich auch keine Sätze wie: „Ich bin so wie ich bin und was andere sagen ist mir egal.“ Das hat für mich etwas von Pfeifen im Walde, weil es nach Rechtfertigung und Verteidigung klingt.

Von psychischen Erkrankungen und Störungen wusste ich bis 2011 nichts. Klar stolperte ich über Wörter wie „Depression“, aber durch mein Einsiedlerleben hatte ich kaum Kontakte und entsprechend kannte ich auch niemanden mit dieser Erkrankung. 10 Jahre später besteht mein Umfeld zu mindestens 50% aus Menschen, die mir viel über das Thema aus erster Hand erzählen konnten und die früher oder später in ihrem Leben an Suizid dachten. Um zwei von ihnen, Hanna und Sophie, mache ich mir aktuell große Sorgen.

Aber mein Einstieg in das Thema psychische Erkrankungen hatte nichts mit der klassischen Depression zu tun. 2009 erzählte mir beim Klassentreffen eine ehemalige Schulfreundin, Katharina, von ihrem Mann. Sie, damals Mitte 30, lebte mit ihm und ihren beiden Kindern in einem großen Haus, an dem ihr Mann in jeder freien Minute weiter baute. Von „fertig“ waren viele Räume weit entfernt. Im Erdgeschoss hatten sie gemeinsam einen Laden eingerichtet, in welchem Katharina verkaufte. Ihr Mann hatte sich eine eigene Firma aufgebaut und gestaltete mit drei Angestellten Gärten und Höfe mit wirklich beeindruckenden Ergebnissen. Die Ideen gingen ihm nie aus, er arbeitete sehr sauber und hielt Fristen ein. Entsprechend gut lief die Firma.

Weniger gut lief das Miteinander zwischen ihm und Katharina seit ca. zwei Jahren. Seine Trinkerei ließ ihn Dinge machen, die auf keine Kuhhaut gingen – zumindest nahmen alle an, dass es mit seinem Alkoholkonsum zu tun hatte. Diesen reduzierte er auch nicht nach einem lebensbedrohlichen Treppensturz. Da gab es kein Umdenken wie: „Oh Gott, jetzt hätte ich fast meine Kinder zu Halbwaisen gemacht! Ich hab ein Problem!“ Nein, es ging einfach weiter.

Auf seinem Schreibtisch hatte Katharina einen Zettel gefunden: „Zukunft Laden?“ Dieser machte gute Gewinne, es konnte also nicht darum gehen, ihn wegen Verlusten aufzulösen. War der Zettel eine Reaktion auf Katharinas Verhalten? Eine Woche zuvor war eine Ex-Freundin ihres Mannes aufgetaucht. Dieser bat Kati, ihm Bilder aus der gemeinsamen Vergangenheit zu bringen – also aus seiner Zeit mit der Ex. Für Kati war es eine Kränkung, sie machte auf bockig, erwartete ein: „Tut mir leid.“ Doch er drehte den Spieß um: Er ging nach einem Dorffest nicht mit ihr nach Hause, blieb am zweiten Tag bis morgens und schlief stockbesoffen im Keller, saß an den folgenden Tagen bis in die Nacht im Büro.

Letztlich entschuldigte sich Katharina für ihr Verhalten, um den Frieden wiederherzustellen. Außerdem hatte sie Angst, er würde ihr den Laden wirklich kündigen. Und es fiel ihr schwer, sich einzugestehen, dass sie für diesen Mann trotz allem noch etwas empfand. Dabei verzweifelte sie immer wieder daran, dass er niemals Fehlverhalten bei sich sah.

Aber es gab auch Phasen, in denen er absolut ihre Nähe suchte, an ihrem Rockzipfel hing, kuscheln und schmusen wollte. Und einige Zeit später war sie wieder nur die Haushaltshilfe und das Kindermädchen. Um die beiden Kinder kümmerte er sich dann kaum.

Katharina glaubte, der Stress mit dem Hausbau sei der Grund für das viele Trinken und damit für sein ganzes Verhalten. Doch auch als 2010 die Arbeit weniger wurde, änderte sich nichts. Nach dem Klassentreffen blieben wir in Kontakt und ich erfuhr jede neue Episode. Ohne Absprache hatte er sich ein verdammt teures Quad gekauft, düste damit durch Wald und Flur. In einer Nacht rief er Kati halb 3 an: Sie solle ihn bitte abholen, er sei im Wald steckengeblieben. Danach brach die Verbindung ab. Nach langem Überlegen und innerlichem Zittern – die Nerven lagen blank – ließ sie ihre Tochter und ihren Sohn (damals 6 und 8) allein, fuhr durch die Gegend, planlos, denn er hatte keinerlei Angabe gemacht, wo genau er im Wald gestrandet war. Nach einer Stunde fuhr sie wieder nach Hause, ohne Spur von ihrem Mann. Den befreite ein Kumpel am frühen Morgen aus dem Matsch.

Für Katharina ging das alles immer mehr an die Substanz, die Nächte blieben unruhig. Teils hatte sie Todesangst, über die sie mit mir aber erst mit viel zeitlichem Abstand sprach. Noch immer hoffte sie darauf, er würde sich ändern, auch wenn er nach wie vor keinen kleinsten Selbstzweifel zeigte in seinen energiegeladenen Phasen.

Ich empfahl Kati einen Intensivkurs „Bodybuilding“. Damit sollte sie Testosteron in rauen Mengen produzieren, womit die männliche rationale Seite gegen die weibliche emotionale siegen könnte. Ja, eine verzweifelte, verrückte Idee, aber ich wusste nicht, wie ich sie aus dieser Nummer herausbringen konnte. Sie selbst war ständig hin- und hergerissen zwischen „Ich muss mit meinen Kindern hier endlich raus“ und „Er hat ja sonst niemanden, er braucht mich und die Kids.“ Die Einrichtung ihres Ladens hatte sie selbst bezahlt, ein Umzug wäre also kein kompletter Neuanfang geworden – aber weitere Energie raubend.

Für ihre Gesundheit und für ihre Kinder schien es nur einen guten Weg zu geben: Sie musste weg von der Hoffnung, es würde keine neue Phase seines verrückten Verhaltens mehr geben. Dazu gab es inzwischen zu viele Stimmungswechsel. Ich hatte ihren Mann inzwischen „Käpt’n Crazy“ getauft, weil es einfach so unerklärlich war, was er da machte und es schwerfiel, ohne schwarzen Humor mit dieser ewig anhaltenden Situation umzugehen. Ich verglich ihn auch mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde, weil diese völlig gegensätzlichen Seiten blieben: Mal verletzte er Kati zutiefst, dann war sie sein großer, einziger Halt im Leben.

Für die Kinder konnte das alles genauso wenig gut sein wie für Katharina. Sie erlebten praktisch drei Väter: Der eine scherte sich kaum um sie, der andere konnte ohne seine Familie nicht leben, der dritte war „normal“. Wie soll ein Kind das verstehen, wenn man als Erwachsener komplett ratlos und überfordert ist?

Für mich war klar, dass sie allein zum Wohle ihrer Kinder dort weg musste. Ja, dieser Mann war der Vater und oft hört man den Satz: „Wir bleiben wegen der Kinder zusammen.“ Aber keinem Kind ist geholfen, wenn es in einer vergifteten Atmosphäre aufwächst. Kinder sind nicht doof, sie bekommen alles mit.

Dafür bekommen Eltern nicht alles mit, was in ihrem Nachwuchs vor sich geht. Ich beschrieb ihr meine eigene Kindheit unter einem Vater, der nur eine Seite hatte: die lieblose. Und auch er trank. Freitag- und Samstagabend ging er immer erst ins Bett, wenn er ein Körbchen mit 6 oder 10 Flaschen Bier leergemacht hatte. Dieses musste ich oft abends aus dem Keller holen. Vor diesem hatte ich riesige Angst, immer wieder waren Lampen defekt und dann half nur eine Taschenlampe. Hinter jeder Ecke vermutete ich jemanden. Per Handschlag verabschiedete ich mich von meinem Vater ins Bett – die einzige körperliche Nähe neben Kopfnüssen. Diese bekam ich, wenn ich etwas falsch gemacht hatte.

An den Samstagen lag ich immer solange wach, bis mein Vater ins Bett ging oder mein Bruder von der Disko nach Hause kam. Ich hoffte immer, dass mein Vater sein Körbchen leer hatte, bevor mein Bruder eintraf. Denn wenn sich beide betrunken begegneten, war die Gefahr groß, dass es laut und handgreiflich wurde.

Dass ich jedes Mal so lange wach lag mit Angst, bekam natürlich niemand mit. Als Kind musst du diesen Kampf selbst austragen und überstehen. Dann wirst du entweder zum Einzelkämpfer, weil keiner da ist, der diese für dich beschissene Situation beendet oder du wirst aggressiv. So oder so macht es sehr viel mit dir. Dann bleibt nur die Hoffnung, dass es noch genug positive Einflüsse während der weiteren Kindheit gibt, um die negativen auszugleichen. Aber was wie auf ein Kind wirkt, weißt du vorher nicht. Eigentlich bleibt nur, die negativen Einflüsse so weit wie möglich zu verringern, um eine positive Entwicklung nicht zu gefährden. Meine Entwicklung hätte vielleicht eine andere sein können, wenn sich meine Mum viel eher von Vater hätte getrennt. Ich hätte ihr niemals diesen Schritt verübelt. Noch besser wäre es auch für sie selbst gewesen, sie hätte sich niemals mit ihm eingelassen.

Nachdem ich Kati dies in einer langen Mail geschrieben hatte, musste sie mit den Tränen kämpfen. Und sie antwortete, dass sie dauernd das Gefühl habe, sie sei schuld an der Situation. Sie könne eben so furchtbar zickig sein, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht und bestehe darauf, dass sie Recht hat. Aber anders kapiere ihr Mann ja nicht, was sie stört. Am liebsten hätte sie ihm meine Mail auf den Schreibtisch geknallt, denn sie bekomme es seit Ewigkeiten nicht hin, ihm genau das zu sagen. Wenn es zu Diskussionen kommt, erkläre ihr Mann, was er alles für seine Familie getan hat. In den Momenten komme sie sich so klein vor und denke, wie gering ihr Beitrag für die Familie sei.

Kati blieb. Neue Episoden folgten. So packte ihr Mann eines Nachts seine Tasche, fuhr aus seinem Ort im Umkreis von Leipzig Richtung Hannover, dann gen Schweiz zu einem Cousin, bis ihm einfiel, dass er in Hamburg eine Rassekatze bestellt hatte, wovon Kati nichts wusste.

An anderen Tagen kam er nachts lautstark nach Hause oder stand ebenso rücksichtslos gegenüber Frau und Kindern auf. Zwei Stunden Schlaf reichten ihm, denn: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“ Er schmiss mitten in der Nacht Bauschutt per Schaufel aus einem Fenster in einen Container.

Dann folgte wieder eine Phase, in der er ganz anders war. Wieder suchte er Katis Nähe, wurde ruhig, bereute all die Sachen, die er angestellt hatte, konnte nicht glauben, was er in den Monaten zuvor alles angestellt hatte und erinnerte sich an kaum etwas. Sein teures Quad konnte er nicht angucken, wollte es am liebsten loswerden.

Wenige Wochen später raste er wieder fröhlich durch die Gegend, rammte Ortseingangsschilder und kleine Bäume, fuhr mehrfach in einer Nacht los. Kati musste sich jedes Wort überlegen, denn ihr Mann ging beim kleinsten Hauch von Kritik an die Decke. So schaltete sie auf „polnisches Fernsehen“: nur Bild, kein Ton. Dennoch konnte die Lage jederzeit explodieren – in einfachsten Situationen. Katharina schrieb ihm eine Liste in Druckschrift und Großbuchstaben, welche Getränke er mitbringen sollte. Er brachte die falschen. Kleinlaut und zerknirscht murmelte Kati, sie werde die Flaschen halt am nächsten Tag umtauschen fahren gegen die, die sie wollte. Wer war in den Augen ihres Mannes schuld? Natürlich seine Frau.

Er vernachlässigte sein Geschäft, eine Angestellte suchte das Weite, der Alkohol floss wieder reichlich, betrunken setzte er sich immer wieder ans Steuer. Für das Dorffest richtete er den Hof vor dem Haus her, als käme die Königin von England, schnitt die Buchsbäume im perfekten Durchmesser. Noch immer hielten alle das Trinken für den Grund seines Verhaltens. Aber das Thema Entzug brauchte Kati gar nicht erst erwähnen.

Ihre Hausärztin schickte Kati zur Psychologin, machte ihr klar, dass Kinder und Kunden sie doch brauchen würden in einem stabilen Zustand. Ihr Mann habe wohl eine Sinnkrise, dazu der viele Alkohol. Eine wirkliche Diagnose konnte sie nicht geben, denn er ging zu keinem Arzt, ihm ging es doch bestens.

Wochen später, inzwischen 2011, brach er wieder zusammen, heulte. Kati und die Kinder nahmen ihn in die Arme, beteuerten, dass alles gut sei – im Nachhinein war Kati klar, dass dies wieder die falsche Reaktion war. Aber im Beisein der Kinder fühlte sie, so handeln zu müssen. Er redete einmal mehr wirres Zeug, sein Quad blieb wieder in der Garage, er schlief viel – bis zum nächsten Wechsel. Dann reichten die 2 Stunden pro Nacht, das Quad war wieder interessant, im Keller sollten Vorräte angelegt werden, weil die Chinesen kommen, er quatschte im Urlaub alle Menschen an, hatte absurde Theorien über das Weltgeschehen, kaufte sich eine verdammt teure Uhr, obwohl das Geschäft inzwischen bergab ging, wollte eine Fabrik bauen und diverse Dinge zum Patent anmelden, tanzte auf Tischen, kannte keinerlei Hemmungen, glaubte, bestimmte Lieder im Radio seien nur für ihn geschrieben worden.

Kati und ich konnten uns teils nur noch in Galgenhumor flüchten, denn das alles machte überhaupt keinen Sinn. Dieses sich immer wieder abwechselnde, grundverschiedene Verhalten war für uns unerklärlich: von Himmel hoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Alles andere als lustig war ihre Mail, in der sie schrieb: „Das, was mein Mann heute mit mir gemacht hat, könnte man als Vergewaltigung sehen.“

Ende 2011 schaute ich eher zufällig eine Sendung von Sandra Maischberger. Ein Mann erzählte, dass er sich teure Hotelzimmer genommen hatte, für die ihm eigentlich das Geld fehlte, auch sonst schmiss er mit der Kohle um sich – wie Katis Mann. Er fuhr im Bademantel durch Berlin und wollte den Regierenden Bürgermeister sprechen – völlig enthemmt wie Katis Mann. Er machte Dinge, die auf keine Kuhhaut passten – und irgendwann fiel er in ein riesiges Loch, um bald darauf wieder der Größte zu sein, der vor genialen Ideen sprühte – wie Katis Mann.

Am nächsten Morgen las ich bei Wikipedia den Artikel über die Diagnose des Mannes: bipolare Störung. Und alles passte! Katis Mann war ein lehrbuchhaftes Beispiel für diese Erkrankung. In den manischen Phasen: übertriebenes Selbstbewusstsein oder Größenwahn, Sprühen vor Ideen, verringertes Schlafbedürfnis, Drang zum Reden, Ideenflucht, Zerstreutheit, Kaufrausch, sexuelle Taktlosigkeiten, sinnlose geschäftliche Investitionen, Vernachlässigung von eigentlich wichtigen Dingen wie Familie.

In den depressiven Phasen: deutlich vermindertes Interesse oder Freude, Traurigkeit und Leere, Erschöpfung, Gefühl der Wertlosigkeit, Konzentrationsschwäche, Entscheidungsunfähigkeit.

Ich lernte auch: In den manischen Phasen gibt es keinerlei Gefühl, man sei krank. Krank sind alle anderen, die einen für krank halten. In den depressiven Phasen ist das anders. In diesen ging Katis Mann zum Arzt. Begleiterscheinungen der bipolaren Störung sind Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch sowie Panik- und Persönlichkeitsstörungen. Bei starken manischen Phasen kann auch Realitätsverlust und Wahn hinzukommen – siehe die anrückenden Chinesen und die nur für ihn geschriebenen Lieder.

Ich schickte Kati umgehend den Link, sie las selbst und leitete den Artikel weiter an die Eltern ihres Mannes, die seit Jahren genauso wenig die Welt verstanden. Für niemanden gab es nach dem Lesen einen Zweifel: Dieser Mann hatte die bipolare Störung. Der Ausdruck „Käpt’n Crazy“ war Geschichte, das „Kind“ hatte nun den korrekten Namen.

Bei der bipolaren Störung wechseln sich Manien – Himmel hoch jauchzend – und Depressionen – zu Tode betrübt – immer wieder ab. Dies kann innerhalb eines Tages passieren oder in Abständen von Monaten wie bei Katis Mann. Da es in den Manien kaum Krankheitseinsicht gibt, ist eine Behandlung schwierig. Mit Medikamenten muss in den Depressionen die Stimmung aufgehellt und in den Manien gedämpft werden – ein Balanceakt. Die bipolare Störung verschwindet auch nicht einfach wieder. Die Suizidrate Erkrankter ist hoch, wird mit 15-30% angegebeni.

Durch das Lesen des Artikels und das weitere Befassen mit dem Thema kam Mitleid in mir auf für diesen Mann, der sich phasenweise wie das größte Arschloch verhielt: Er konnte nicht anders. So wenig, wie man sich aus einer Depression mit guten Worten schaufeln kann und so wenig man sich jeglicher Sucht mit “Du musst nur!” entledigen kann, so wenig kann man sich aus der Manie auf den Boden zurückholen. Bei dieser Erkrankung ist die Signalübertragung mehrerer Neurotransmitter gestört, darunter Glutamat, Serotonin und Dopamin. Medikamente sollen dies korrigieren. Bei Depressionen will man erreichen, dass Serotonin nicht zu schnell abgebaut wird. Bei Manien schießt Dopamin in schwindelerregende Höhen.

Wann warum bei wem eine bipolare Störung auftreten kann, ist offen. Viele Betroffene erlebten vor der ersten spürbaren Episode intensiven Stress. Andere überstehen ähnlichen Stress aber ohne diese Erkrankung. Gene spielen eine Rolle. Der Vater von Katis Mann zeigte ebenfalls Züge, die an Manien und Depressionen erinnerten.

Und der Vater scheint auch abseits der Gene ein Schlüssel zum Ausbruch der Störung zu sein. Auf ihn ist Katis Mann nie gut zu sprechen gewesen – und man kann es verstehen. Immer wieder vermisste er die Anerkennung seines Vaters. Er konnte noch so erfolgreich sein Geschäft von Null aufgebaut haben und mit dem Haus vorankommen – vom Vater kam nichts Aufbauendes. Seiner Schwester ging und geht es nicht anders. Sie übernahm nach und nach das Geschäft des Vaters – und er spricht immer wieder davon, wie schön ein männlicher Nachfolger aus der eigenen Familie wäre, auch im Beisein seiner Tochter. Frauen/Mädchen scheinen in seinen Augen so wenig wert zu sein wie für Katis Ex. Sein Enkelsohn animiert er immer wieder, beruflich eines Tages in seine Fußstapfen zu treten. Katis Sohn musste auch einen Vornamen bekommen, der mit dem gleichen Buchstaben anfängt wie der des Vaters und des Opas. Als ich dies das erste Mal hörte, fühlte ich mich an uralte Fürstenhäuser mit ihren Erbfolgern erinnert.

Katis Schwiegervater druckte den Wikipedia-Artikel über die bipolare Störung aus, ging damit zu seinem Sohn, knallte ihm das Papier auf den Schreibtisch: „Siehst du, jetzt weißt du, was mit dir los ist!“

Katharina beschloss nach unserer Diagnose, vorübergehend auszuziehen mit ihren Kindern bis zum Ende der aktuellen Manie. Dies war im Januar 2012. Ein Auszug für immer kam für sie nicht in Frage, es wäre viel zu aufwändig, z.B. der Ausbau der von ihr bezahlten Einbauküche. Außerdem wollte sie immer eine Familie und war bereit, einiges auf sich zu nehmen, wo andere den Kopf schütteln. Sie kam im Haus einer Freundin unter.

Drei Tage nach dem Auszug fuhr sie morgens wieder in ihren Laden. Auf dem Hof standen die Angestellten ihres Mannes und wussten nicht, was sie machen sollten. Als Kati fragte, was los sei, sagten sie, dass der Chef mit einer Unbekannten oben in der Wohnung ist und ihnen keine Aufgaben erteilt hatte. Als ihr Mann am späteren Nachmittag die Unbekannte heimlich in sein Auto brachte und mit ihr wegfuhr, ging Kati hoch in die Wohnung. Das gemeinsame Bett bot eine Ansammlung von Körperflüssigkeiten. Nach dem ersten Schock und mit heftig aufsteigender Wut steuerte sie einige Chilischoten bei, die Teil eines Buffets waren, welches ihr Mann aufgebaut hatte. Außerdem trat sie gegen einen alten Globus, der in viele Einzelteile zerbrach. Was sie sich drei Tage zuvor nicht vorstellen konnte, war mit diesem Anblick nun kein Problem mehr: Der unumkehrbare Auszug war beschlossen.

Nur ist mit einem Maniker nicht zu spaßen. Er ging zur Polizei und zeigte Kati wegen Sachbeschädigung, Vorenthaltung seines Sohnes – die Tochter war ihm egal – und Hausfriedensbruch an. Für ihre Aussage kam Kati zur gleichen Polizistin, welche die Anzeige aufgenommen hatte. Diese sagte, der Mann habe einen ziemlich „komischen“ Eindruck gemacht, wollte ihr seine Lebensgeschichte erzählen.

Den Auszug versuchte er zu verzögern, nagelte an den Treppenaufgang ein Brett, tauschte das Schloss aus. Kati war mit den Nerven inzwischen restlos am Boden. Ich erkundigte mich für sie bei einer Anwältin, was Katharina nun noch durfte und was nicht. Die Anwältin sagte: Solange sie polizeilich in dem Haus gemeldet ist, kann sie in die Wohnung, beide haben Hausrecht. Verwehrt er den Zugang, könnte sie den Schlüsseldienst rufen. Das Brett am Aufgang solle sie fotografieren, um Entfernung bitten. Würde er der Bitte nicht folgen, müsste sie die Polizei rufen. Umzugshelfer müssten an der Grundstückseinfahrt warten. Die Einbauküche könne sie nur bekommen, wenn er einverstanden ist. Will er sie behalten, muss er den Verkehrswert zahlen. In dem Fall solle sie sich erst polizeilich ummelden, wenn sie das Geld bekommen hat. Und sie solle alles exakt im Übergabeprotokoll festhalten.

Kati ließ sich den Wert auszahlen, auch wenn sie sehr an den Möbeln hing. Zum Ausräumen wollte sie mehrere Bekannte nehmen, ihr Mann wollte aber, dass nur sie beide ausräumen. Am Ende ließ er doch andere rein.

Als der Auszug überstanden war, fing der Kampf um die Kinder an, bzw. von seiner Seite aus nur um den Sohn. Anwälte, Schreiben, die er nicht verstand, usw. folgten. Außerdem zog eine Neue bei ihm ein, die sich als Osteuropäerin herausstellte. Nach 14 Tagen scheiterte ein erster Versuch, sie wieder nach Warschau zu bringen. Letztendlich brauchte er vier Anläufe, damit sie wieder in ihre Heimat zurückkehren konnte. Informationen bekam Kati von seiner Sekretärin, die sich aber zunächst für einige Tage krankschreiben ließ und zum Ende des Februars kündigte. Sie war immer wieder niedergemacht worden und hielt den Psychostress nicht mehr aus.

Seine Firma vernachlässigte er, baute sich dafür einen Waffenschrank ein. Als Jäger durfte er Waffen besitzen. Auch wenn ich bis dahin von Katharina schon viel Haarsträubendes gehört hatte, aber diese Nachricht haute mich noch einmal ordentlich um: Waffen in den Händen dieses Mannes?! Immerhin griff hier sein Vater nach einiger Zeit ein und durch, nahm die Waffen an sich, auch er ist Jäger.

Ansonsten spielten seine Eltern eine schwierige Rolle. Am Anfang schienen sie zu akzeptieren, dass ihr Sohn krank ist. Doch dies kippte nach einigen Wochen. Für sie war plötzlich ER gesund, nur Kati mache das Treiben wild. Dass er beim Fasching mehrere Leute angemacht hatte, dass er bei einer Feier Leuten aufs Maul hauen wollte, spielte keine Rolle. Gipfel war ein Gespräch zwischen seiner Mutter und Kati, bei dem die Mutter ihren armen Sohn bedauerte, der an einem Sonntag wieder wegen eines Notfalls arbeiten müsse. Da platzte Kati der Kragen: „Der musste nicht zur Reparatur, der hat seine Nutte nach Warschau schaffen müssen!“ Daraufhin wurde die Mutter still.

Wochen später kehrte endlich wieder etwas Ruhe ein – für Kati höchste Zeit. Der Magen rebellierte, das Gewicht ging nach unten, immer wieder spürte sie kurze Herzrhythmusstörungen. Ihr Mann zog wieder seine blauen Arbeitsklamotten an und trug nicht mehr schwarz, das Quad blieb als rotes Tuch stehen, wegen der Kinder machte er keine Probleme. Langsam ging es aus dieser kurzen Phase der Normalität hinein in die Depression. Jetzt konnte sein Kopf realisieren, was in den Wochen zuvor alles kaputtgegangen war, was er seinen Kindern, Kati und sich selbst angetan hatte. Durch die Depression verstärkten sich die Schuldgefühle, er suchte die Nähe zu seinen Eltern, tat alles, um Kati milde zu stimmen, kam ihr in allem entgegen, was die Trennung und Kinder anging.

Wäre dies ein Film oder Roman, würde man an dieser Stelle die Schlussszene oder das letzte Wort finden: „Am Ende wurde doch noch alles irgendwie gut.“ Der Film „Silver Linings“ mit Jennifer Lawrence und Bradley Cooper macht es genau so. Cooper spielt einen bipolaren Mann, der auf eine psychisch instabile Lawrence trifft. Die Fetzen fliegen, manche Dialoge wirken nah an der Realität – bedrückend nah, wenn man aus seinem Umfeld solche Szenen kennt. So gut ich den Film bis eine Minute vor Schluss fand: Das Ende machte für mich alles kaputt. Alle sitzen am Sonntag wie in guten alten Zeiten bei seinen Eltern zusammen und der Bipolare scheint dank der Liebe geheilt zu sein.

Ja, es ist „nur“ ein Film. Ja, die Menschen gehen nicht mehr ins Kino, wenn sie kein Happy End für ihren Eintritt bekommen. Aber ein solcher Film prägt! Er hat die gleiche Moral wie all die Bad-Boy-Bücher: Die Liebe heilt ALLES. Halte nur lange genug durch und der Mensch mit psychischer Störung wird geheilt.

Als Kati in der Zeit zwischen unserer Erkenntnis, ihr Mann sei bipolar, und ihrem endgültigen Auszug bei einer Psychologin alles geschildert hatte, sagte diese klipp und klar: „Sie müssen mit Ihren Kindern da raus, sonst werden Sie auch krank.“ Neben dem Anblick des befleckten Ehebettes war diese Aussage für Kati der Türöffner nach draußen. Ansonsten wäre sie wohl geblieben, sagt sie noch heute.

Da diese Geschichte nicht dem Hirn eines Autoren entsprungen ist und auch nicht so gebogen werden muss, dass sie sich gut verkauft, ging es ohne Happy End immer weiter. Katharina bekam von den Angestellten ihres Mannes hin und wieder die neuesten Geschichten erzählt. Einer nach dem anderen kündigte über die Jahre, teils mit Bauchschmerzen aus Angst davor, nichts Neues zu finden. Aber die Atmosphäre in der Firma, die Sprüche des Chefs wie „ICH mach hier eh alles, ihr macht nichts!“, die immer seltener werdenden Aufträge – am Ende war der Weggang ohne Alternative.

Die Berichte drehten sich immer wieder um Frauen, immer aus Osteuropa. Manchmal präsentierte er eine bei Familienfesten, wobei die Eltern bemüht waren, sie als neue Freundin vorzustellen. Die Angst vor einem Gesichtsverlust der ganzen Familie im kleinen Ort war noch immer groß. 4 Jahre lang arbeiteten die Eltern gegen Kati, verteidigten immer wieder das Verhalten ihres Sohnes. Dem würde einfach nur der Kontakt zu seinen Kindern fehlen.

Vom Jugendamt bekam Katharina nur begrenzt die Unterstützung, die man als Mitleidender erhoffte. Mit dem Thema bipolare Störung schien sich die Mitarbeiterin überhaupt nicht auszukennen. Katis Mann wirkte bei Terminen, zu denen sie gemeinsam erscheinen mussten und bei denen er in einer Manie war, als könne ihm niemand etwas anhaben. In den wenigen Minuten zeigte er sich normal, was für Kati schwer zu ertragen war: Wie sollte sie der Mitarbeiterin deutlich machen, wie psychisch erkrankt ihr Mann war?

In einem Forum zur bipolaren Störung wollte ich mich erkundigen, ob ein Mensch mit dieser Erkrankung wenigstens gegenüber seinen Kindern berechenbar und verantwortungsvoll handeln kann. Den Satz „Das ist mir zu riskant“ schien Katis Mann für sein eigenes Leben in den Manien nicht zu kennen. Was würde er den Kindern zumuten an Risiko?

Allerdings konnte ich nicht lange im Forum bleiben, der Wind war von Seiten der Erkrankten rau. Ich könne doch nicht wegen einer TV-Sendung einen Menschen als bipolar diagnostizieren?! Dass Katis Mann diese Diagnose inzwischen auch von ärztlicher Seite hatte, war egal. Die Mutter einer Bipolaren schrieb mir in einer persönlichen Nachricht, dass die Erkrankten in diesem Forum dazu neigen, die Angehörigen recht schnell vertreiben zu wollen. Sie und andere Angehörige empfahlen dringend einen betreuten Umgang und den Kampf ums alleinige Sorgerecht.

Sprachlos machten Erzählungen. Eine Mutter schrieb, dass ihre manische Tochter Stimmen hörte, die ihr sagten, sie solle sich aus dem Fenster stürzen und ihr Ehemann sei in einer Sekte. Solche Wahnvorstellungen gehören nicht direkt zur bipolaren Störung, sind mögliche Begleiterscheinungen.

Kati wollte nicht um das alleinige Sorgerecht kämpfen, auch wenn die Empfehlungen eindeutig waren. Auch am Umgang wollte sie nichts ändern. Die Kinder gingen nach wie vor aller 14 Tage über das Wochenende zu ihrem Vater, zeitweise unter Betreuung, aber nur bis zum Ende einer manischen Phase. Ich war kein Fan dieses Umgangs: Katharina war froh, wenn sie so schnell wie möglich nach der Übergabe der Kinder verschwinden konnte von ihrem Mann – und den Kindern mutete sie knappe zwei Tage mit ihm zu. Sie wurde kreidebleich und war dem Zusammenbruch nah, als ihr Sohn mit 11 vom Vater eine Luftdruckpistole geschenkt bekam – und beließ alles so.

Nur weiß ich selbst, dass man von außen immer viel leichter reden kann. Positiv war, dass der Vater sich an den Wochenenden kaum für die Kids interessierte und diese vor allem bei seinen Eltern blieben. Gerade seine Fahrten unter Alkohol machten Sorge: Würde er auch mit seinen Kindern betrunken fahren?

2015 verunglückte er mit seinem Quad mitten in der Nacht bei einer weiteren Fahrt durch den Wald. In seinem Blut stellte man 4 Promille Alkohol fest. Er überlebte, schrammte aber um zwei Millimeter an einer Querschnittslähmung vorbei. Für die Ärzte war klar, dass er operiert werden musste. Doch nach drei Tagen Klinik entließ er sich mit einer Halskrause selbst, ließ sich nach Hause fahren und musste erst einmal ein Bier mit dem letzten verbliebenen Angestellten trinken. Ja, er war wieder in der Manie.

Die Operation folgte beim Abklingen der Phase und als ihm Angst wurde, er den Kopf immer weniger schmerzfrei bewegen konnte und die Halskrause stank. In dieser Phase erwachte bei Kati das Helfersyndrom. Sie hatte noch immer Reste von Gedanken, sie selbst habe ihren Ex durch ihr Verhalten oder Druck mit dem Hausbau krank gemacht. So unterstützte sie ihn bei der Rückkehr in die Klinik, die OP lief gut. Nach dem Treppensturz hatte er zum zweiten Mal das berühmte Glück der Betrunkenen.

Die Frau, die eben noch vom Helfersyndrom gepackt worden war, bedauerte in der nächsten Manie ihres Ex-Mannes, dass er überlebt hatte. Das mag hart und kalt klingen, aber ich hatte kein Problem, diesen Gedanken nach all dem zu verstehen. Auch wenn sie inzwischen räumlichen Abstand zu ihm hatte, war er immer wieder durch die Kinder, Anrufe und Nachrichten präsent. Letztere wurden oft unter Alkohol geschrieben, anders konnte sich Kati Form und Inhalt nicht erklären: „Geld bekommst du später, Finanzamd macht mir Probleme. Würde gern auch meine Kinder zu Gesicht begrüßen würden. Läge mir sehr am Hertzen! Sind sicher auch meine Kinder wo der Vater wohl felt. Gebe mir die Kinder. Oder nur eins und ich gebe ihnen was für die Zukunft. Nein, so wollte ich das nicht sagen. Ich will sie nur ab und zu sehen. Gerantwortlich bist du ja. Es sind hoffe meine leiblichen Kinder.“

Er wollte endlos und immer wieder wirr diskutieren. Und wenn ein Maniker sagt, dass das Gras rot ist, dann ist es rot und man kann sich jedes Wort sparen, man wird ihn nicht umstimmen können.

Ja, mit dem Tod hätten die Kinder ihren Vater verloren – bzw. ihre drei Väter: den manischen, den depressiven und den in den Phasenübergängen ausgeglichenen. Wie schwer muss das für Kinder zu verstehen sein, was Erwachsene kaum ertragen können? Gerade der Manische zeigte sich immer wieder als schwer zu verdauen. Als sein Sohn 16 wurde, rief der Vater ihn an und sagte, dass er wohl noch einen weiteren Sohn zeugen müsse, der eines Tages das Erbe antritt, denn seine bisherigen Kinder würden sich ja nicht um ihren Vater kümmern. Nach dem Gespräch heulte der Sohn. So sehr er über die Jahre gelernt hatte, mit der Krankheit seines Vaters irgendwie klarzukommen, so sehr verletzten ihn diese Worte. Und auch als Erwachsener willst du in diesem Moment dem Typen an den Kragen, ihn wachrütteln, ihn ohrfeigen, damit er endlich aufwacht – obwohl du dir immer wieder gesagt hast: Er verhält sich nur so durch die Manie und diese lässt sich nicht mit Vernunft steuern, genauso wenig wie die Depression.

Und wenn sich das Adrenalin gelegt hat und das rationalere Denken wieder eine Chance hat, dann sagst du dir einmal mehr: Diese Krankheit willst du nicht geschenkt haben. In einer einzigen manischen Phase, gegen die du nichts machen kannst, wenn du nicht mit Tabletten eingreifst, kannst du dir so viel kaputt machen. Katis Ex hatte sich seine Firma, seinen guten Ruf über Jahre aufgebaut – und inzwischen gibt es sie nicht mehr. Seine Mutter brach in einer manischen Phase ihres Sohnes psychisch ein und verbrachte mehrere Wochen in der Psychiatrie. Jedes Auf und Ab ist gerade für die Mutter belastend. Die Eltern haben ihre Verdrängung ablegen können und sind sich auch nach außen hin bewusst, dass ihr Sohn eine psychische Erkrankung hat. Sie legen Katharina keine Steine mehr in den Weg, unterstützen die Kinder.

Diese versucht Kati möglichst von Stress fernzuhalten. Die Angst, dass auch eines von ihnen die genetische Veranlagung zur bipolaren Störung in sich trägt, ist immer da. Aber wie kann man seine Kinder heute vor Stress, dem möglichen Auslöser, wirklich bewahren? Die Tochter musste sich durch die ersten Schuljahre kämpfen mit Nachhilfe und Ergotherapie, bekam dann sehr gut die Kurve. Doch die anfänglichen Misserfolge in der Schule, aber vor allem die Vernachlässigung durch ihren Vater machten es schwer bis unmöglich, Selbstbewusstsein aufzubauen – ein Muster, das sich durch praktisch alle Geschichten psychisch Erkrankter zieht. Sie zeigt depressive Züge, wiegt mit 16 Jahren 40 kg bei 1,71 m Körpergröße. Wenn es in der Psychotherapie um ihren Vater geht, kommen ihr die Tränen. Sie sucht weiterhin die Anerkennung ihres Vaters – die dieser selbst bei seinem Vater seit Kindertagen suchte und wohl nicht zuletzt deshalb krank wurde. Die Kette setzt sich weiter fort.

Für die Psyche beider Kinder – es ist schwer zu glauben, dass am Sohn alles abgeprallt sein soll – wäre es gut, wenn sie tief im Inneren akzeptieren könnten, dass ihr Vater durch seine Erkrankung und dessen eigene Kindheit die Anerkennung nicht leisten kann, auf die sie hoffen. Für ihre Psyche wäre es wichtig, zu verinnerlichen, dass es nicht an ihnen selbst liegt, dass ihr Vater seine Vaterrolle nicht ausfüllt. Sie könnten die klügsten, schönsten, tollsten, begabtesten Menschen der Welt sein – es würde nichts bringen. Selbst wenn sie berühmte Stars werden würden mit Millionen Fans und Milliarden auf dem Konto oder wenn sie eine riesige, erfolgreiche Firma aufbauen würden oder wenn sie jegliche Krankheit der Welt heilen könnten – es würde sich nichts verändern. Ihr Vater und dessen Schwester hatten bei ihrem Vater ja ebenfalls keine Chance auf Anerkennung, so hart beide auch gearbeitet haben.

Aber wie ich über die Jahre lernte, in denen ich die Geschichte von Kati und ihren Kinder verfolgte, können selbst 40- und 50-Jährige die Hoffnung auf Anerkennung von Vater und/oder Mutter nicht einfach mit Hilfe der Vernunft und Wissen über Erkrankungen aus ihrem Kopf löschen. 2020 nahm sich mein einstiger Mitschüler Ulrich das Leben. Seine Schwester, 40, erzählte mir von ihrem Vater, der seine Frau und Ulrich während dessen Kindheit und Jugend geschlagen und der Ulrichs Leben lebenslänglich bestimmt hatte. Die Schwester hatte sich inzwischen sehr viel mit Narzissmus befasst und sah sowohl ihren Vater als auch ihre Mutter deutlich in dieser Persönlichkeitsstörung wieder.

Ich fragte sie, ob sie trotz allem, was sie nun darüber weiß und was sie 40 Jahre lang bei ihren Eltern erlebt hatte, noch immer auf ein Zeichen der Zuneigung von ihnen hofft. Aus Erfahrung ahnte ich die Richtung der Antwort und sie lautete: „Nein, auch dessen musste ich mir bewusst werden, das werde ich nie bekommen. Das nennt sich bedingungslose Kapitulation. Anzuerkennen, was nie sein wird. Es ist klar. Tut es weh? Ja, immer wieder mal, je nach Situation. Darf es weh tun? Ja, darf es und ich darf es fühlen und annehmen, damit es mich nicht mehr überrennt und niedergemacht. Ich bin jetzt groß, ich darf mir das Ich bin gut so wie ich bin selber geben. Ist es schon gefestigt? Nein. Braucht Übung, aber ich komm ganz gut klar damit.“ (Mehr zur Geschichte von Ulrich und seiner Schwester folgt in Teil IV im Kapitel „Der Herr Doktor“.)

Wenn es Menschen mit 40, 50, 60 so schwerfällt, den Gedanken an dieses immer erhoffte Zeichen von Zuneigung und Anerkennung mit „Das werde ich niemals bekommen und ich verstehe, weshalb“ zu beantworten, wie soll man dann einem Menschen an der Schwelle zum Erwachsenenleben diese Utopie nehmen, ohne dass dabei neue Narben entstehen? Ist man schonungslos offen und erzählt alles, was gewesen ist, könnte es klingen wie: „Die wollen mir nur meinen Vater schlechtmachen, damit es mir besser geht.“ Oder das dann neue Bild des Vaters schafft einen breiteren Graben, doch der Wunsch nach Anerkennung bleibt trotzdem und rückt durch den Graben noch weiter weg.

Vater und Tochter könnten sich stundenlang darüber unterhalten, was es mit dir macht, wenn du vergeblich auf der Suche bist. Vater und Tochter verbindet die Kindheit – und dieses Verbindende sorgt dafür, dass es die beiden trennt. Und sollten die Kinder eines Tages Eltern werden, wird alles von vorn beginnen, wenn wir nicht endlich anfangen, zuzuhören und uns mit der Entstehung psychischer Erkrankungen zu befassen.

Und wie ehrlich können und wollen die anderen sein, welche die Verantwortung tragen? In der Geschichte von Kati, ihren Kindern und dem Ex kann man nicht allein die Schuld bei der Erkrankung des Vaters suchen. Kati selbst war in der Anfangsphase der Beziehung von mehreren Seiten vor ihrem Partner gewarnt worden, doch sie wollte unbedingt Kinder und nahm ihn praktisch dafür in Kauf. Kann man das, was nach Egoismus klingt, einfach ausklammern? Oder müsste es der Ehrlichkeit halber mit auf den Tisch, um den Kindern klipp und klar zu machen: „IHR habt nicht das Geringste falsch gemacht, sondern WIR!“?

Welchen Anteil tragen Medien und das, was wir Gesellschaft nennen? Wie lange hatte es gedauert, bis wir endlich wussten, warum Katis Mann sich so völlig unterschiedlich verhielt? Ja, letztlich half eine Sendung im TV. Aber hätte ich nicht zufällig eingeschaltet, dann wären wir noch sehr lange ratlos gewesen, weil das Thema psychische Erkrankungen kaum eine Rolle spielt. Solange wir Menschen durch Klischees erklären, wird immer der Gedanke da sein: „Ach, wenn der mit mir zusammen ist, wird er sich schon ändern.“ Die Leidtragenden sind die Kids. SIE müssen das ausbaden, was WIR verzapft haben – und gleichzeitig ignorieren wir die Erkrankten. Auf ihren Schultern lastet das, was wir nicht wegräumen konnten oder wollten.

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